Teotihuacan
Die Zivilisation von Teotihuacan schuf nicht nur eine der ersten Großstädte Mittelamerikas - ihre Stadt war auch von ihrer Struktur her einzigartig, wie ein US-Forscher berichtet. So gab es in Teotihuacan mehrere palastartige Gebäudekomplexe statt eines einzigen Herrschersitzes und die gesamte Stadt folgte einem rechtwinkligen Grundplan.

Weltweit zum ersten Mal gab es in Teotihuacan auch schon "Mietskasernen" - Häuser mit mehreren getrennten Wohnungen.

Vor rund 1.800 Jahren dominierte in Mittelamerika das bis heute rätselhafte Reich von Teotihuacan. Die riesige Hauptstadt war 500 Jahre lang die größte Stadt Amerikas und eine der größten der damaligen Welt: Bis zu 125.000 Menschen lebten dort.

Wie jedoch ihr Alltag aussah, zu welchem Volk sie gehörten, ob sie von einem Gottkönig oder einer Oligarchie regiert wurden und warum diese Hochkultur um 750 zugrundeging, ist bis heute nur in Teilen geklärt.

Bekannt ist aber, dass die riesige Ruinenstadt mit ihren gewaltigen Tempeln sogar die Azteken zum Staunen brachte. Sie verehrten Teotihuacan als Geburtsstätte der Götter und nahmen sie als Vorbild für ihre nur 40 Kilometer entfernt errichtete Hauptstadt Tenochtitlan.

Wie sich nun zeigt, könnte einer der Gründe für die staunende Ehrfurcht der Azteken das für Mittelamerika ungewöhnliche und fortschrittliche Design von Teotihuacan gewesen sein.

Die Städte der Maya, Tolteken und anderer früher Kulturen Mittelamerikas folgten jahrhundertelang einem festen Schema, wie Michael Smith von der Arizona State University berichtet.

Feste Bestandteile waren Tempelpyramiden, mindestens ein königlicher Palast, Ballspielplätze und formelle Plazas, um die sich die wichtigsten Gebäude gruppierten.

Typisch war auch eine klare Trennung zwischen den gegliederten Stadtzentren und den ungeordneten, wild gewachsenen Wohngebieten drumherum. "Diese Merkmale charakterisierten fast alle mittelamerikanischen Städte von der Präklassik bis zur spanischen Eroberung - mit einer Ausnahme: Teotihuacan", sagt Smith.

Bei ihrer Gründung vor gut 2.000 Jahren folgte die Stadt zwar noch diesem typischen Muster - aber nicht lange.

Ab dem Jahr 100 erlebte Teotihuacan eine radikale Umgestaltung: Die schnurgerade durch die gesamte Stadt führende Straße der Toten wurde gebaut und diente als zentrale Achse. Die Sonnen- und Mondpyramide wurden auf ihr riesenhaftes Maß vergrößert und ganze Wohnviertel neu errichtet.

Die gesamte Stadt folgte nun einem strikten, rechtwinklig geordneten Bauplan, der auch die Wohnviertel umfasste - sie ähnelte damit bereits modernen Großstädten.

"Das ist in der Zeit vor Tenochtitlan in Mittelamerika einzigartig", so Smith. "Frühere Gebäude und Strukturen wurden abgerissen und in der gesamten Stadt wurde eine ganz neue Art von Wohngebäuden gebaut."

Diese Mehrfamilienhäuser umfassten mehrere Wohnungen, die von einer gemeinsamen Mauer umgeben waren und nur durch eine "Haustür" betreten wurden. "Diese Apartmentkomplexe waren eine für damalige Zeiten einzigartige Form urbanen Wohnens, nicht nur in Mittelamerika, sondern weltweit", sagt Smith.

Und noch etwas unterscheidet Teotihuacan von den anderen Städten: Es gibt keinen hervorstechenden Königspalast: "In anderen mesoamerikanischen Städten - beispielsweise der Maya oder Azteken - haben Archäologen keine Probleme, den Königspalast eindeutig zu identifizieren", erklärt Smith.

"Anders in Teotihuacan: Hier werden gleich drei verschiedene Gebäudekomplexe als mögliche Paläste diskutiert."

Einige Forscher halten Teile der sogenannte Ciudela für den Königspalast, einen ummauerten Gebäudekomplex rund um den Tempel des Quezalcoatl.

Andere halten einen Gebäudekomplex beiderseits der Straße der Toten für die Residenz des Herrschers und auch der sogenannte Xalla-Komplex zwischen Sonne- und Mondpyramide gilt als Kandidat, wie Smith berichtet.

Warum aber gibt es in Teotihuacan keinen eindeutigen Herrschersitz? Smith und andere Historiker vermuten, dass es mit der Gesellschaftsstruktur dieser Kultur zusammenhängen könnte. "Viele Forscher vermuten, dass die Regierung in Teotihuacan kollektiver und weniger autokratisch war als anderswo", so Smith.

Wenn aber eine kleine Gruppe von Oligarchen die Stadt regierte, dann könnte dies die Abwesenheit eines einzigen, dominierenden Palastes erklären.

Ungewöhnlich auch: In Teotihuacan gab es keine Ballspielplätze und keine von öffentlichen Gebäuden umgebenen zentralen Plazas. Zwar gibt es einen großen Platz vor der Mondpyramide, dieser liegt aber nicht zentral, sondern im Norden der Stadt und ist Teil der Straße der Toten, wie der Forscher erklärt.

Nach Ansicht von Smith ist damit Teotihuacan die große Ausnahme unter den Zivilisationen Mittelamerikas. Die Stadt brach nicht nur mit dem etablierten Schema der vor ihr existierenden Kulturen, sie war auch zu ihrer Zeit und sogar danach noch einzigartig.

Denn als das Reich von Teotihuacan um 750 zerfiel und die Stadt verlassen wurde, hielten die umliegenden Kulturen weiterhin am althergebrachten "Schema F" fest.

Erst 600 Jahre später übernahmen die Azteken einige Innovationen Teotihuacans für ihre Hauptstadt Tenochtitlan. So folgte auch ihre Stadt einem geordneten Raster von rechtwinkligen Straßen und Gebäudeblöcken und ähnelte damit ebenso wie Teotihuacan bereits den Großstädten der heutigen Zeit.