Die ersten Schutzsuchenden haben sich bereits auf den Weg gemacht, um die überraschende Grenzöffnung in die EU auszunutzen. Die türkische Regierung hatte nach dem verheerenden Luftangriff auf ihre Truppen in Syrien am Donnerstagabend entschieden, für 72 Stunden die Grenzen zu öffnen.
flüchtlinge griechenland
© AFP/Aris MessinisDie ersten Migranten landeten am Freitag auf der griechischen Insel Lesbos, nachdem die Türkei ihre Grenzen nach dem verheerenden Luftschlag auf ihre Truppen am Donnerstagabend geöffnet hatte.
Der größte Albtraum für die Europäische Union wäre eine erneute Flüchtlingswelle wie im Herbst 2015, als hunderttausende Menschen sich ihren Weg über den Balkan nach Zentraleuropa bahnten. Auch nach über vier Jahren sind die Auswirkungen spürbar, die die EU durch die alleinige Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihren Grundmauern erschüttert und Kräfte freigelassen hatte, die man nicht mehr zurückdrängen kann.

Niemand möchte solche Bilder wieder sehen. Aus diesem Grund wurde auch die sogenannte Balkanroute dicht gemacht. Diejenigen, die es trotzdem geschafft haben, stecken spätestens an der Grenze zu Kroatien fest. Nicht umsonst hatte Merkel bei ihrem Besuch im vergangenen Jahr in Zagreb gesagt, dass das kleine Balkanland die EU-Außengrenze "schützen soll", obwohl diese Grenze eigentlich einige hundert Kilometer weiter südlich zwischen Griechenland und der Türkei verläuft.

Deshalb schaut man in Berlin oder Brüssel auch weg, was sich für ein menschenunwürdiges Schauspiel auf den griechischen Inseln abspielt. Der Türkei hat man mit sechs Milliarden Euro ein schmackhaftes Angebot gemacht, diejenigen Menschen wieder zurückzunehmen, deren Asylantrag in Griechenland abgelehnt wurde. Zudem sollten die Grenzen auf dem Festland und auf dem Meer besser kontrolliert und abgesichert werden.

Das alles wurde nun vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ausgehebelt. Wenigstens für 72 Stunden. Polizei, Grenzbeamte und Küstenwache erhielten den Befehl, die türkischen Grenzen in Richtung EU zu öffnen und sich Ausreisewilligen nicht in den Weg zu stellen. Insgesamt beherbergt das Land nach UN-Angaben fast 4,1 Millionen Flüchtlinge und Migranten, von denen ein beträchtlicher Teil gerne weiter nach Europa und in die EU ziehen würde.

Der Auslöser für diese Entscheidung war ein Luftangriff auf einen völkerrechtswidrigen türkischen Kommandostab in der syrischen Provinz Idlib am Donnerstagabend, bei dem dutzende türkische Soldaten ums Leben kamen. Ömer Çelik, Sprecher der Regierungspartei AKP und ehemaliger türkischer EU-Minister, sagte daraufhin:
Wir rufen die NATO auf, mit den Konsultation zu beginnen. Das ist nicht nur ein Angriff auf die Türkei, es ist ein Angriff auf die internationale Gemeinschaft. Eine gemeinsame Reaktion ist gefordert. Der Angriff war auch (einer) gegen die NATO.
Für Freitag wurde eine NATO-Dringlichkeitssitzung einberufen, in der man sich zur Situation der Türkei in Idlib befassen will. Normalerweise ist der Fall ganz klar und wurde vor Kurzem auch so benannt: Die türkischen Truppen befinden sich illegal in Syrien, sind also Aggressoren und auf dieser Basis steht Ankara für ihre Handlungen allein ein. Mehr als politische und rhetorische Rückendeckung könne die Türkei nicht erwarten, hieß es.


Kommentar: Erdogan geht ein gewagtes Spiel ein und legt sich hiermit auch gleichzeitig mit Russland an. Er möchte einen Freifahrtschein für sein illegales Verhalten.


Die zeitlich auf 72 Stunden limitierte Grenzöffnung dient nur einem Zweck: Erdoğan erhofft sich dadurch maximale Unterstützung von jenen EU-Ländern, die am meisten von einer erneuten Flüchtlingswelle betroffen wären. Zusätzlich spielt ihm dabei die gegenwärtige Krise um den Corona-Ausbruch in die Hände, da niemand weiß, ob und wie viele der Migranten mit dem Virus infiziert sind.

Es werden natürlich viele Migranten diese Gelegenheit nutzen, vielleicht sogar Hunderte. Aber in der Kürze der Zeit wird es keine breite Flüchtlingswelle geben. Viele Menschen haben logistisch gar nicht die Möglichkeit, in dieser kurzen Zeit die ganze Türkei zu durchqueren, um es bis zur EU-Außengrenze zu schaffen. Das ist auch nicht das Ziel des türkischen Präsidenten. Er will die EU - und die NATO - daran erinnern, dass er in dieser Frage am längeren Hebel sitzt und sich die EU-Länder besser überlegen sollen, wie sie ihm aus der selbst gestellten Falle in Syrien helfen können. Andernfalls könnten die Grenzen länger als nur für 72 Stunden geöffnet bleiben.