Massenproteste halten die Welt in Atem: Fast zeitgleich gehen Millionen Menschen in Süd-Amerika, im Nahen- und Fernen Osten, in Afrika, aber auch in Europa auf die Straße. Die Anzahl der Proteste und die Menschenmassen überraschen. Steht hier eine "Zeitenwende" bevor oder ist es alles nur ein subjektiver Eindruck?
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© Sputnik / Jordy Boixareu
Bolivien, Chile, Irak, Katalonien, Ägypten, Hongkong, Russland oder Fridays For Future - derzeit scheint es so viele Massenproteste zu geben, wie schon lange nicht mehr. Ist es ein Zufall, dass fast zur gleichen Zeit Millionen Menschen auf die Straße gehen? Und gibt es Gemeinsamkeiten und übergeordnete Gründe? Oder ist das alles doch nur ein subjektives Gefühl?

Parallelen in all den Bewegungen sieht der Historiker und Nahost-Experte Fritz Edlinger: "Das momentan vorherrschende Weltsystem steht an einer Zeitenwende. Das ist ja kein Zufall, dass in Wirklichkeit auch im Westen, im Süden und im Nahen Osten die Jugend auf die Straßen geht. Sie merken, dass ihr vorherrschendes sozial-ökonomisches System nicht mehr das bringt, was man erwartet." Der Neoliberalismus sei in die Jahre gekommen und könne bestimmten Anforderungen an staatliche Leistungen, an Fortschritt nicht mehr standhalten, so Edlinger. Auch in Europa sei das Bekenntnis zu Demokratie, zu Menschenrechten und zu Partizipation im Abnehmen. "Das heißt, sie haben weltweit dieselbe Doppelmühle, die sie auch in den Nahost-Staaten haben. Die Wirtschaft und die soziale Struktur klappt nicht mehr, weil der Neoliberalismus das auch nicht vorhat", sagt der Generalsekretär der Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen und Herausgeber der Zeitschrift International im Sputnik-Interview.

Er warnt davor, dass eine der Antworten darauf eine "antidemokratische" sei. "Hatten wir ja schon einmal vor einem Jahrhundert. Allerdings damals nur in Europa. Es hat aber schon einmal dazu geführt, dass das kollabierende kapitalistische Wirtschaftssystem zu Faschismus geführt hat."

"Tod des Neoliberalismus"?

Ähnlich beschreibt es der österreichische Sozialanthropologe und Lateinamerika-Experte, Leo Gabriel. Er zitiert den mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO), der im März den "offiziellen Tod des Neoliberalismus" bescheinigt hatte. "Ich würde es nicht so optimistisch sehen, aber etwas ist schon dran. Das Zeitalter des Aufbruchs des Neoliberalismus geht spürbar zu Ende." Gabriel beobachte "konjunkturelles Abflauen der Wirtschaft", das bald auch Europa treffen könnte. Vor allem rechte Regierungen hätten hier keine Alternativen anzubieten. Das sehe man in Chile und Argentinien, aber auch an den Beliebtheitswerten des rechtskonservativen brasilianischen Staatchefs Jair Bolsonaro, die bei gerade mal 15 Prozent liegen sollen.

Doch dieser Unmut richte sich auch gegen die Regierungen, die sich traditionellerweise als linke Regierungen bezeichnen, wie in Nicaragua, Bolivien oder Venezuela, erklärt Gabriel. "Eben, weil sie den Fehler begangen haben, dass sie keine, nicht ansatzweise Systemveränderungen angepeilt haben, sondern sich auch dieser Instrumente bedient haben." Als "tieferliegenden Hintergrund" für die Unzufriedenheit in den Ländern nennt der Forscher den Neo-Extraktivismus (Anm. d. Red.: Eine auf Rohstoff-Export und häufig auf Raubbau begründete Nationalökonomie): Viele lateinamerikanische Staaten hätten auf ihre Rohstoffe gesetzt, um "aus der Patsche" herauszukommen.

Ein "Gefühl", was die Proteste eint?

Es sei "eher fraglich", ob es global mehr Proteste gebe, als in den letzten Jahren, erklärte gegenüber der Onlineredaktion "Jetzt" der Protestforscher Jannis Grimm. Am Berliner "Institut für Protest- und Bewegungsforschung" (IPB) ist er für den arabischen Raum zuständig ist. Seiner Ansicht nach gibt es zurzeit "definitiv deutlich mehr Aufmerksamkeit für Proteste" in den Medien.

"Wenn man eine Gemeinsamkeit zwischen den Protesten finden will, ist es ein Gefühl. Es findet sich ​leider bei rechten Protesten in Deutschland genauso wieder wie im Irak, im Libanon, in den USA und in Indonesien. Das Gefühl, d​as politische System ist nicht mehr in der Lage, unsere Bedürfnisse wirksam zu erfüllen - das ist ein neuer Tenor", so der Forscher.

"Zweite Chance"

Den politischen Entscheidungsträgern in Europa rät er im Hinblick auf die arabischen Proteste, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen: "Etwa, dass Generäle keine verlässlichen Partner für demokratische Transitionen abgeben; dass Aktivistinnen und Aktivisten zur leichten Beute für Sicherheitsdienste werden, sobald der Schutz von Massenprotesten wegfällt; dass neoliberale Strukturanpassungsreformen die sozialen Krisen in der Region nur verschärfen; und dass aus Protest-Repressionsdynamiken rasend schnell gewaltsame Konflikte in Europas Nachbarschaft erwachsen können, die auch für die europäischen Gesellschaften irreversible Folgen haben".

"Ob zweiter Frühling oder nicht" - die aktuellen Mobilisierungsmomente würden Europa eine "zweite Chance" bieten, "um entschlossen sozio-ökonomische und politische Teilhabe zu unterstützen, wo man 2011 zu zaghaft war, um dort genauer hinzusehen, wo man sich 2012 und 2013 allzu leicht auf die Demokratieversprechen geläuterter Monarchen oder militärgestützter Übergangsregierungen verließ und um mit finanzieller und technischer Unterstützung zur Seite zu stehen, wo Machthaber echte Bereitschaft zeigen, den Gesellschaftsvertrag mit ihrer Bevölkerung grundlegend neu zu verhandeln". Diese "historische Chance" dürfe sich Europa nicht entgehen lassen, fordert der junge Wissenschaftler in einem "IPG"-Beitrag.