Bleiches Gras und trockener, harter Dreck kleben an den Fußballstiefeln, mit denen die kleine Cassandra ins Wohnzimmer stakt. Seltsame, altmodische Fußballstiefel, die bis zu den Knöcheln reichen, aus schwerem, hartem Leder. Ein bißchen zu groß für Cassandra, aber wirklich nur ein bißchen. "Sieh mal, Mum, was ich gefunden hab'. Wem gehören die denn?" Cassandras Mutter Gaynor starrt auf die Fußballstiefel. Es sind Carls Stiefel. Der Dreck zwischen den Stollen hängt da seit seinem letzten Spiel für das Football-Team der Pantglas-Grundschule. Das ist 30 Jahre her. So lange liegt Gaynors Bruder Carl jetzt schon oben auf dem Friedhof von Aberfan, umgeben von seinen Kameraden aus der Football-Mannschaft. Es war für sie alle das letzte Spiel.

Aberfan in 1966
© UnbekanntAberfan 1966
Schwerer, dicker Nebel klebte über dem Tal von Aberfan am Morgen des 21. Oktober 1966. Hausmeister Andrews hatte in der Grundschule die Toiletten saubergemacht und dem alten Kohleofen eingeheizt. Die Kinder sollten es schön warm haben an ihrem letzten Schultag vor den Herbstferien. Als er zum Frühstück nach Hause kam, machten sich Malcolm und Kelvin, seine beiden Jungs, gerade für die Schule fertig.

Ein paar Häuser weiter erinnerte der zehnjährige David seinen Vater daran, doch unbedingt den Sonntagsanzug aus der Reinigung zu holen. Am nächsten Tag sollte David, ein vielversprechender Pianist, im Städtchen Merthyr Tydfil auf der Hochzeit der Nachbarn aufspielen.

Hoch über Aberfan, auf dem Gipfel der häßlichen schwarzgrauen Abraumhalde der Kohlezeche Merthyr Vale, hatten Arbeiter zu Beginn der Frühschicht bemerkt, daß ein Teil der Halde über Nacht ein paar Meter abgesackt war. Seit fast 100 Jahren war hier der Grubenaushub der Zeche abgekippt worden, Sand, Gestein und ein zementähnlicher Matsch, dreißig Tonnen, Tag für Tag.

Um 8.10 Uhr sagte Kranarbeiter Leslie Davies dem Zechenbüro unten im Tal Bescheid: Die Halde rutscht ziemlich übel, sollen wir den Kran zurücksetzen? Heute nichts mehr verkippen, hieß die Antwort. Davies fuhr wieder nach oben. Kurz vor neun stellten die Arbeiter fest, daß die Halde weiter rutscht. Davies wollte eine Warnung ins Tal telefonieren, aber das Telefon funktionierte nicht. Die Drähte waren vor Jahren gestohlen und nie ersetzt worden.

Unten im Tal ahnte niemand etwas. Wie jeden Morgen hielten die kleine Gaynor, ihr Bruder Carl und ihre Schwester Marylyn auf dem Weg zur Schule bei dem kleinen Krämerladen an und kauften ein paar Süßigkeiten. In der Schule versammelten sich alle in der Aula, sie sangen "All Things Bright and Beautiful". Dann gingen sie in ihre Klassen. Gaynor erinnert sich, daß Lehrer Davies gerade Mathematikaufgaben an die Tafel geschrieben hatte und alle angestrengt rechneten. Janett, eine Klassenkameradin, sah zum Fenster heraus. "Da ist so ein komischer Qualm draußen", sagte sie zu Lehrer Davies. "Ach, das ist Kochdunst von der Küche", antwortete der Lehrer. Aber wir haben doch gar keine Küche in unserer Schule, dachte Gaynor noch.

Dann begann ein unheimliches Donnern, wie sie es noch nie vorher gehört hatte, ein Donnern, das immer näher kam. Und durch das Klassenfenster sah Gaynor das Schwarze auf die Schule zukommen. Die kleine Dawn stößt die Haustür auf. Sie hat den Horror in den Augen. "Mum", schreit sie, "die Schule ist verschüttet, die Schule ist verschüttet." Mutter Andrews verpaßt ihr eine Ohrfeige. "Das ist fürs Lügen", sagt sie. "Und wie du aussiehst, die ganzen Sachen voller Matsch. Wo bist du nur reingefallen?" Dawn ist das einzige Kind aus der Straße, das an diesem Tag von der Schule nach Hause kommt.

