Urbanismus? Big Data? Alles entstanden vor 6000 Jahren in Uruk im Süden des Irak. Eine Reise zu den deutschen Archäologen, die die Rätsel der antiken Stadt erforschen.

Punktwolkenansicht des Gareus-Tempels
© Th. Kneppe / DAI Orient-AbteilungPunktwolkenansicht des Gareus-Tempels, erstellt durch die Firma bgis Kreative Ingenieure GmbH.
Dann, eines Tages, stieg Inanna hinab in die Unterwelt, und bleierne Lustlosigkeit senkte sich auf Mensch und Tier. Die Schriften aus Sumer und Akkad klangen alarmiert:

"Kein Stier bestieg mehr eine Kuh, kein Esel eine Eselin, kein Jüngling schwängerte ein Mädchen auf der Straße. Der junge Mann schlief in seinem Zimmer, das Mädchen in der Gesellschaft seiner Freunde."

Blaue Zierkacheln in Uruk.
© Katharina EglauBlaue Zierkacheln in Uruk.
Schlimme Sache. Die Zukunft der Menschheit stand praktisch auf der Kippe. Inanna, Göttin des Krieges und der Liebe, Inanna, die Unersättliche, die sich sechzig und wieder sechzig Männer nahm, konnte unberechenbar sein. Eine Herausforderung für Anhänger konventioneller Geschlechterbeziehungen war sie sowieso. Mit Schwulen und Transsexuellen als Tempelpersonal, auch Prostituierten. Inanna war der Rausch der Reproduktion, reines Leben. Blau war ihre Farbe. Ischtar ihr babylonischer Name. Jeder Gott im Zweistromland hatte einen Wohnsitz, Inannas war Uruk, "die Stadt der Dirnen, Kurtisanen und Edelnutten". Große Hure Babylon? Das kam alles später.

Man sieht Uruk die heilige Zügellosigkeit nicht mehr an. In den kleinen und großen Haufen, die sich im Süden des Irak aus einer schier endlosen Ebene bis zur verwehten Spitze des Stufentempels erheben, erkennt man nur mit viel Vorstellungskraft die Stadt, oder: die Matrix für das urbane Prinzip schlechthin, erfunden hier vor fast 6 000 Jahren.

Die früheste Monumentalarchitektur der Menschheit

Für die Gegenwart hilft es erst mal, dass es geregnet hat. Der Weg vom Tor des Geländes bis zur Grabung ist ein Meer aus Schlamm, in dem ein paar Toyotas stecken wie gestrandete Walfische. Aber oben, am Rand der Ausgrabungsstätte, steht die Archäologin Margarete van Ess, schaut heiter auf eine hell trocknende Stelle und sagt: "Ist doch wunderbar, wie gut man jetzt die Lehmmauern erkennt."

Lehmziegel mit Produktionszeichen in Uruk.
© Katharina EglauLehmziegel mit Produktionszeichen in Uruk.
Sie arbeitet seit knapp drei Wochen wieder in Uruk. Es ist ihre Heimkehr und die Heimkehr deutscher Forscher an einen Ort, wo sie vor über 100 Jahren ihre Arbeit aufnahmen: Uruk, das heutige Warka, 300 Kilometer südlich von Bagdad. Damals ließen sich die Wissenschaftler vor allem von der gewaltigen Architektur faszinieren, der frühesten Monumentalarchitektur der Menschheit, was den Nebeneffekt hatte, dass sie Verfallsschichten durchpflügten und Löcher in Inannas Tempelturm bohrten. Es war ein leidenschaftlicher, aber grobmotorischer Ansatz, an den die verrosteten Loren und Gleise erinnern, mit denen sie Geröll, Lehm und Millionen antiker Scherben, Keilschriftfragmente und Tonnägel über das Gelände schafften.

Heute operieren die Archäologen maximal mit Schaufeln, und auch das nur selten, vor allem aber mit feinster Technik. 15 Wissenschaftler aus Deutschland, Irak und Italien teilen sich Unterkunft und Arbeitsräume in simplen Bungalows, Lehmboden, Plumpsklo, kein fließendes Wasser, so wie Generationen von Forschern davor. Margarete van Ess leitet die Außenstelle Bagdad des Deutschen Archäologischen Instituts - und diese Grabung.

Wenigstens keine Raubgrabungen

1982 grub sie zum ersten Mal in Uruk und seitdem immer wieder, außer wenn gerade Krieg herrschte, was oft der Fall war. "Am schlimmsten war die Zeit des Embargos", sagt sie: "Die Menschen verarmten so sehr, dass sie sich nicht mehr besuchten, weil die Nachbarn keinen Zucker für den Tee anbieten konnten und sie niemanden in Verlegenheit bringen wollten."

