Die japanische Regierung hat Vorhersagen über die Verbreitung der radioaktiven Substanzen in der Luft ignoriert - und so möglicherweise Tausende von Menschen einem erhöhten Strahlenrisiko ausgesetzt. Die Atomsicherheitsbehörde verweigert sich kritischen Fragen.
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© APMädchen aus der Evakuierungszone (Archivbild): Behörden haben Risiken verschwiegen
An dem Tag, an dem Explosionen im AKW Fukushima I Abermillionen radioaktiver Partikel in die Luft schleudern, fragt sich alle Welt sofort: Wohin wird die radioaktive Wolke ziehen? Eine mögliche Antwort darauf hat Speedi, das System zur Vorhersage der Verbreitung von radioaktiven Stoffen durch die Luft ( "System for Prediction of Environmet Emergency Dose Information").

Anhand dieser Daten hätten Behörden die Bewohner von Namie, einer kleinen Stadt etwas mehr als zehn Kilometer vom Desaster-Reaktor entfernt, rechtzeitig vor der radioaktiven Wolke warnen können, die wenige Tage später über den Ort hinwegziehen sollte. Doch die Behörden tun es nicht.

Und so bleiben die Menschen von Namie und Umgebung zu Hause - auch zwischen dem 12. und 15. März, jenen Tagen, an denen die Wolken mit ihrer radioaktiven Fracht über die Stadt und die Karino-Grundschule wehen. Dort haben sich Hunderte von Menschen versammelt, die aus Nachbarorten innerhalb der evakuierten 10-Kilometer-Zone um das havarierte AKW kommen. Die Grundschule ist eines der ersten vorübergehenden Evakuierungslager. Von dem Strahlenrisiko ahnen die Menschen nichts. Schließlich überwiegen in Nordjapan im Frühjahr Winde aus westlicher Richtung. Der Großteil der radioaktiven Substanzen, so versichert man von offizieller Seite, würde auf das Meer hinausgetragen werden.

Daten erreichten Entscheidungsträger nicht

Dass die Speedi-Daten aber ein ganz anderes Bild zeichneten, das wussten die Atomaufsichtsbehörden bereits zuvor. Doch diese Daten, so meldet es die Nachrichtenagentur AP jetzt, haben die wichtigen Entscheidungsträger über die Evakuierungsmaßnahmen seinerzeit nicht erreicht. Auch die lokalen Behörden wurden über die Speedi-Szenarien offenbar nicht in Kenntnis gesetzt.

Interne Regierungsdokumente, die AP vorliegen, belegen demnach, wie Behörden und die Regierung sich weigerten, die Daten publik zu machen. Das millionenschwere Speedi-Netzwerk, das nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 eingerichtet wurde, misst mit Hilfe von Stationen landesweit die sogenannte Ortsdosisleistung. Anhand von Wetterdaten simuliert das Computersystem die Verbreitung der radioaktiven Stoffe.

Den Dokumenten zufolge wurden die Daten, die vom japanischen Ministerium für Wissenschaft und Technologie (Mext) erhoben werden, zwar an die Aufsichtsbehörde für nukleare und industrielle Sicherheit (Nuclear and Industrial Safety Agency, Nisa) weitergegeben. Dort entschied man sich aber offenbar, die Ergebnisse zunächst nicht zu veröffentlichen.

Nun werden Schuldige gesucht, Verantwortlichkeiten hin- und hergeschoben, fadenscheinige Erklärungen abgegeben. "Ich hatte keine Ahnung, welche Informationen zur Verfügung standen." Das soll Premierminister Naoto Kan am 17. Juni den Dokumenten zufolge im Parlament zu Protokoll gegeben haben. Er habe seinerzeit nichts von Speedi gewusst und deshalb keine Möglichkeit gehabt, eine entsprechende Entscheidung zu treffen.

Haruki Madarame, Chef der nuklearen Sicherheitskommission (Nuclear Safety Commission, NSC) und Berater von Kans Krisenteam hält die Speedi-Vorhersagen dagegen ohnehin für vollkommen wertlos, sie seien nicht besser als ein reiner Wetterbericht, ließ er wissen. Ohne genaue Kenntnisse über den sogenannten Quellterm, also jene Angaben über Art und Menge der freigesetzten Radionuklide, könne man keine seriösen Vorhersagen treffen. Die Messstationen seien durch den Tsunami beeinträchtigt gewesen und auch AKW-Betreiber Tepco habe seine eigenen Messungen nicht zur Verfügung gestellt.

