psychopathen, 6%, sott flyer
© sott.netPsychopathen regieren unsere Welt. Sechs Prozent der Weltbevölkerung sind genetisch geborene Psychopathen. Wissen sie, was das für den Rest von uns bedeutet?
Unter der Überschrift "Das Buch des Wahnsinns" berichtete die Süddeutsche Zeitung vom 9./10. Juli 2011 über die neue Ausgabe des Diagnosemanuals DSM - eine gängige Abkürzung für Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Dieses Diagnose-Handbuch existiert seit 1952 und wird von der American Psychiatric Association herausgegeben. Es will und soll weltweit die Kriterien dafür festlegen, wann ein Mensch im psychiatrischen Sinn für gestört zu erklären ist. 2013 soll die nächste, die fünfte Fassung erscheinen, und es wird schon im Vorfeld heftig über sie diskutiert.

Das Diagnosemanual stellt den Versuch dar, einen gewissermaßen sachlichen, rein symptomorientierten Zugang zum psychischen Geschehen zu schaffen und ihn allgemein verbindlich durchzusetzen. Man möchte sicher gehen, dass man überall dasselbe meint, wenn man „Depression“ oder „Schizophrenie“ diagnostiziert. Die neue Version will unter den Persönlichkeitsstörungen aufräumen und „ausmisten“, denn von den elf bislang aufgelisteten werden nur zwei regelmäßig diagnostiziert: die „Borderline“- und die „antisoziale Persönlichkeitsstörung“. Welche Kränkung für die Narzissten: Es gibt sie gar nicht, oder demnächst nicht mehr, jedenfalls nicht in ihrer Reinform! Soweit der Artikel aus der Süddeutschen Zeitung.

Der DSM ist so etwas wie diagnostisches Weltgeld. Was der Dollar für Weltwirtschaft ist - oder sollte man heute besser sagen: war - ist der DSM für die Psychiatrie. Er versucht, weltweit die Deutungshoheit der amerikanisch-westlichen Psychiatrie über die menschlichen „Abweichungen“ und „psychischen Störungen“ zu etablieren. Der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wohnt von Anbeginn eine Tendenz zur Homogenisierung inne: Im Interesse eines beschleunigten und möglichst reibungslosen Waren- und Geldverkehrs werden Münzen, Maße und Gewichte, Raum und Zeit, Sprachen und Identitäten vereinheitlicht, regionale oder lokale Unterschiede eingeebnet. Die seit der Aufklärung im Interesse der Naturbeherrschung betriebene Vermessung und Mathematisierung der äußeren Welt wird in der Spätphase der bürgerlichen Entwicklung auch auf die innere Welt ausgedehnt, dringt bis in die intimen Binnenwelten vor und presst noch die Affekt- und Gefühlslagen der Menschen in amerikanisch-westliche Schablonen. „Die bürgerliche Gesellschaft“, heißt es in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno, „ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert. Der Aufklärung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht aufgeht.“ Der DSM betreibt das Geschäft der Vereinheitlichung auf dem Weltmarkt der Psychiatrie. Er begräbt andere kulturelle Deutungsmuster menschlichen Verhaltens und Leidens unter sich, diskreditiert psychodynamische, verstehende Zugänge zu seelischen Prozessen als unwissenschaftlich und zielt darauf ab, ein an der Symptombekämpfung orientierte Behandlung durchzusetzen. Eine solche Behandlung führt fast zwangsläufig zum Einsatz entsprechender Medikamente gegen das jeweilige Symptom und fördert damit vor allem einen therapeutischen Ansatz, wie ihn die Pharmaindustrie favorisiert.

Dass die „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ aus dem Verkehr gezogen werden soll, könnte man auch so interpretieren, dass die ihr von den gängigen Diagnosemanualen zugeordneten Symptome Teil unserer Normalität geworden sind und deshalb nicht länger als Krankheitszeichen gelten. Es sind dies: Die Überzeugung, grandios und wichtig zu sein; Träume von grenzenlosem Erfolg; der Glaube an die eigene Einzigartigkeit; Abhängigkeit von Bewunderung anderer; Funktionalisierung von zwischenmenschlichen Beziehungen für eigene Zwecke bzw. ein ausbeuterisches Verhältnis zu anderen; ein Mangel an Empathie; arrogante, hochmütige Verhaltensweisen; Neid auf andere; eine gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber Kritik und taxierenden Blicken anderer.