Um 9.15 Uhr löste sich die Halde und donnerte ins Tal. Binnen einer Minute überrollte die Schlammlawine eine Farm und einen Flußlauf, zerfetzte die Hauptwasserleitung nach Cardiff, begrub die Pantglas-Grundschule und acht Wohnhäuser unter sich. Die furchtbarste Tragödie der britischen Bergwerksgeschichte forderte 144 Todesopfer, davon 116 Schüler. Mit einem Mal waren fast alle sieben- bis zehnjährigen Kinder aus Aberfan tot.
The aftermath of the disaster Aberfan
© EmpicsRettungshelfer bei Aufräumarbeiten an der zerstörten Schule.

Sie fanden einen Lehrer tot unter den Trümmern, fünf Kinder im Arm. Er hatte noch versucht, sie mit seinem Körper gegen die Wucht der Lawine abzuschirmen. Sie fanden zwei Mädchen, die Hand in Hand gestorben waren und legten sie zusammen auf eine Bahre. Sie fanden ein Schreibheft, in dem ein Kind sechsmal aufgeschrieben hatte: Ich muß immer artig sein.

Hausmeister Andrews grub den ganzen Tag, bevor seine beiden Jungs tot aus dem Schlamm gezogen wurden. Die kleine Gaynor wurde schwer verletzt gerettet, ihre Geschwister Carl und Marylyn fand man tot unter den Trümmern.Die Hochzeit in Merthyr Tydfil fand am nächsten Tag statt - ohne das Klavierspiel des kleinen David.

Alle wollten in der Schule neben Gerald Kirwan sitzen. Er war Klassenbester, und er ließ einen abschreiben. An diesem Tag war Gary, sonst Geralds Banknachbar, nicht in der Schule. Also fragte Paul, Geralds zweitbester Freund, ob er sich neben Gerald setzen darf. Paul starb unter den Schlamm- und Geröllmassen.Vielleicht hätte Paul überlebt, wenn er nicht neben Gerald gesessen hätte. Wäre Gary an diesem Tag zur Schule gegangen, wäre er gestorben, nicht Paul. Vielleicht wäre Paul aber auch so gestorben, wer weiß das schon?

Garys Eltern nicht, die ihrem Sohn bis heute nicht verziehen haben, daß er damals nicht in der Schule war. Auch Pauls Eltern nicht, die seit 30 Jahren diesen unausgesprochenen Vorwurf mit sich herumtragen: Warum ging Gary an diesem Tag nicht zur Schule?

Die Kinder, die in den Stunden nach der Katastrophe lebend aus dem schwarzen Morast gezogen wurden, hatten einen Alptraum gerade überlebt, da stand der nächste schon vor ihnen: der Alptraum des Überlebens. In ruhigen Momenten und nachts, wenn die schlimmen Bilder kommen, nagen die Schuldgefühle: Warum sind meine Freunde tot, warum habe ich überlebt?"

Mein Bruder hatte schon so viel durchgemacht", sagt Elizabeth Jones, die sechs Jahre alt war, als es passierte. "Zwei Jahre war er im Krankenhaus, Hüftdysplasie. Ich hatte solche Schuldgefühle. Es ist schrecklich, das zu sagen, aber ich fühlte mich von meinen Eltern verstoßen. Jahrelang glaubte ich, sie hätten es lieber gesehen, ich sei an seiner Stelle gestorben."Diese Kinder hatten Dinge gesehen, die sich für immer in ihr Gedächtnis einfräsen sollten, aber Mitleid hatte keiner. Janett Smart erinnert sich: "Niemand sagte, och du armes Ding. Alle Nachbarn in unserer Straße hatten Kinder verloren. Die sagten, wir sind arm dran, wir haben Kinder verloren, du hast es doch gut, du hast überlebt, sieh mal zu, wie du klarkommst." Eine Nachbarsfrau sagte damals zu Janetts Schwester: "Warum haben sie all die Rosen geköpft und die Dornen stehengelassen?" Janetts Tante, die ein Kind in der Schule verloren hatte, erhängte sich wenige Wochen nach der Katastrophe.

