Was wussten die Menschen im bronzezeitlichen Mitteleuropa über den Himmel? Welche Kalender nutzten sie? Weil diese Kulturen keine Schrift kannten, ist ihr Weltbild und Wissen noch immer rätselhaft. Nur Funde wie die Himmelscheibe von Nebra, die Goldhüte oder der Sonnenwagen liefern erste - nicht immer unumstrittene - Anhaltspunkte.

Himmelsscheibe von Nebra
© Dbachmann/WikipediaDie Himmelsscheibe von Nebra
Solche "stummen Zeugen" des astronomischen Weltbilds unserer Vorfahren sind eine Rarität - man kann sie fast an einer Hand abzählen. Das Problem dabei: Das auf diesen Objekten Dargestellte und auch ihre Funktion lässt sich auf ganz unterschiedliche Weise interpretieren. Denn eine "Gebrauchsanleitung" fehlt. Kein Wunder also, dass Archäo-Astronomen bei der Erforschung dieser Epoche und Region oft im Dunkeln tappen müssen - was es nicht weniger spannend macht.

Stumme Zeugen - Reise in das Europa der Bronzezeit

Vor rund 4.000 Jahren war Mitteleuropa alles andere als ein Nabel der Welt - eher im Gegenteil. Denn die großen kulturellen Durchbrüche fanden damals anderswo statt: Am Mittelmeer, in Mesopotamien, Ägypten und im fernen Indien blühten die Hochkulturen, die Menschen dort bauten Großstädte, kommunizierten per Schrift und entwickelten komplexe Gesellschafts- und Verwaltungsstrukturen. Von ihren Errungenschaften zeugen die zahlreichen schriftlichen Zeugnisse, die diese Kulturen hinterließen.

bronzezeitliche Gräber und Depotfunde
© Nikanos/ CC ShareAlike 1.0Zeugnisse der bronzezeitlichen Lebenswelt liefern vor allem Gräber und Depotfunde - Objekte, die damals im Erdreich versteckt wurden.
Das Problem der fehlenden Schrift

In Mittel- und Nordeuropa dagegen klafft in dieser Hinsicht eine große Lücke. Denn die bronzezeitlichen Kulturen dieser Region kannten noch keine Schrift. Wie die Menschen der Aunjetitzer Kultur, der Hügelgräber- und Urnenfelderkultur lebten, was sie glaubten und was sie über ihre Umwelt und den Himmel wussten, ist daher bis heute kaum bekannt. Selbst die Kelten der Römerzeit zogen mündliche Überlieferungen den schriftlichen Aufzeichnungen vor.

Wenn man daher wissen will, wie die Weltsicht unserer Vorfahren damals aussah, muss man "stumme Zeugen" heranziehen: Archäologische Funde, die auch ohne Schrift einen Hinweis auf die Lebensweise und das Wissen der Menschen im bronzezeitlichen Europa geben. Indizien dafür liefern heute vor allem Relikte von Bauten und rituellen Anlagen, Gräber und verzierte Gebrauchsgegenstände wie Keramiken oder kupferne und bronzene Schmuckstücke und Waffen.

Einfache Dörfer, Bergbau und Handel

Bronzezeit - Bronzeobjekte aus einem Depotfund zeigen die Kunstfertigkeit der Metallverarbeitung
© Wolfgang Sauber/ CC_by-sa 3.0 Bronzeobjekte aus einem Depotfund zeigen die Kunstfertigkeit der Metallverarbeitung
Diese archäologische Funde zeichnen ein eher einfaches Bild: Die Menschen lebten in kleinen Höfen oder Dörfern, ihre Häuser waren aus Holz, manchmal mit Steinfundamenten. Großstädte oder gar Monumentalbauten sucht man hier vergeblich. Die Gesellschaftsstruktur war wenig hierarchisch, es gab meist nur lokale Anführer.

Im Bergbau und in der Kunst der Metallverarbeitung dagegen waren unsere Vorfahren bereits sehr fortschrittlich: Sie bauten Kupfer und andere Erze ab und schufen kunstvoll verzierte Schmuckstücke, Waffen und Kultgegenstände. Auch Handelsbeziehungen nach Süden und nach Skandinavien gab es damals bereits. So wurde Erz über die Alpen und nach Osten transportiert, die Bernsteinroute verband das Baltikum mit den Hochkulturen des Mittelmeeres.