Ist das nicht eine ziemlich präzise Beschreibung des in westlichen Gesellschaften heute vorherrschenden Menschentyps?

Es gibt eine kollektive Basisstörung, die innerhalb einer Gesellschaft keinen Krankheitswert besitzt, sondern den ihr gemäßen Sozialcharakter ausmacht. Jeder gesellschaftlichen Entwicklungsstufe entspricht ein dominanter Sozialcharakter. Auf seiner Basis ist die Identitätsstruktur der Menschen mit der Realitätsstruktur der sie umgebenden Gesellschaft leidlich synchronisiert. So passte der von Heinrich Mann beschriebene „Untertan“ mit seiner reflexartigen Unterwerfungsbereitschaft, seinen zwanghaften und anal-retentiv gefärbten Eigenschaften und Haltungen des Sparens und Bewahrens bestens in eine geschichtliche Phase, da der Kapitalismus in Deutschland im Gehäuse eines noch halbfeudalen Obrigkeitsstaates seinen Aufschwung nahm. In gewissen randständigen Zonen und künstlerischen Subkulturen kündigt sich jeweils die nächste Entwicklungsstufe an, deren Merkmale zunächst stigmatisiert und als Zeichen von Degeneration oder Krankheit gewertet werden. So ging es den dadaistischen und surrealistischen Subkulturen und den Lebensformen der Dandys und Bohemiens, die gewisse narzisstische Züge kultivierten und in mancherlei Hinsicht den konsumistischen Hedonismus antizipierten. Der Bürger sah in den Bohemiens und Künstlern „eitle Gecken“ und dekadenten „Abschaum“, den er am liebsten ausgemerzt hätte und dann auch ausgemerzt hat. In den berühmten zwanziger Jahren begann sich der psychohistorische Übergang ins Zeitalter des Narzissmus schon am Horizont abzuzeichnen. Der Faschismus leitete dann eine kollektive Regression zugunsten des herkömmlichen Sozialcharakters und seinen Vorstellungen von Ordnung und Reinheit ein und begrub fürs Erste alternative Entwicklungen unter sich. Es dauerte einige Jahrzehnte, bis die Tendenzen der 1920er Jahre als Reimport aus den USA sich wieder manifestierten.

Im Zuge des beschrieben Übergangs zum konsumistischen Zeitalter lösen sich die Merkmale der Boheme aus ihrer subkulturellen Einkapselung und vermassen sich tendenziell. Ein Gutteil der Dynamik der 68er Revolte stammt aus der Reibung zwischen zwei verschiedenen Formen des Sozialcharakters oder „Psychoklassen“, wie es bei Lloyd deMause heißt, und die Revolte erschließt sich uns im Rückblick auch als Teil der Durchsetzungsgeschichte einer neuen Stufe der kapitalistischen Entwicklung. Hegelianisch könnte man sagen: Der Geist des Kapitalismus hat sich seiner Widersacher bedient, um zu sich selbst zu kommen und in seiner Erscheinungsweise seinem Begriff adäquat zu werden. Leute wie Rainer Langhans haben durch ihre provokanten Auftritte viel dazu beigetragen, die versteinerten bundesrepublikanischen Nachkriegsverhältnisse zum Tanzen zu bringen. Letztlich hat sich aber die hedonistische, wenn man so will: narzisstische Fraktion der Revolte, die sich immer schon mehr für ihre Orgasmusschwierigkeiten als den Krieg in Vietnam interessierte, als Faktor der Modernisierung erwiesen. So entbehrt es nicht einer gewissen Logik, dass man Langhans heute im Dschungelcamp von RTL begegnet. „Spaß haben zu wollen“ und hippiemäßig auszusehen war nur solange rebellisch, wie die Umgebung der Bundesrepublik postfaschistisch, spießig und zwanghaft organisiert war und lange Haare einen Vernichtungsimpuls bei den Bürgern und Kleinbürgern hervorkitzelten. Leider hat Adorno mit seiner kritischen Haltung der antiautoritären Revolte gegenüber letztlich Recht behalten. In seinem Anfang der 1950er Jahre erschienenen Buch Minima Moralia hatte er bereits ein Erschrecken festgehalten, der nun auch uns betrifft: „Mit Schrecken muss man einsehen, dass man oft früher schon, wenn man den Eltern opponierte, weil sie die Welt vertraten, insgeheim das Sprachrohr der schlechteren Welt gegen die schlechte war.“