On Friday 21 October 1966, a coal tip collapsed sending thousands of tons of mud and colliery waste down Merthyr Mountain near Aberfan in South Wales, destroying a school and about 20 houses and killing 144 people. Susan Robertson, 8, was pulled alive fro
© UnbekanntAm Freitag den 21.10.1966 begrub ein Erdrutsch in dem walisischen Bergarbeiterort Aberfan in Glamorgan in Wales die Pantglas Schule, etwa 20 Häuser, ein Bauerngehöft und tötet 144 Menschen. Susan Robertson, 8, wurde lebendig geborgen.
Nachdem Aberfan seine Toten beerdigt hatte, hüllten die Überlebenden ein Leichentuch über das Dorf: das Schweigen. "Sssht, hör auf davon", sagte Janetts Mutter, wenn ihre Tochter etwas fragte, das mit der Katastrophe zu tun hatte. Als Elizabeth aus dem Krankenhaus nach Hause kam, hatten die Eltern alle Spuren ihres Bruders beseitigt. "Sie sprachen nicht von ihm, seine Spielsachen hatten sie weggeschlossen, das war's. Als ob es ihn nie gegeben hätte.

"Gaynor hatte Alpträume und konnte nur bei ihren Eltern im Bett schlafen. Jede Nacht näßte sie das Bett, jeden Morgen zog ihre Mutter schweigend die nassen Laken ab. Sie mußte Gaynor zur Toilette auf den Hof begleiten und draußen vor der Tür warten. Nie wurde ein Wort darüber gesprochen.

Gerald hat bis vor kurzem nicht über diesen Tag gesprochen, nicht mit seinen Eltern, nicht mit seinen vier Brüdern, nicht mit seiner Frau in 16 Jahren Ehe, nicht mit seinen Söhnen. "Mein Ältester, der ist 15, kam eines Tages und sagte: ,Dad, erzähl' mir von dieser Schule.' Aber ich konnte es nicht. Wir haben das all die Jahre in uns reingefressen.""Und die anderen Überlebenden? Konntet ihr miteinander reden?""Nein. Während der ganzen Schulzeit nicht. Und außerdem: Die überlebt hatten und vorher Freunde waren, blieben nicht Freunde.

"Wenn Besucher ins Dorf kamen und nach dem Friedhof fragten, schickte Gerald sie wieder aus dem Ort hinaus: "Sie müssen zurückfahren, und dann kommt der Friedhof nach etwa zwei Meilen." So haben sie es alle gemacht. Und wenn sie in Urlaub fuhren und jemand fragte "Wo kommst du denn her", dann sagten sie: "Ich bin aus Merthyr." Sie sagten nie: "Ich bin aus Aberfan." Weil dann wieder die Fragen kamen. Und sie wollten die Fragen nicht mehr hören.

Es war Zeit, daß jemand das Schweigen bricht, nach 30 Jahren. Gaynor hat es getan. "My true life story. A sad story", steht vorn auf dem kleinen blauen Schulheft. Vier Jahre nach der Katastrophe begann Gaynor, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, in der Schule, während vorn der Unterricht weiterging. "Ich war wie besessen, als ob mir jemand alles diktiert hätte." Vor ein paar Wochen hat ein kleiner Verlag die Aufzeichnungen veröffentlicht.

Bei der Buchpräsentation saßen sie zum ersten Mal seit 30 Jahren wieder zusammen, Gaynor, Janett und Gerald, die Klassenkameraden von einst. Anschließend sind sie durch die Kneipen gezogen, haben ordentlich getrunken und auch über jenen Tag geredet. Nur ein bißchen, weil es noch immer weh tut. "Wir haben doch so viel gemeinsam", sagt Janett, "es war fast, als ob eine Familie sich nach langer Zeit wieder trifft."