Was wussten sie über den Himmel?

Wie aber sah es mit dem astronomischen Wissen aus? Wie gut kannten die Europäer der Bronzezeit den Sternenhimmel und die Gesetzmäßigkeiten von Sonne und Mond? Theoretisch wäre es möglich, dass mit den Handelsgütern fortgeschrittenes astronomisches Wissen aus dem Vorderen Orient bis nach Mitteleuropa kam. Andererseits weiß man, dass auch die europäischen Kulturen der Steinzeit schon über astronomische Kenntnisse verfügten und sie als Zeitgeber für rituelle und landwirtschaftliche Ereignisse nutzten - Stichwort Stonehenge und Goseck.

Dass dieses Wissen auch in der Bronzezeit nicht verloren gegangen war und sogar noch weiter entwickelt wurde, darauf deuten in den letzten Jahren aber eine Handvoll "stummer Zeugen" hin.

Gräber, Hehler und ein Bronzezeitfund - Die Himmelsscheibe von Nebra

Der Fundort der Himmelscheibe im Ziegelroder Forst
© Medien-GbR.de/ CC-by-sa 3.0Der Fundort der Himmelscheibe im Ziegelroder Forst
Sie ist das berühmteste astronomische Zeugnis der europäischen Bronzezeit - und ein UNESCO- Dokumentenerbe. Doch um ein Haar wär sie für immer in undurchsichtigen Kanälen verschwunden. Denn die Fundgeschichte der Himmelsscheibe von Nebra ist ein echter Krimi. Die Akteure: Zwei Raubgräber, einige zwielichtige Kunsthändler und Hehler und ein Archäologe.

Fund im Waldboden

Der Krimi beginnt im Sommer 1999 in einem Waldstück in Sachsen-Anhalt. Zwei Männer durchstreifen den Ziegelroder Forst unterhalb der Kuppe des Mittelbergs bei Nebra und sondieren den Waldboden mit Metalldetektoren. Sie suchen nach archäologischen Funden, vor allem Waffen oder Schmuckstücke, die sie zu Geld machen können. Ihre Chancen stehen gut, denn in diesem Gebiet sind bereits rund 800 bronzezeitliche Hügelgräber bekannt.

Plötzlich piept das Gerät laut - ein Fund. Die beiden Raubgräber beginnen im Waldboden zu graben und stoßen schnell auf eine runde, etwa 30 Zentimeter große, schwärzlich verfärbte Platte. Doch diese interessiert sie zunächst wenig. Viel spannender finden sie die beiden mit Gold verzierten Schwerter, einige Armreifen und Beile. Die beiden Raubgräber raffen die Fundstücke samt der beim Ausgraben leicht beschädigten Scheibe zusammen und versuchen wenig später, ihre Beute zu Geld zu machen.

Undercover-Einsatz für einen Archäologen

Die mit der Scheibe gefundenen goldverzierten Bronzeschwerter
© Dbachmann/ CC-by-sa 3.0 Die mit der Scheibe gefundenen goldverzierten Bronzeschwerter
Von einem Kölner Hehler bekommen sie 31.000 D-Mark für den Fund - für die beiden Amateur-Raubgräber viel Geld, aber gemessen am tatsächlichen Wert der Funde viel zu wenig. Das wissen auch die verschiedenen zwielichtigen Händler, durch deren Hände die Fundstücke gehen. Keiner von ihnen aber erkennt, um was es sich bei der unscheinbaren Scheibe handelt. Stattdessen versucht einer von ihnen sogar, das verschmutzte Stück mit Stahlwolle zu reinigen. Als dann einer der Händler die Stücke auch verschiedenen Museen anbietet, werden die Behörden hellhörig.

Um die Funde zu sichern und die Hehler zu überführen, planen sie eine fernsehreife Undercover-Aktion: Harald Meller vom Landesamt für Archäologie von Sachsen-Anhalt gibt sich als interessierter Käufer aus und vereinbart im Februar 2002 ein konspiratives Treffen mit den Hehlern in einem Hotel in Basel. Doch kaum hält er die Funde in den Händen, schreitet die Schweizer Polizei ein und nimmt die Hehler, eine Museumspädagogin und einen Lehrer, fest. Die beiden Raubgräber werden 2003 ebenfalls gefasst und geben Auskunft über den genauen Fundort der Scheibe nebst Beifunden.

