Wer Sicherheit wählte, bekommt eine unsichere Regierung. Der Hype um die AfD nutzte auch FDP, Grünen und Linken. Diese und andere Kuriositäten gehören zum neuen Bundestag, der in vielerlei Hinsicht mit dem Zweiparteiensystem der Nachkriegsordnung bricht.

Merkel und Co.
© Reuters
Das Ergebnis fällt deutlicher aus, als die Vorhersagen es erwartet haben: CDU, CSU und SPD fuhren ihre schlechtesten Ergebnisse seit 1949 ein. Bei einer gestiegenen Wahlbeteiligung (76 Prozent) verlor die CDU gut 8,5 Prozent, die SPD von einem ohnehin mageren Ergebnis in 2013 weitere 5 Prozent, und selbst die CSU stürzt laut Bayerischem Rundfunk auf 38,5 Prozent ab. Auch das stellt das schlechteste Ergebnis seit der Nachkriegszeit dar. Damit ist das wichtigste Ergebnis dieser Bundestagswahlen auf den Punkt gebracht.

Die westdeutsche Nachkriegsordnung ist deutlich erschüttert. Obwohl eine klare Mehrheit von 84 Prozent die wirtschaftliche Lage als "gut" bezeichnet, setzt sich die Unzufriedenheit mit den Parteien der Großen Koalition fort. Bei den letzten Wahlen vor der Wiedervereinigung brachten Union und SPD zusammen immerhin noch 81 Prozent auf die Waage. Seit der zweiten rot-grünen Regierung fällt dieser Anteil noch schneller als in den 1990er Jahren.

Das Ende der Nachkriegsordnung zeigt auch das Ergebnis für die AfD an: Die neue drittstärkste Partei im Bundestag (13 Prozent) machte auf den letzten Metern damit Wahlkampf, dass die Deutschen stolz sein dürften auf "die Leistungen deutscher Soldaten" im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Im nächsten Bundestag wird die AfD mit etwa 94 Abgeordneten vertreten sein. Während die AfD im Westen eine Punktlandung auf die Vorhersagen der Demoskopen hinlegte (11 Prozent), wurde sie in den ostdeutschen Bundesländern mit 21,6 Prozent zweitstärkste Partei.

Das sollte vor allem der Partei zu denken geben, die bisher in dem Ruf stand die ostdeutschen Interessen jenseits des Mainstreams zu vertreten. Die Linke ging in den ostdeutschen Bundesländern weit unter ihrem bisherigen Ergebnis aus dem Wahlkampf hervor. Im Westen hingegen hat sie mit 7 Prozent leicht zugelegt. Wider allen Erwartungen findet sich Die Linke nun gemeinsam mit den Grünen als kleinste Fraktion im Bundestag wieder.

Und noch ein Kuriosum hält das gestrige Ergebnis bereit: Die FDP ist wieder da. Mit einem knapp zweistelligen Ergebnis (10,6 Prozent) melden sich die Liberalen unter einem charismatischen Parteichef Lindner zurück. Als die Genscher-Partei vor vier Jahren nach einer desaströsen schwarz-gelben Koalition knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, hätte wohl niemand angenommen, dass die FDP sich derart plötzlich aus der Asche erheben kann. Aber der Vormarsch der national-liberalen AfD hat das traditionelle Wählerspektrum aktiviert: Anders als Die Linke konnte die FDP eine Mobilisierung gegen die AfD erreichen.

Damit tritt die nächste Besonderheit zutage: Vorausgesetzt die SPD-Führung bleibt bei ihrer eindeutigen Ansage, dass sie nicht mehr für eine Große Koalition zur Verfügung steht, bekommen die Merkel-Wähler nun ein Problem. Es waren im Wesentlichen die auf Stabilität orientierten Wähler der "beteiligungsstarken Generation 60plus" (Forschungsgruppe Wahlen), welche die CDU wieder zur stärksten Partei gemacht haben. Ob allerdings eine Koalition mit verjüngten Grünen und erneuerter FDP wirklich Stabilität bietet, bleibt abzuwarten.

Ringlein, Ringlein, du musst wandern ....

Natürlich wird die politische Klasse ab Montag vormittag erstaunliche Verrenkungen hinlegen, um die Verantwortung für die eigene Niederlage, respektive eine starke AfD, anderen zuzuschieben ("Die Russen ..."). Zumindest den Journalisten kann dabei entgegenkommen, dass viele AfD-Anhänger immer noch meinen, die etablierten Medien würden sie benachteiligen. Die Fakten sprechen jedoch ein andere Sprache.