"Unser Haus ist leicht zu finden", hatte Cliff Minett, Gaynors Vater, am Telefon gesagt. "Direkt links vom Friedhofseingang." Cliff Minett hat das Haus "Carlyn" getauft. "Car" für Carl und "lyn" für Marylyn.Cliff hat 20 Jahre unter Tage gearbeitet, bis zu dem Tag, als die Halde ihm Carl und Marylyn raubte. Am nächsten Tag kündigte er der Kohlebehörde. In all den Jahren danach hat er Abraumhalden beseitigt, Halden wie die in Aberfan, landauf, landab. "Die Arbeit war meine Art, damit fertig zu werden. Die Leute haben gefragt, warum wir das machen, und ich habe gesagt: Weil wir kein zweites Aberfan wollen. Einige wußten, daß ich aus Aberfan bin, aber sie wußten nicht, daß ich zwei Kinder verloren hatte. Ich war froh, daß mich keiner drauf ansprach, wenn wir nach der Arbeit ein Bier trinken gingen."

Bulldozers were brought in to help shift the debris and an endless line of lorries carried it away.
© UnbekanntTag und Nacht werden die Erdmassen weggeräumt.
"Gibt es viele, die noch heute nicht darüber sprechen können?""Ja, viele. Es ist in ihnen, und es quält sie. Sie leiden alle, und niemand weiß es. Manche sind nie wieder richtig hochgekommen."Und dann erzählt er von Kranführer Leslie Davies, der an jenem Morgen auf der Halde arbeitete und noch heute in Aberfan lebt. "Keiner weiß, mit welchen Gedanken der sich quält. Was wäre gewesen, wenn das Telefon funktioniert hätte? Vielleicht hätte er morgens bei der Zechenleitung energischer sein müssen, vielleicht hätte er noch ins Tal laufen können. Weißt du, am Abend macht er die Tür hinter sich zu, und dann ist er mit sich ganz allein.

"Für die überlebenden Kinder versank die Welt im Chaos. Da lagen ihre Freunde, verschüttet, die meisten tot. Sie verstanden nicht, was passiert war, klammerten sich an das Nächste."Neben mir lag David Bates mit offenem Schädel", erinnert sich Gaynor. "Und da lag ein blutgetränktes Schulbuch, ,Through The Garden Gate'. Ich nahm es und las. Während um mich herum meine Freunde nach Hilfe schrien, lag ich da und las dieses Buch.

"Als Janett aus den Trümmern herausgezogen wurde, merkte sie, daß sie ihre Schuhe verloren hatte. "Ich wollte wieder da rein. Sie mußten mich mit Gewalt zurückhalten, und ich schrie: ,Ich hab' doch keine Schuhe an, meine Mutter langt mir eine, wenn ich ohne Schuhe nach Hause komme. Sie sind doch ganz neu!'

"Gerald hatte vor Angst in die Hose gemacht. "Es ist seltsam, daß ich mich ausgerechnet daran so gut erinnere. Ein Junge von acht Jahren macht nun mal nicht in die Hose. Ich hab' mich so geschämt. Sie brachten mich in ein Haus auf der anderen Straßenseite, und ich weiß noch ganz genau, daß ich zum Klo ging, um das irgendwie wegzumachen. Ich wollte nicht, daß mich jemand mit vollgekackten Hosen sieht. Da lag ein totes Mädchen vor dem Klo. Ich mußte über sie drübersteigen, aber es war mir ganz egal. Ich hatte keine Angst. Ich wollte mich nur so schnell wie möglich waschen. Sie konnten mich doch nicht mit dreckigen Hosen ins Krankenhaus bringen.

Long after Aberfan dropped out of the news headlines, the people of the town were still coming to terms with their feelings of grief, anger and even guilt. Doctors reported an increase in breakdowns and drink and stress-related illnesses.
© George Freston/Getty ImagesNach der Katastrophe von Aberfan am 21. Oktober 1966 mit 144 Toten wurden in einem Massenbegräbnis die meisten der bei dem Haldenrutsch ums Leben gekommenen Kinder zu Grabe getragen
"Der Friedhof, die Stätte der Toten, ist in Aberfan das Zentrum des Lebens. Manche stehen schon früh um sieben am Eingang und warten darauf, daß der Friedhofswärter das Tor aufschließt, manche sitzen da, bis es dunkel wird. Wenn Journalisten mit Kameras oder Touristen kommen und Fragen stellen, drehen sie sich einfach um und gehen weg.

