Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Tübingen haben Belege dafür gefunden, dass die Ausprägung bestimmter menschlicher Schädelknochen Rückschlüsse auf die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft zulässt.

Gesichtsknochen erlauben Rückschlüsse auf Sprachgemeinschaft
© Uni TübingenForscher der Universität Tübingen haben Hinweise darauf gefunden, dass die Ausprägung von Gesichtsknochen Rückschlüsse auf die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft zulassen. Zu diesem Ergebnis kamen die Wissenschaftler beim Vergleich der Positionen der hier gelb markierten Punkte, die sie an 265 menschlichen Schädeln aus Afrika, Asien und Ozeanien vermessen haben.
Die Ausbildung unterschiedlicher Sprachfamilien und Sprachen und die unterschiedliche Ausprägung der Gesichtsknochen habe sich in verschiedenen menschlichen Populationen offenbar zeitlich und räumlich parallel vollzogen, erklärten der Sprachwissenschaftler Professor Gerhard Jäger und die beiden Paläoanthropologen Professorin Katerina Harvati und Dr. Hugo Reyes-Centeno. Für ihre Studie untersuchten die Forscher 265 Schädelfunde aus Afrika, Asien und Ozeanien sowie den Wortschatz von über 800 Sprachen und Dialekten aus den genannten Regionen. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Scientific Reports.

Sollten sich die Ergebnisse bei weiteren Untersuchungen bestätigen, hätte die Forschung ein Merkmal, mit dem sich die Entwicklung unterschiedlicher Sprachfamilien bis in die Frühzeit des Menschen zurückverfolgen ließe. Die Sprachwissenschaftler entwickelten eine Methode, um den Grad der Ähnlichkeit zwischen zwei Sprachen komplett automatisiert zu messen, indem sie den Grundwortschatz heute gesprochener Sprachen verglichen. Die Paläoanthropologen fanden Wege, die Ähnlichkeit von Eigenschaften der Form und Gestalt von wenige hundert Jahre alten menschlichen Schädeln bei Messungen zu quantifizieren. »Wir können davon ausgehen, dass sich Sprache in dieser vergleichsweise kurzen Zeit nicht wesentlich verändert«, betonte Jäger. Die Forscher gingen davon aus, dass die durchschnittliche Ähnlichkeit zwischen Populationen mit der geografischen Entfernung abnehmen müsste, sowohl im Hinblick auf sprachliche wie auch biologische Eigenschaften. Weiterhin nahmen sie an, dass Populationen mit sprachlicher Ähnlichkeit tendenziell auch biologisch ähnlich sind und umgekehrt. Wenn diese Korrelationen auch zwischen Populationen bestehen, die sich vor mehr als 10.000 Jahren aufgeteilt und in der Folge unterschiedlich weiterentwickelt haben, würde dies den Beweis dafür liefern, dass Sprache ein älteres historisches Zeugnis bewahrt als bisher gedacht.

In ihrer Studie kommen die Autoren zu dem Schluss, dass tatsächlich beide Erwartungen zutreffen, und dies auch über die Grenzen von Sprachfamilien hinaus. Sie stellten außerdem fest, dass die sprachliche Verwandtschaft vor allem mit den Eigenschaften der Gesichtsknochen des Schädels zusammenhängt, weniger dagegen mit dem Neurocranium, also den Schädelknochen, die das Gehirn umhüllen. Dies spiegelt möglicherweise eine unterschiedliche Evolutionsrate der Eigenschaften wider, bei denen Sprache und Gesichtszüge sich schneller ändern als Eigenschaften des Neurocraniums.

Bisher gingen Wissenschaftler in der historischen Sprachwissenschaft davon aus, dass sich Sprachen nur als verwandt erkennen lassen, wenn ihre letzte gemeinsame Form vor höchstens 10.000 Jahren gesprochen wurde. Es hat bereits Versuche einzelner Wissenschaftler gegeben, diese Grenze weiter in die Vergangenheit zurück zu schieben. Doch sind diese Unterfangen bei Sprachexperten allgemein auf Skepsis gestoßen. Die von den Tübinger Forschern entwickelte Methode könnte das Tor nun deutlich weiter in die Vergangenheit aufstoßen, da die Sprachwissenschaftler damit auch paläoanthropologische Funde für ihre Ziele nutzbar machen könnten. Jäger, Harvati und Reyes-Centeno gehören zum Kern der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Kolleg-Forschergruppe »Words, Bones, Genes, Tools. Tracking Linguistic, Cultural and Biological Trajectories of the Human Past«, die im vergangenen Jahr ihre Arbeit an der Universität Tübingen aufgenommen hat. »Wir hoffen, dass wir die Prozesse, durch die Sprache evolviert, in Folgearbeiten weiter aufklären können«, erklärten die Wissenschaftler abschließend.