Mindestens 3.700 Jahre alt

Himmelsscheibe von Nebra
© Anagoria/ CC-by-sa 3.0Vom Schmutz der Jahrtausende befreit: die Himmelsscheibe von Nebra
Schon erste Untersuchungen der rätselhaften Scheibe enthüllen Sensationelles: Denn das so unscheinbare Fundstück besteht aus Bronze und ist mit astronomischen Symbolen aus Goldblech bedeckt - einer Sonne oder einem Vollmond, einer Mondsichel, punktförmigen Sternen und am Rand goldenen Bögen. Das Gold ist mit der sogenannten Tauschiertechnik an der Bronzeplatte befestigt. Dafür wird eine Rille in die Bronze gekerbt und dann der Rand des Goldblechs dort hineingepresst und verklemmt. Diese Art der Metallverarbeitung ist in Europa seit der Bronzezeit bekannt.

Aber wie alt ist dieses Kunstwerk - stammt es womöglich tatsächlich aus der Bronzezeit? Die Scheibe selbst lässt sich schwer datieren, denn sie enthält keinen Kohlenstoff, der mit Hilfe der Radiokarbonmethode hätte bestimmt werden können. Einen Anhaltspunkt bieten aber die Begleitfunde: Am Stil der Schwerter und Armreifen erkennen die Archäologen, dass diese etwa 1600 vor Christus von ihren Besitzern vergraben wurden - und damit in der Bronzezeit.

Heute gehen Archäologen davon aus, dass die Himmelsscheibe von Nebra zwischen 3.700 und 4.100 Jahre alt ist - und damit einmalig in der Archäologie. Ihr Alter, ihre Kunstfertigkeit und die Motive machen diese Scheibe zu einem der zehn wichtigsten Objekte der Archäologie überhaupt, wie Meller erklärt.

Was aber stellt die Himmelsscheibe dar - und wozu diente sie?

Siebengestirn und Mondsichel - Die Himmelsscheibe als Anzeiger für den Frühlingsanfang

Sonne, Mond und Sterne - was die Himmelsscheibe von Nebra darstellt, ist intuitiv erkennbar: Es muss etwas mit dem Himmel zu tun haben. Die Scheibe ist denn auch das einzige Objekt der Bronzezeit oder früherer Zeitalter, das so eindeutige und auffällige Bezüge zur Astronomie aufweist. Sie gilt als die älteste konkrete Himmelsdarstellung der Welt. Die ältesten konkreten Himmelsabbilder der Ägypter sind rund 200 Jahre jünger.

Plejaden , Siebengestirn
© NASA, ESA, AURA/Caltech, Palomar ObservatoryDas Siebengestirn war schon in der Steinzeit ein wichtiger Marker am Himmel.
"Natürlich gibt es ältere Abbildungen des Sternenhimmels, zum Beispiel im Alten Reich Ägyptens", erklärt der Astronom Wolfhard Schlosser von der Ruhr-Universität Bochum. "Aber diese zeigen rasterartig-schematische Sterndarstellungen rein ornamentalen Charakters." Die Himmelsscheibe von Nebra dagegen scheint ein erstaunlich realistisches Abbild einer ganz konkreten Himmelssituation zu sein. Aber welcher? Und wozu diente diese schon damals wertvolle Scheibe?

Siebengestirn als Frühlings-Anzeiger

Einen ersten Hinweis gibt die auffällige Punktgruppe oberhalb von Mondsichel und Goldscheibe: Diese sieben Punkte stellen nach Ansicht der meisten Archäo-Astronomen die Plejaden dar - das Siebengestirn. Dieser offene Sternhaufen ist am Nachthimmel im Sternbild Stier auch mit bloßem Auge zu erkennen. Er war daher schon im Altertum bekannt und wurde genutzt, um bestimmte Zeiten im Jahresverlauf zu markieren.