Cliff Minett ist Vorsitzender des Friedhofskomitees. Manchmal steht er mit dem Fernglas am Fenster und schaut, ob oben auf dem Friedhof alles o. k. ist. Meist ist alles o. k. Er ist jeden Tag auf dem Friedhof. "Wir halten es in Ordnung", sagt er immer wieder. Es hilft ihm. Die Wege sind asphaltiert, der Rasen abgesteckt, auf den meisten Gräbern liegen frische Blumen. Alle drei Jahre werden die Steinbögen über den Gräbern mit Säure abgewaschen, damit sie weiß bleiben.

"In den letzten zwei Jahren haben wir neun Gräber aufgemacht", sagt Cliff. "Jetzt folgen die Eltern ihren Kindern nach." Dann kommt der Steinmetz und meißelt "Reunited" auf den Grabstein.Dann stehen wir vor den Gräbern von Carl und Marylyn. Es liegt nur Graberde darauf. Keine Grabplatte wie bei den meisten, nicht mal eine Blume. "Meine Frau wollte das nicht", sagt Cliff leise. "Sie ist richtig panisch geworden. Auf die beiden kommt nichts mehr drauf, hat sie gesagt, es hat genug auf ihnen draufgelegen in der Schule.

"Zwei Wochen nach der Katastrophe öffnete die Notschule für die überlebenden Kinder. "Sie kamen rein, mit todtraurigen Gesichtern, kein Lachen", erinnert sich Hugh Watkins, der einzige Lehrer, der die Halde kommen sah und überlebt hatte.Watkins und seine Kollegen schufen eine kleine, friedvolle Nische inmitten des Chaos. Spielen, dachten sie, ist das beste Mittel gegen Alpträume. Sie gaben den Kindern Wasserfarben, Malbücher und Bausteine, gingen mit ihnen ins Schwimmbad und ins Kino.

Nach zwei Wochen notierte eine Lehrerin in ihrem Kalender: "Das Lachen kommt zurück."Für die Kinder ging das Leben weiter, irgendwie. Sie hatten ihren Spaß und fanden neue Freunde, aber es wurde nie mehr so wie früher. Wenn der Lehrer ein Lineal fallen ließ, ein Tisch verrückt wurde oder der Schulbus draußen eine Fehlzündung hatte, zuckten sie zusammen.

Gaynors neue Schule lag an einer Bahnlinie. Als sie am ersten Schultag auf dem Hof spielte, kam ein Zug. Gaynor stand da, hielt sich die Ohren zu und schrie. Das Grollen des herannahenden Zuges hatte sie an das Donnern der Halde erinnert. Sie mußte die Schule wechseln. Dann kam der Tag, an dem sie zum Psychiater gebracht wurde. Ins Irrenhaus, dachte sie, jetzt bringen sie mich ins Irrenhaus.

Aberfan suchte Vergessen und Zerstreuung. Es gab Karnevalsumzüge, Jazzmusik, Bonfire Nights. Die Hoffnung, das Leben und das Lachen sollten zurückkehren in das Tal der toten Kinder. Doch als die Aktivisten fortzogen oder keine Lust mehr hatten, fand sich niemand mehr, der für die Fröhlichkeit zuständig sein wollte.

Wenn die Leute von der Katastrophe reden, sagen sie nie "the disaster", sie sagen "the Aberfan". Das Dorf und die Katastrophe sind eins geworden. Die Zeit gliedert sich in "before the Aberfan" und "after the Aberfan". Es liegt eine unendliche Traurigkeit über diesem Tal, von dem die Leute nicht loskommen: Nur eine einzige Familie ist fortgezogen.

Aberfan heute: ein unguter Ort. Eine Jugendgang terrorisiert das Dorf. Sie stehen nachmittags auf, sitzen auf der Mauer, trinken Bier aus Dosen, vertun ihre Zeit. Nachdem Busse mit Pflastersteinen und Eisenstangen beworfen wurden, weigern sich die Busunternehmen, nach Einbruch der Dunkelheit durch Aberfan zu fahren.

