Guvecci/Türkei. Die syrischen Streitkräfte sind nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten am Donnerstag mit Panzern in ein Dorf an der türkischen Grenze eingerückt. Auf einigen Dächern in der Ortschaft Chirbet al-Dschus seien zudem Scharfschützen in Stellung gebracht worden, sagten Mitarbeiter des Örtlichen Koordinationskomitees unter Berufung auf Augenzeugen. Journalisten der Nachrichtenagentur AP konnten von der türkischen Seite der Grenze aus bewaffnete Männer sowie ein gepanzertes Fahrzeug in der Nähe des Dorfes sehen.
Angesichts der gewaltsamen Niederschlagung der seit drei Monaten anhaltenden Proteste gegen das Regime von Präsident Baschar Assad waren zuletzt tausende Syrer aus Angst vor weiterer Gewalt in die Türkei geflüchtet. Rund 100, die noch in Zelten auf der syrischen Seite der Grenze lebten, überquerten auch am Donnerstag die Grenze, als Soldaten das Dorf Chirbet-al-Dschus umstellten. Die Türkei verstärkte die Bewachung des dortigen Grenzabschnitts.
Nach Angaben des Koordinationskomitees, das die gewaltsamen Aktionen des Regimes gegen Demonstranten dokumentiert, sind seit März etwa 1.400 Menschen getötet worden.
Mehr als 10.700 Syrer aus den grenznahen Städten und Dörfern sind in den vergangenen zwei Wochen in die Türkei geflohen, tausende weitere lagern unter freiem Himmel im Grenzgebiet. Aus Angst vor Verfolgung wagen sie sich nicht zurück nach Hause.
Nach Angaben syrischer Menschenrechtler wurden seit Beginn der Demonstrationen Mitte März 1310 Zivilisten und 341 Angehörige der Sicherheitskräfte getötet. Hatten die Demonstranten zu Beginn noch Reformen gefordert, so arbeiten sie nun auf einen Sturz des Regimes hin.
In seiner Rede am Montag hatte Assad Reformen der Verfassung und des Wahlrechts in Aussicht gestellt, ohne aber konkret zu werden. Auch das Angebot eines von oben gelenkten "nationalen Dialogs“ überzeugte weder die Opposition noch die internationale Gemeinschaft.
Auch die neuerliche Amnestieankündigung des Präsidenten vermochte die Opposition nicht ernst zu nehmen. Ein in der Türkei lebender syrischer Aktivist sagte: "Das ist Teil eines schlechten Theaterstücks, genauso wie Assads Rede (vom Vortag).“ Die Opposition schätzt, dass seit Beginn der Proteste Mitte März 12.000 mutmaßliche Regimegegner festgenommen wurden. Auch ist nicht bekannt, wie viele Gefangene von der ersten Amnestie profitiert hatten.
Assad gehört einer alawitischen Familie an, die den syrischen Staat schon seit 40 Jahren dominiert. Er hat sein Amt von Präsident Hafis al-Assad mehr oder weniger geerbt. Die Partei seines Vaters ernannte ihn direkt nach dessen Tod im Sommer 2000 zu seinem Nachfolger. Etliche Verwandte des Präsidenten sitzen an den Schaltstellen der Macht:
MAHER AL-ASSAD, der jüngere Bruder des Präsidenten, hat die am besten ausgerüstete Brigade der syrischen Armee und die Republikanische Garde unter sich. Er gilt als aufbrausend und skrupellos und soll bei der blutigen Niederschlagung der Proteste das Kommando führen.
ASSEF SCHAWKAT ist der Ehemann von Buschra al-Assad, der einzigen Schwester des Präsidenten. Er hatte Buschra gegen den Willen ihres Vaters geheiratet. Später nahm ihn Präsident Hafis al-Assad (1930-2000) trotzdem in den Schoß der Familie auf. Schawkat machte Karriere im Geheimdienst und ist heute Vize-Kommandeur der Armee. Er steht im Verdacht, an dem Anschlag auf den früheren libanesischen Regierungschef Rafik Hariri beteiligt gewesen zu sein. Sein Verhältnis zu Maher al-Assad soll nicht ohne Spannungen sein.
RAMI MACHLUF ist ein Cousin von Präsident Assad. Dank seiner Familienbande konnte Machluf das größte Firmenimperium Syriens aufbauen. Der Opposition gilt er als Symbolfigur für Vetternwirtschaft und eine ungerechte Privatisierungspolitik.
HAFIS MACHLUF bekleidet eine führende Position in der Geheimdienstzentrale in Damaskus. Er und sein Bruder Rami sind Neffen von Anisa Machluf, der Ehefrau des verstorbenen Präsidenten Hafis al-Assad. Hafis Machluf und seine beiden jüngeren Brüder, die Zwillinge Ihab und Ijad, sollen geholfen haben, die Angriffe auf Demonstranten zu planen.
DHU AL-HIMMA SCHALISCH ist mitverantwortlich für die Sicherheit des Präsidenten. Er ist der Sohn einer Tante von Präsident Assad. Die US-Regierung verhängte wegen mutmaßlicher Waffenlieferungen in den Irak Sanktionen gegen ihn.
RIFAAT AL-ASSAD ist ein jüngerer Bruder von Hafis al-Assad. Er lebt in Europa im Exil und rechnet sich selbst zur Opposition. Die meisten Oppositionellen wollen mit ihm jedoch nichts zu tun haben, da er die Kritiker von Assad senior einst genauso mit Gewalt niedergemacht hatte, wie dies heute Maher al-Assad tut.
Die First Lady, ASMA Al-ASSAD, hatte im Ausland in den vergangenen Jahren recht erfolgreich das Bild des „modernen Syriens“ verkauft. Seit Beginn der Proteste gegen das Regime ist sie von der Bildfläche verschwunden.
Kommentare von Lesern
für unseren Newsletter an