Vor rund 3600 Jahren, zur Zeit der Himmelsscheibe, waren die Plejaden von Frühjahr bis Herbst am Himmel sichtbar. Sie gingen jedes Jahr um den 10. März erstmals in der Abenddämmerung auf und gingen im Oktober in der Morgendämmerung ein letztes Mal unter. Ihr Aufgang markierte für viele Bronzezeitkulturen den Frühlingsbeginn und war das Signal, mit der Aussaat zu beginnen. Der Untergang dagegen galt als Zeichen für das Ende des Erntejahres. "Die Plejaden sind Kalender-Sterne ersten Ranges", erklärt Schlosser.

Astronomische Gedächtnisstütze

Himmelsscheibe von Nebra
© Daag / CC-by-sa 3.0 Die Punktgruppe links oberhalb der Mondsichel stellt die Plejaden dar. Die anderen Punkte sind aber zufällig verteilt.
Es liegt also nahe, dass auch die Erschaffer der Himmelsscheibe mit dieser Punktgruppe das Siebengestirn darstellten. Dass die Plejaden auf der Scheibe neben der Mondsichel und der runden Vollmond oder Sonne darstellenden Scheibe stehen, ist dabei kein Zufall, wie Schlosser erklärt: Wenn das Siebengestirn bei seinem Aufgang im Frühjahr in Konjunktion zum Mond stand, dann hatte dieser gerade Neumond hinter sich und bildete daher eine Sichel. Im Herbst dagegen trat eine Konjunktion von Plejaden und Mond immer dann auf, wenn Vollmond herrschte.

Die Himmelsscheibe könnte ihren bronzezeitlichen Nutzern als kalendarische Gedächtnisstütze gedient haben - als astronomisches Memogramm für den Frühlingsanfang. Es läge nahe, dass auch die anderen 25 Goldpunkte auf der Scheibe reale Sternbilder darstellen, doch das ist seltsamerweise nicht der Fall. Stattdessen scheinen die Punkte mit Bedacht so verteilt, dass sie möglichst keine Muster bilden.

"Die Bronzescheibe zeichnet sich durch eine geradezu anomale 'Distanzwahrung' der Objekte aus", erklärt Schlosser. Seiner Ansicht nach stellen diese Punkte zwar durchaus Sterne dar, sollen aber nur andeuten, dass es um den Himmel geht. Konkrete Sterne sind - mit Ausnahme der Plejaden - nicht gemeint. Doch Frühlingsanfang und Siebengestirn sind noch längst nicht alles, was die Bronzezeit-Scheibe über den Himmel verrät...

Der Brocken und die Sonnwenden - Was bedeuten die Horizontbögen der Himmelscheibe?

Schon in der Steinzeit waren Sonne und Mond für unsere Vorfahren die wichtigsten Zeitgeber. Sommer- und Wintersonnwenden markierten wichtige Wendepunkte im rituellen wie im landwirtschaftlichen Jahr, die Phasen des Mondes kennzeichneten Monate, die Auf-und Untergänge der Sonne die Tage. Dass auch die in Mitteleuropa lebenden Menschen damals schon Sonnen- und Mondlauf beobachteten, belegt unter anderem das vor rund 7.000 Jahren errichtete Sonnenobservatorium von Goseck.

Himmelscheibe von Nebra
© gemeinfreiDie Horizontbögen markieren jeweils einen Winkel von 82°
Goldene Bögen und ein 82°-Winkel

Welche Rolle aber spielte in diesem Zusammenhang die Himmelsscheibe von Nebra? Hier kommen die beiden auffälligen goldenen Randbögen der Scheibe ins Spiel. Sie wurden erst nach den meisten anderen Goldverzierungen angebracht, wie Metallanalysen zeigen. Sie gehören damit zu einer zweiten Nutzungsphase der Scheibe. Interessant ist ihre Länge: "Sie spannen einen Winkel von 82° auf", erklärt der Bochumer Astronom Wolfhard Schlosser. Für eine bloße Verzierung scheint dies seltsam, denn aus Gründen der Symmetrie würde man da eher ein Kreisviertel von 90°erwarten.

Sucht man aber in der Astronomie nach Winkeln von 82°, dann wird man fündig: An dem Breitengrad, an dem auch Sachsen-Anhalt liegt, durchwandern die Sonnenuntergänge von einer Sonnwende zur anderen genau 82°. Das gleiche gilt für die Sonnenaufgänge. Bezieht man nun noch den Fundort der Himmelsscheibe mit ein, dann wird aus ihr ein praktisches Werkzeug, um die wichtigen Eckpunkte des Sonnenjahres, die Sonnwenden und Tagundnachtgleichen zu identifizieren.