In sämtlichen Talk-Shows und Nachrichtensendungen, der öffentlich-rechtlichen wie auch der privaten Medien, waren die Partei und ihre Spitzenpolitiker in den letzten Wochen dauerpräsent. Auch die Printmedien aus den fünf großen Verlagen hielten die Namen und die Partei täglich im Bewusstsein. Damit nicht genug:

Auch CDU, noch stärker die CSU und selbst der Spitzenkandidat der SPD, Martin Schulz, stiegen im Sommer auf die AfD-Agenda ein, und kochten - ohne erkennbaren Anlass - die Flüchtlingsdebatte wieder hoch. Dafür, dass etwa der bayerische Innenminister Hermann noch in der Woche vor der Wahl mit einer plump verfälschten Kriminalitätstatistik punkten wollte, bekamen die Populisten aus den etablierten Parteien am Sonntag ihr gerechtes Ergebnis.

Legt man die Wahlbeteiligung zugrunde, um die Qualität der Demokratie zu bemessen, müssen sich Vertreter des repräsentativen Systems ohnehin bei der AfD bedanken. Wie schon in den vergangenen Landtagswahlen gelang es den National-Liberalen die Nichtwähler zu mobilisieren. Beinahe 1,3 Millionen Menschen, die bei den letzten Wahlen zu Hause geblieben waren, machten laut ersten Zahlen von Infratest Dimap ihr Kreuz bei der AfD. Gut eine Million ehemalige CDU-Wähler wanderten zum "blauen Wunder", weitere 750.000 hatten zuvor "Sonstige" gewählt.

Von einem ähnlichen Effekt kann auch die FDP profitieren: Mehr als 1,3 Millionen ehemalige CDU-Wähler stimmten nun für die FDP. Auch die Liberalen konnten gut 670.000 Nichtwähler mobilisieren, weitere 430.000 Stimmen kamen aus dem SPD-Lager. Damit haben sich die Liberalen unter Christian Lindner spektakulär von ihrer Niederlage im Jahr 2013 erholt. Allerdings, und diese Frage steht möglicherweise bald auf der Tagesordnung, haben sie kaum Personal mit Regierungserfahrung. Wer sich noch an Namen wie Philipp Rösler oder Daniel Bahr erinnert, kann die Dimension dieses Problems ermessen.

Besonders hart muss die Wählerwanderung zur AfD das linke Lager treffen: Rechnet man die Wählerwanderung der SPD (500.000) und der Partei Die Linke zusammen (430.000) haben die beiden Arbeiterparteien zusammen ebenfalls knapp eine Million an die AfD verloren. Damit kommen wir auf das Phänomen Ostdeutschland. Nachdem die AfD bei den Landtagswahlen in Mecklenburg und Sachsen-Anhalt bereits über 20 Prozent lag - beide Bundesländer haben eine eher schwachbrüstige Linke -, kommt sie nun in Ostdeutschland insgesamt auf 21,6 Prozent.

Laut MDR erreicht die AfD in den drei Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sogar 25 Prozent. In Sachsen haben die National-Liberalen sogar Aussichten stärkste Partei vor der CDU zu werden. Dass fast jeder dritte Wähler in der politischen Heimat von Katja Kipping sein Kreuz bei der AfD macht, wird innerhalb ihrer Partei sicher noch für die eine oder andere Debatte sorgen. Anders als in anderen Bundesländern verlor Die Linke hier sogar in absoluten Stimmen.

Damit kommen wir zu einem weiteren kuriosen Ergebnis: Zwar hat Die Linke, genau wie in geringerem Umfang die FDP und die Grünen, direkt Stimmen an die AfD verloren. In absoluten Stimmen jedoch haben alle drei Parteien erkennbar hinzugewonnen. Allgemein ließe sich das auf den berüchtigten Horse-Race-Effekt zurückführen. Das Rennen unter der vier kleineren Parteien war das einzig spannende Moment in diesem Wahlkampf. In den letzten Tagen sahen die jeweiligen Unterstützer die realistische Chance, ihre Partei zur drittstärksten Kraft zu machen.

Bei FDP, Grünen und Linken dürfte jedoch speziell eine antifaschistische Mobilisierungskraft hinzugekommen sein: Das Ziel war es, die für die AfD vorhergesagten 11 Prozent zu toppen. Zumindest in der Hauptstadt landete die Die Linke als zweitstärkste Kraft mit knapp 20 Prozent kurz hinter der CDU, hieß es in der Nacht beim RBB.