Die Leute haben Angst. Und sie hoffen, daß das Problem sich von selber erledigt.Zwei der Kerle sind mit einem geklauten Wagen verunglückt. Einer war auf der Stelle tot, der andere, sagt Gaynor, "war zerquetscht wie eine gestampfte Kartoffel". Der dritte wollte sich in der Pfanne "magic mushrooms" braten. Er schlief ein, sein Hund neben ihm, der Herd fing Feuer. Es heißt, der Hund sei mit ihm zu einem Klumpen zusammengeschmolzen. Den vierten fanden sie im Bett neben seinen beiden Babys, die Nadel der Heroinspritze noch im Arm, der fünfte hat sich im Suff erhängt. Manche im Dorf finden: Wenn wir noch zehn, zwölf, von denen rauskriegen, ist Aberfan wieder friedlich.

Die Überlebenden aus der Pantglas-Grundschule sind heute Ende Dreißig. Sie haben sich gefangen, irgendwann, aber die Narben auf ihrer Seele sind geblieben.Gerald Kirwan hat sechzehn Jahre in der Kohlezeche Merthyr Vale gearbeitet - in der Zeche, deren Abraum vor 30 Jahren seine Freunde tötete. 1989 wurde das Bergwerk geschlossen. Wenn er die Augen schließt, sieht Gerald immer noch Paul, der an jenem Tag neben ihm saß, Paul mit den Sommersprossen.

Janett, geschieden, ein Sohn, wurde neunundzwanzig Jahre von einem Alptraum gequält. Sie steht am Fuß einer steilen Straße, von oben rollen riesige Feuerkugeln auf sie zu. Nacht für Nacht der gleiche Traum, Nacht für Nacht die gleiche Angst.All die Jahre hat Janett sich gefragt, woher dieser Traum kommt. Bis voriges Jahr. "Da erzählte meine Mutter, als ich damals aus der Schule gerannt kam, hätte ich gerufen: ,Mum, Mum, es sind Feuerkugeln auf die Schule heruntergekommen.` Da wußte ich, woher der Alptraum kommt." Seitdem hat sie nie mehr von Feuerkugeln geträumt.

Elizabeth, geschieden, kinderlos, lebt allein mit zwei liebebedürftigen kleinen Hündchen, umgeben von Tierbildern an den Wänden. Sie mag es nicht, wenn die Vorhänge zugezogen oder die Türen abgeschlossen sind. "Ich möchte raussehen, will nicht überrascht werden von irgendwas da draußen."

Gaynor, geschieden, drei Kinder, häufiger Arbeitsplatzwechsel, zieht jeden Freitagabend durch die Bars, schüttet Gin, Whisky, Wein und Bier in sich hinein - und fährt allein mit dem Taxi nach Haus. "Weißt du, wenn es einen Mann gäbe, dem ich vertrauen kann, dann würd' ich ihn auf eine einsame Insel mitnehmen, mit einem kleinen Geschäft und 'ner Disco. Das wär's doch." Sie lacht, aber das Lachen auf ihrem Gesicht stirbt gleich wieder.

Iris Minett, Gaynors Mutter, nimmt Valium, seit 30 Jahren. Sie ist nie davon losgekommen.Cliff Minett, Gaynors Vater, der so oft davon erzählt, daß jetzt nach und nach die Eltern zu ihren Kindern in die Gräber kommen, hatte vor anderthalb Jahren eine Krebsoperation, Prostata. Sie haben es Gott sei Dank rechtzeitig erkannt. Seit einiger Zeit hört er nachts die Stimmen der toten Kinder. Er weiß nicht, was er dagegen machen soll."Es ist immer noch sehr schwer, nicht wahr?""Es ist ein bißchen leichter als zu Anfang. Aber manchmal kommt es mir vor, als ob es gestern gewesen wäre, und dann wird es schlimm." Pause. "Hilfst du mir, die Bänke vom Friedhof runterzutragen? Ich will sie doch noch streichen, vor dem Jahrestag."