Himmelscheibe von Nebra
© gemeinfreiRichtet man die Himmelsscheibe bei Sonnenuntergang zur Sommersonnwende aus, dann zeigt das andere Ende des Horizontbogens, wann Wintersonnwende ist.
Sonne über dem Brocken

Denn vom Fundort der Scheibe unterhalb des Mittelbergs gesehen, geht die Sonne zur Sommersonnwende ziemlich genau über dem Gipfel des rund 85 Kilometer entfernten Brockens unter. Im die Himmelsscheibe zu justieren, richtet man sie an diesem Tag so aus, dass ein Ende des neben der Mondsichel liegenden Horizontbogens genau auf Sonnenuntergang und Brocken zeigt.

Hält man nun in den nächsten Tagen und Wochen die Scheibe immer in dieser Ausrichtung, dann markiert der goldene Bogen die Wanderung der Sonnenuntergänge. Hat die untergehende Sonne im Winter das Ende des Bogens erreicht, ist Wintersonnwende - von jetzt an kehren die Untergänge ihre Wanderung wieder um. Die Tage werden länger und ein neuer Zyklus beginnt. Allerdings: Bis heute ist nicht sicher, ob die bronzezeitlichen Besitzer der Himmelsscheibe sie auch tatsächlich dafür nutzten. Dass die beiden Horizontbögen nachträglich angebracht wurden, macht dies aber zumindest wahrscheinlich.

Im Jahr 2006 allerdings enthüllten Forschungen eine noch viel komplexere Funktion der Himmelsscheibe...

Die dicke Mondsichel - Himmelsscheibe als Anzeiger für Schaltjahre?

Die Mondsichel auf der Himmelsscheibe von Nebra sieht auf den ersten Blick ganz normal aus - gebogen und mit spitzen Enden. Aber astronomisch gesehen passt sie nicht so recht ins Bild. Denn sie ist zu dick, um die schmale Sichel des Mondes direkt nach einem Neumond zu zeigen. Sie ist aber wiederum zu dünn, um den Halbmond darzustellen. Stattdessen repräsentiert sie ein Zwischenstadium, einen Mond, der etwa vier Tage alt ist.

Der Mond kurz nach Neumond
© Jay Tanner/CC-by-sa 3.0Der Mond kurz nach Neumond - die Sichel ist viel schmaler als auf der Himmelsscheibe dargestellt.
Raph Hansen vom Planetarium Hamburg ließ dieser seltsame Sichelmond keine Ruhe. Er suchte daher in den Aufzeichnungen anderer früher Bronzezeit-Kulturen nach Hinweisen auf einen vier Tage alten Sichelmond. Bei den Babyloniern wurde er fündig: Im Mul-Apin, einem astronomischen Keilschrift-Text aus dem 7. Jahrhundert vor Christus diente die Dicke des Mondes bei Frühlingsanfang als wichtiger Anzeiger, ob ein Schaltmonat fällig war oder nicht.

Ein Schaltmonat bringt es ins Lot

Denn ähnlich wie viele Hochkulturen der Bronzezeit folgten auch die Babylonier einer Kombination aus Sonnen- und Mondkalender. Die Monate wurden dabei über die Mondphasen bestimmt, ein Monat reichte von Neumond zu Neumond. Das Problem dabei: Ein Jahr aus zwölf Mondmonaten ist elf Tage kürzer als das Sonnenjahr. Im Laufe der Zeit verschiebt sich daher das Mondjahr gegen die Jahreszeiten - ziemlich unpraktisch.

Im Mul-Apin hielten die Babylonier unter anderem die Schaltregel für ihren lunisolaren Kalender fest.
© historischIm Mul-Apin hielten die Babylonier unter anderem die Schaltregel für ihren lunisolaren Kalender fest.
Als Abhilfe schalteten die Babylonier alle zwei bis drei Jahre einen zusätzlichen Schaltmonat ein. Als Signal dafür, dass es dafür höchste Zeit war, diente ihnen der Mond beim Frühlingsanfang: Stand neben den Plejaden nur eine ganz dünne Mondsichel, war noch alles im Lot, ein Schaltmonat daher unnötig. War der Mond aber bei seiner Konjunktion mit den Plejaden schon einige Tage alt, dann hinkte das Mondjahr hinterher - es musste geschaltet werden.