Die kommende Regierung: Mehr Gemeinsames

Ähnliche Effekte dürften im Laufe des Montags aus zahlreichen Wahlkreisen zu vermelden sein. Bei der FDP und Grünen kommt natürlich hinzu, dass die konkrete Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung bestand. Wie immer zieren sich die potentiellen Koalitionspartner in der Wahlnacht reichlich, um den Brautpreis noch etwas hochtreiben zu können. Aber angenommen, die SPD bleibt standhaft bei der Ansage ihres Spitzenpersonals aus der Wahlnacht, dass es keine erneute große Koalition geben wird, bleibt nur eine einzige Variante für die Regierungsbildung: die Jamaika-Koalition.

Grundsätzlich gelten "flotte Dreier" in Deutschlands Politikbetrieb als instabil und riskant. Tatsächlich scheiterte bereits eine schwarz-grün-gelbe Koalition auf Landesebene im Saarland. Hinzu kommt: Die Grünen um Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir haben ebensowenig Regierungserfahrung wie die neue FDP mit Spitzenkandidat Lindner. Während die Grünen immerhin noch Personal aufweisen können, das in der einen oder anderen Landesregierung saß, mussten die Liberalen ihre Team völlig neu aufstellen.

Eine gute Nachricht für die EU zeichnet sich bereits ab: In einer Dreier-Konstellation müsste Wolfgang Schäuble voraussichtlich das Finanzressort abgeben. Der studierte Jurist ("schwäbische Hausfrau") hatte trotz enormen deutschen Exportüberschüssen und starkem Euro in der Vergangenheit jeden Finanzausgleich mit den südeuropäischen EU-Ländern blockiert. Für Krisenstaaten wie Griechenland, Spanien und Italien gilt Schäuble als das personifizierte Hindernis einer wirtschaftspolitischen Annäherung zwischen den größten EU-Staaten.

Auf den zweiten strategischen Ministerposten, den des Außenministers, macht sich zwar die Genscher-Partei Hoffnung, allerdings hat weder Lindner noch sonst irgendjemand aus dem aktuellen Spitzenteam irgendeine biographische Disposition, den diplomatischen Dienst von Europas aktueller Führungsmacht zu leiten. Immerhin verfügt die Partei in der zweiten Reihe über zahlreiche Posten im Auswärtigen Amt. In den vergangenen Wochen hatte Lindner etwa mehr Bewegung im eingefrorenen Verhältnis zu Russland eingefordert.

So sprach sich der Spitzenkandidat der FDP dagegen aus, die Krim-Frage zum Angelpunkt im weiteren Umgang der EU mit Russland zu machen. Man müsse das Thema fürs Erste "einkapseln" und den aktuellen Zustand als "dauerhaftes Provisorium" hinnehmen. Solche Positionen können natürlich eine Wahlkampfstrategie sein, um der AfD auf einem zentralen Feld Wähler abspenstig zu machen. Andererseits hatte bereits FDP-Außenminister Westerwelle einst dem NATO-Mainstream die Gefolgschaft versagt, als es um den internationalen Angriff auf Libyen ging.

An diesem Punkt kann eventuell das Wahlergebnis für eine vernünftige Fügung sorgen. Zwar liefern sich Grüne und Linke noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den Status als kleinste Fraktion. Allerdings werden die Grünen als kleinster Koalitionspartner kaum Anspruch auf das Außenamt erheben können. Damit ist es nach bisherigem Stand unwahrscheinlich, dass das Außenministerium dem hysterischen Menschenrechtsimperialismus von Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir direkt ausgeliefert würde.

In vielen anderen Aspekten dürfte die zentristische Politik der Kanzlerin durchaus kompatibel mit neoliberalen Grünen und Altliberalen sein. Reibungsflächen bietet sicher die Umweltpolitik, wobei sich die Grünen in ihrem Kernbereich durchaus flexibel zeigen. So gilt ihr Ministerpräsident Ministerpräsident Kretschmann in Baden-Württemberg inzwischen als bester Freund der Autoindustrie. Bei Innenpolitik und Bürgerrechten bestanden historisch durchaus Berührungspunkte zwischen der alten FDP und den Grünen. Einig dürfte sich die Jamaika-Koalition hingegen bei sozialen Fragen sein.

Damit bleibt das laut Umfragen dringendste Problem der Deutschen, Armut und soziale Ungleichheit, auf dem Feld der Opposition aus SPD und Linken.