Archäologin Margarete van Ess (Irak)
© Katharina EglauSeit 1982 arbeitet die Archäologin Margarete van Ess hier - wenn kein Krieg herrscht.
Die letzte Pause war die längste. Seit dem US-Einmarsch 2003 war Margarete van Ess nur noch kurz hier, manchmal für Stunden. Im wunderbaren Unterschied zum Rest des Irak gab es keine Raubgrabungen. Die Al-Tobe, ein Stamm der Region, betrachten sich als Wächter der Ruine. Und obwohl Warka wie der ganze Irak religiöser geworden ist, obwohl sich die Schiiten im Süden mit Demonstrationen von Frömmigkeit überbieten, steht die unübersehbar vorislamische Stätte weiter unter seinem Schutz. Die deutschen Sicherheitsauflagen sind trotzdem streng: Ausfahrten sind nur im Konvoi des Gouverneurs erlaubt, was daher so gut wie nie stattfindet. Bleibt die Ruine, für van Ess zum ersten Mal seit 14 Jahren für einen ganzen Monat.

Da ist es nicht schön, dass der Regen ihr einen Tag stiehlt. Aber die Frühlingssonne brennt wie der Teufel, der Lehmboden trocknet beim Zusehen. Die Kollegen schwärmen aus. Einige untersuchen, welche archäologischen Reste jenseits der Stadtmauern in der Erde ruhen, Gräber vielleicht oder Kanäle. Andere unternehmen geophysikalische Messungen auf dem Gelände, um verdeckte Strukturen zu entdecken. "Das werden sie nicht überall machen", sagt van Ess: "Sie schaffen zwei Hektar am Tag. Uruk hat 530 Hektar."

Die Geißeln der modernen Zivilisation

Loren zum Abtransport von Ausgrabungsschutt in Uruk.
© Katharina EglauLoren zum Abtransport von Ausgrabungsschutt in Uruk.
In der antiken Megapolis lebten 40 000 Menschen. Neun Kilometer Stadtmauer, der Legende nach erbaut vom sagenhaften König Gilgamesch, umfassten 5,3 Quadratkilometer. Athen im 5. Jahrhundert vor Christus war kleiner, Rom 100 Jahre nach Christus nur doppelt so groß. Holz war selten im Süden, Steine noch rarer. Nach Überschwemmungen wechselten die Flüsse oft ihr Bett. So bauten die Menschen mit Lehmziegeln. Auf jede zerbröselte Anlage setzten sie eine andere, Tempel auf Tempel, Palast auf Palast, undurchdringlich für Geophysiker und ihre Geräte.

Gegraben wird wenig. Ein kleines Loch vor dem Stufentempel, um Wasserschäden zu prüfen, gilt heute als entschiedener Eingriff. König Ur-Namma ließ das Heiligtum für Inanna errichten, im 21. Jahrhundert vor Christus, aus fünf Millionen Ziegeln in zwölf Schichten, stabilisiert durch Schilfmatten. Ein Bauwerk der Superlative, 28 Meter hoch.
40 000 Menschen...

...lebten in der antiken Megapolis. Zehn Kilometer Stadtmauer, der Legende nach erbaut vom sagenhaften König Gilgamesch, umfassten die 5,5 Quadratkilometer der Stadt. Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. war kleiner, Rom 100 Jahre n. Chr. nur doppelt so groß. Für den Stufenturm wurden fünf Millionen Ziegeln in zwölf Schichten verbaut, stabilisiert durch Schilfmatten. Er war geschätzt 28 Meter hoch - ein Bauwerk der Superlative.
Das Zweistromland war eine geordnete Welt, Götter und Menschen hatten ihren Platz. Hierarchien und Bürokratie hatten sich herausgebildet, Mathematik, Astrologie, die Schrift entstanden. Oder, aus der Perspektive des erschöpften Menschen von heute: Die Geißeln der modernen Zivilisation - Arbeitsteilung und Unterordnung, Beschleunigung und Enge, sogar: Big Data - traten hier in die Welt.

Die originellste Leistung aber war die Stadt. Auf alles andere kamen früher oder später auch andere Hochkulturen, schreibt Gwendolyn Leick in ihrem Buch "Mesopotamia. The Invention of the City": Der Gedanke der Stadt aber, als "heterogenes, komplexes, schmutziges, sich veränderndes, aber praktikables Konzept für die menschliche Gesellschaft" war eine genuin mesopotamische Erfindung.

Vorbereitung von DGPS Messungen auf der Stadtmauer von Uruk.
© B. Teichert / DAI Orient-AbteilungVorbereitung von DGPS Messungen auf der Stadtmauer von Uruk.
Der Magnetometer-Survey in Uruk wird fortgesetzt.
© J. Faßbinder / DAI Orient-AbteilungDer Magnetometer-Survey in Uruk wird fortgesetzt.