Dicker Mond neben den Plejaden? Schalten!

Nach Ansicht von Hansen ist diese Konstellation von viertägiger Mondsichel und Plejaden genau das, was auf der Himmelsscheibe von Nebra dargestellt ist. Die Besitzer der Scheibe mussten daher nur beim Aufgang der Plejaden im Frühjahr den Mond anschauen und ihn mit seinem goldenen Ebenbild auf der Scheibe vergleichen. War er dünner, war alles gut, sah er dagegen gleich dick aus, war ein Schaltmonat fällig.

Für die Archäologen und Archäo-Astronomen war dies eine Sensation: Sollten die vermeintlich eher rückständigen Bronzezeit-Menschen von Nebra wirklich schon genügend astronomisches Wissen und Abstraktionsvermögen besessen haben, um einem so komplexen Lunisolar-Kalender zu folgen? "Das hätten wir ihnen niemals zugetraut", sagt Harald Meller vom Landesamt für Archäologie in Halle. Denn ohne Schrift war auch das langfristige Beobachten von astronomischen Veränderungen schwierig.

Import aus Mesopotamien?

So hat die Himmelscheibe von Nebra in der ersten Phase ihrer Nutzung wahrscheinlich ausgesehen: Noch ohne Horizontbögen und Barke.
© gemeinfrei ZoomSo hat die Scheibe in der ersten Phase ihrer Nutzung wahrscheinlich ausgesehen: Noch ohne Horizontbögen und Barke.
Ob die Erschaffer der Himmelsscheibe dieses Wissen wirklich selbst entwickelten, ist daher strittig. Naheliegender erscheint da schon, dass das Wissen um den Schaltmonat über die bronzezeitlichen Handelswege aus dem vorderen Orient nach Osteuropa und von dort aus auch nach Nebra gelangte. "Dass man diese Regel in einer schriftlosen Kultur erfand, erscheint uns unwahrscheinlicher als die These, dass eine Verbindung nach Mesopotamien dieses Wissen brachte", sagt Hansen.

Vielleicht lernte ein Schamane, Druide oder sonstiger Gelehrter durch Kontakt mit Händlern den lunisolaren Kalender und die Schaltregel der Babylonier kennen und ließ als Gedächtnisstütze und Erkennungshilfe dann die Himmelsscheibe anfertigen. "Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Funktionsweise der Scheibe nur einem sehr kleinen Kreis von Menschen bekannt war, sagt Meller. Und als diese starben, ohne ihr Wissen weiterzugeben, verlor auch die Himmelsscheibe ihren Zweck.

Die Ergänzungen erst der Horizontbögen, dann der Sonnenbarke und der Befestigungslöcher deuten darauf hin, dass die Himmelscheibe zum Zeitpunkt ihres Vergrabens längst nicht mehr als Kalender-Messwerkzeug diente, sondern nur noch rituellen Zwecken. "Am Schluss wurde sie zu einem Kultobjekt", erklärt Meller.

Das Rätsel der Spiralen - War der Sonnenwagen von Trundholm ein Kalender?

Der Sonnenwagen von Trundholm - Tagseite
© Malene Thyssen / CC-by-sa 3.0 Der Sonnenagen von Trundholm: Betrachtet man seine Tagseite, dann fährt er von Ost nach West - wie die Sonne.
Die Himmelsscheibe von Nebra ist aber möglicherweise nicht das einzige Zeugnis dafür, dass die Mitteleuropäer der Bronzezeit schon einen kombinierten Sonnen- und Mondkalender kannten und nutzten. Indizien könnte auch der Sonnenwagen von Trundholm liefern, ein 1902 in Dänemark entdecktes bronzezeitliches Kunstwerk.

Die Reise der Sonne

Der um 1400 vor Christus geschaffene Wagen besteht aus einer aufrechten, auf einer Seite mit Gold verzierten Scheibe, die auf einer Art Wagen steht und von einer Pferdefigur gezogen wird. Auf beiden Seiten der rund 25 Zentimeter großen Scheibe finden sich konzentrisch angeordnete Ringe aus Spiralen und Kreisen.