Tatsächlich hält auch Rolf Michel vom Institut für Radioökologie und Strahlenschutz an der Universität Hannover in einer vorläufigen Bilanz zur Fukushima-Katastrophe fest:
Der Quellterm der Freisetzungen war zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt und konnte auch angesichts der unklaren zukünftigen Entwicklung der Anlage kaum abgeschätzt werden. Ohne sinnvolle Annahmen eines Quellterms konnten kaum seriöse Schätzungen der potentiellen Strahlenexpositionen für die Bevölkerung in der näheren und weiteren Umgebung der Anlage abgegeben werden.
Doch entbindet das die verantwortlichen Behörden von ihrer Pflicht, wichtige Daten in einer Krise zu veröffentlichen und für Transparenz zu sorgen?

In den Fluren des japanischen Außenministeriums in Tokio herrscht am hellichten Tag Dunkelheit. Draußen, ein Steinwurf vom kaiserlichen Palast entfernt, schützen sich die Menschen mit Schirmen vor den heißen Sonnenstrahlen. Es ist ein gewöhnlicher schweißtreibender schwüler Sommertag, an dem Abkühlung im Inneren der Gebäude willkommen wäre. Doch seit Wochen spart man in Japan an Strom; die Regierung geht mit gutem Beispiel voran. Das Licht in den Fluren bleibt aus, und nur in jene Räume, in denen es absolut notwendig ist, strömt die ersehnte kühle Luft aus der Klimaanlage.

In einem dieser karg eingerichteten Zimmer hat man sich bereit erklärt, Fragen deutscher Journalisten zum Atom-Desaster in Fukushima zu beantworten. Nach dem obligatorisch höflichen Austausch der Visitenkarten nehmen die Vertreter der Nisa sowie der NSC und des Außenministeriums an einem Ende der viereckig angeordneten Konferenztische Platz. Man lächelt freundlich.

Ruhig erklärt Morikuni Makino den Ablauf der Katastrophe, die sich am 11. März auf dem AKW-Gelände Fukushima Daiichi nach dem verheerenden Erdbeben ereignete. Der Direktor der PR-Abteilung der Nisa und sein Team haben einen großen Stapel Informationsblätter vorbereitet. Makino erläutert Grafiken, Tabellen, Listen und Pläne, berichtet über den Fortgang der Maßnahmen auf dem AKW.

Verlegenes Lächeln

Fragen über technische Details sind erlaubt. Ein Statement zur derzeit für japanische Verhältnisse harschen öffentliche Kritik an den Atomaufsichtsbehörden erhält man dagegen nicht. Gelächelt wird trotzdem, wenngleich etwas verlegen. Das sei nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden, lässt die Nisa wissen. Und die NRC ist lediglich gekommen, um ihr Zuständigkeiten-Organigramm und die Aufgabenverteilung der Behörde im Verlauf der Katastrophe zu präsentieren.

Wieder zurück in der feuchten Hitze vor dem Regierungsviertel erfährt man aus dem Internet, wie es hinter der lächelnden Fassade von Nisa und NRC tatsächlich aussieht: Premierminister Naoto Kan hat nicht nur Nisa-Chef Nobuaki Terasaka gefeuert, auch der stellvertretende Wirtschaftsminister Kazuo Matsunaga und der Leiter der Behörde für Naturressourcen und Energie, Tetsuhiro Hosono, müssen ihre Posten räumen.

Zu stark war die Kritik an den personellen Verflechtungen zwischen Atomaufsichtsbehörde und der japanischen Atomindustrie sowie der Zuordnung der Nisa zum Industrieministerium geworden. Schlagzeilen über die perfiden Manipulationsversuche von Japans Atomkonzernen, die versucht haben, Japans Meinung zu ihren Gunsten zu beeinflussen und Belege dafür, dass die Nisa versteckt auf die Energiekonzerne Einfluss genommen habe, deren Mitarbeiter auf Symposien zur Atomenergie zu schicken, taten ihr Übriges.

Befragt über die mangelnde Kommunikation der Speedi-Daten innerhalb der Behörden, schlägt die Nisa Spiegel Online gegenüber ähnliche Töne wie NSC-Chef Madarame an: Seriöse Vorhersagen seien anhand der vorliegenden Daten nicht möglich gewesen. Deshalb seien die vorläufigen Schätzungen lediglich zur Referenz herangezogen, nicht aber innerhalb der Regierung kommuniziert worden. Die Regierung plane jedoch inzwischen als eine der Lehren aus Fukushima, das Speedi-System zu verbessern.

Unabhängigkeit und Transparenz sehen dennoch anders aus. Das hat Japans Regierung offenbar eingesehen und Konsequenzen gezogen - Monate nach der atomaren Katastrophe, die Tausende Menschen ins Unglück gestürzt hat. Ob sich das Verhalten der Behörden aber künftig wirklich ändern wird, lässt sich frühestens bei der nächsten Katastrophe sagen.