Es liegt nahe, dass dieser Sonnenwagen vor allem religiöse und kultische Bedeutung hatte, denn in vielen alten Kulturen findet man Darstellungen ähnlicher Sonnenwagen. Sie symbolisieren die Reise der Sonne über den Tagehimmel. Dafür spricht auch die Ausrichtung von Pferd und Wagen: Betrachtet man den Sonnenwagen von der goldenen Tagseite aus, läuft das Pferd nach rechts - wie die Sonne am Himmel von Osten nach Westen wandert.

Ein astronomischer Abzählkalender?

Der Sonnenwagen von Trundholm - Tagseite
© Nationalmuseum KopenhagenVorder- und Rückseite sind mit Spiralen und Doppelspiralen geschmückt - Symbole für Tage, Wochen oder Monate?
Aber der Sonnenwagen von Trundholm könnte noch eine tiefere und ganz praktische Bedeutung für seine Erschaffer gehabt haben. Der Schlüssel dazu verbirgt sich in der Anordnung der Ornamente auf der Sonnenscheibe. Nach Ansicht einiger Forscher könnten diese Spiralen und Kreise den Menschen der Bronzezeit als eine Art Abzählkalender gedient haben - wie genau, darüber herrscht allerdings keine Einigkeit.

Klaus Randsborg von der Universität Kopenhagen sieht in den Spiralen der Nachtseite eine Abzählhilfe für das Mondjahr. Addiert man die Anzahl der Spiralen in jedem Ring der Scheibe und multipliziert man sie mit der Nummer des Rings, in dem sie sitzen, dann ergibt dies 177, wie er vorrechnet. 177 Tage entsprechen sechs Mondmonaten und damit einem halben Mondjahr.

Spiralen als Tage und Wochen?

Eine Referenz zum Sonnenjahr meint dagegen Amelia Sparavigna vom Polytechnikum Turin im Muster der Nachtseite zu erkennen: "Im inneren Teil der Scheibe haben wir acht Symbole, die für Tage stehen und eine Woche markieren könnten", so die Forscherin. Kalender mit Acht-Tages-Wochen finden sich auch bei den alten Etruskern und eine Zeitlang sogar bei den Römern.

In den beiden äußeren Ringen stehen 45 Spiralen, die Sparavigna als Symbole für die Wochen sieht. Multipliziert man nun beide Werte, dann erhält man 360 Tage - ungefähr die Länge eines Sonnenjahres. Die Kreismitte könnte dann für die fünf fehlenden Tage stehen, eine Art Schaltperiode.

Oder sogar ein Kalender für Mondfinsternisse?

Die Nachtseite des Sonnenwagens von Trundholm
© Malene Thyssen / CC-by-sa 3.0 Die Nachtseite des Sonnenwagens von Trundholm
Noch komplizierter ist die Interpretation von Ralph Hansen vom Planetarium Hamburg. Er sieht in den Symbolen des Sonnenwagens sogar einen Kalender, mit dem sich Mondfinsternisse abzählen ließen. In Mesopotamien und im alten China hatten Gelehrte schon früh erkannt, dass sich das Muster der Mondfinsternisse alle 18 Jahre und zehn Tage wiederholt. Dieser Saros-Zyklus kann daher dazu genutzt werden, die Zeiten kommender Finsternisse vorherzusagen. Ob aber auch die schriftlose Kultur der bronzezeitlichen Mittel- und Nordeuropäer solche Erkenntnisse hatte, ist unklar.

Welche Funktion der Sonnenwagen von Trundholm tatsächlich hatte und ob er wirklich als Kalender diente, bleibt daher im Dunkeln. Ohne schriftliche Zeugnisse ist es schwer, das Wissen der Bronzezeit-Menschen dieser Region zu beurteilen. "Natürlich könnten die Symbole in der Scheibe auch einfach nur eine schöne Dekoration gewesen sein", räumt Amelia Sparavigna ein. Klar ist eigentlich nur eines: Die filigranen Teile zeugen von einem hohen Stand der Metallverarbeitung und Gusstechnik - zumindest in diesem Bereich waren die bronzezeitlichen Künstler auch in Nordeuropa schon weit fortgeschritten.

Kreise, Rauten, Sonnenstrahlen - Die Goldhüte und ihre Kalenderfunktion

Der Berliner Goldhut
© Philip Pikart / CC-by-sa 3.0 Der Berliner Goldhut - war er ein Kalender? und wenn ja, was konnte man an ihm ablesen?
Auch sie gehören zu den geheimnisvollen und bis heute nicht komplett entschlüsselten Funden der späten Bronzezeit: die Goldhüte. Von diesen kegelförmigen, aus dünnem Goldblech gehämmerten Kunstwerken der Urnenfelder-Kultur gibt es in ganz Europa bisher nur vier Stück, drei wurden in Deutschland gefunden, einer im Westen Frankreichs.

Kultischer Schmuck für die Elite

Getragen wurden diese immerhin rund 75 Zentimeter hohen Kegelhüte vermutlich von Priestern bei kultischen Anlässen. Es ist daher wohl kein Zufall, dass die untere Öffnung ziemlich genau auf den Kopf eines Mannes passt. Weil das Goldblech papierdünn ausgetrieben wurde, wiegt der gesamte Hut weniger als 500 Gramm. Das entscheidende Merkmal dieser Goldhüte ist jedoch ihre Verzierung aus Bändern mit ins Goldblech getriebenen Kreisen und kleinen Ornamenten.

"Nichts an diesem Stück ist dem Zufall überlassen, weder die Zahl der Schmuckzonen insgesamt noch die der einzelnen Teile, nicht einmal die Anzahl der Ringe um die vielen Buckel", erklärt die Berliner Kunsthistorikerin Annette Meier. Denn in der Abfolge der Kreise und Muster sehen viele Forscher inzwischen einen komplexen Kalender, der ähnlich wie die Himmelsscheibe dabei hilft, Mondjahr und Sonnenjahr miteinander in Verbindung zu bringen.

Mondjahr, Sonnenjahr und Saros-Zyklus?

Zählt man beispielsweise beim Berliner Goldhut die Ornamente der Zonen 2 bis 18 zusammen, ergeben sich die 354 Tage eines Mondjahres. Durch spezielle Schaltzonen lassen sich an den Mustern aber auch Sonnenmonate abzählen. Und sogar der Saros-Zyklus, der die Wiederkehr der Mondfinsternisse markiert, könnte auf dem Goldhut verewigt worden sein. Denn wenn man alle Ornamente der Zonen 3 bis 13 zusammenzählt, erhält man die Zahl 223 - die Dauer eines Saroszyklus in Monaten.

Die fünfte Zone von oben hat bei dem Berliner Goldhut ein besonderes Muster: In ihr finden sich liegende Rauten, die mit 19 liegenden Halbmonden kombiniert sind. Sie könnten für die 19 Mondjahre stehen, nach denen Sonnen- und Mondzyklus wieder zusammenfallen. Diesen Zyklus errechnete und dokumentierte der griechische Gelehrte Meton, daher ist er nach ihm benannt.

Der Berliner Goldhut
© Philip Pikart / CC-by-sa 3.0 Die Muster auf dem Berliner Goldhut stehen vermutlich für Tage, Wochen oder Monate - wie genau, weiß man nicht.
Viele Spekulationen, wenig Wissen

Allerdings: Wie schon beim Sonnenwagen von Trundholm sind dies bisher nicht viel mehr als spekulative Zahlenspiele. Denn es deutet zwar einiges darauf hin, dass im Muster der Goldhüte ein System steckt und wahrscheinlich auch eine Art Kalender. Wie komplex dieser aber war und was die einzelnen Kreise und Muster tatsächlich bedeuten, bleibt auch hier rätselhaft.

Die Goldhüte, der Sonnenwagen und auch die Himmelscheibe sind nur einige wenige Steine in dem großen Puzzle der europäischen Bronzezeitkulturen. "Daher sollte man sich davor hüten, zu enthusiastische Statements zum 'tiefen astronomischen Wissen' dieser Kulturen abzugeben", warnt die ungarische Archäo-Astronomin Emilia Pásztor. "Denn ohne archäologisches, religionsgeschichtliches und anthropologisches Hintergrundwissen bleiben sie Spekulation." Doch genau dieses Hintergrundwissen fehlt uns bisher über die Menschen, die die Himmelsscheibe und die anderen "stummen Zeugen" dieser Ära schufen.