Die psychische und kulturelle Entwicklung besitzt eine andere Zeitstruktur und hinkt hinter den ökonomisch-technischen Veränderungen her. Mitunter bedarf es einer militanten Revolte, um anachronistisch verfasste gesellschaftliche Subsysteme zu reformieren und auf die Höhe der Zeit zu bringen.

Unter unseren Augen spielt sich die Zersetzung des traditionellen, innengeleiteten Subjekts und der Übergang zum „flexiblen Menschen“ ab, der den gewandelten Imperativen einer neuen Phase der kapitalistischen Entwicklung entspricht. Seine Eigenschaften lesen sich wie der Symptomkatalog der alten narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die deswegen konsequent aus dem Verkehr gezogen wird. Teile ihrer Symptomatik, die auch mit der gewandelten Normalität nicht kompatibel sind, wandern in andere Störungsbilder ab: Der Narzissmus ist salonfähig geworden, aber bitte nicht in seinen malignen Formen oder auf Boderline-Niveau!

Schon zeichnen sich am psycho-historischen Horizont neue Verschiebungen ab. Die hinter uns liegenden, von der Praxis des Neoliberalismus geprägten eisigen Jahre haben die Menschen selbst eisig werden lassen und ihre Innenwelt in eine Gletscherlandschaft eingefrorener Gefühle verwandelt. Sie können gar nicht anders, als diese Kälte weiterzugeben und auf ihre Umgebung abzustrahlen. Es macht einen nicht zu unterschätzenden Unterschied, ob man in einer Gesellschaft aufwächst und lebt, in der schwachen und nicht oder weniger leistungsfähigen Mitmenschen solidarisch beigesprungen und unter die Arme gegriffen wird, oder in einer, in der sie der Verelendung preisgegeben und als sogenannte Loser zu Objekten von Hohn und Spott werden. Friedrich Hebbel war Zeuge großer gesellschaftlicher Umbrüche, erlebte als Zeitgenosse die Transformation einer traditionalen Gemeinschaft in eine kapitalistische Gesellschaft und die Durchsetzung von Geld- und Tauschverhältnissen. Er hat den Schrecken darüber, dass sich ein kalter Hauch der Entfremdung über Menschen und Dinge legte, in seinen Dramen und Tagebüchern festgehalten. Deswegen konnte er 1844 einen Satz in sein Tagebuch eintragen, der genauso gut von heute stammen könnte: „Die negative Tugend: der Gefrierpunkt des Ich.“

Dass „du Opfer“ und „Hey, du Spast“ zu den gängigen Beleidigungen zählen, mit denen heutige Jugendliche sich untereinander belegen, wirft ein schlagendes Licht auf die Perversion im Menschenbild, die in den letzten Jahren im Zeichen eines Kults des Winners um sich gegriffen hat, wie ihn zum Beispiel Sportler betreiben, die nach gewonnenen Spielen oder Meisterschaften vor laufenden Kameras lauthals singen: „So seh'n Sieger aus - schalalalala“. Die Torhüterin der amerikanischen Frauenfußball-Nationalmannschaft, Hope Solo, die auch, weil sie aussieht wie ein Daily-Soap-Klon, diesen Winner-Kult verkörpert, sagte in einem Interview vor dem Endspiel der letzten Weltmeisterschaft: „Wir wissen, dass wir gewinnen werden. Das ist unsere Mentalität.“ Dass sie sich getäuscht hat, ist ein kleiner Trost.

Die vom Markt propagierten und für ein erfolgreiches Agieren auf dem ökonomischen Parkett erforderlichen Eigenschaften und Haltungen sind inzwischen bis in die Poren des Alltagslebens vorgedrungen und haben seine Verrohung vorangetrieben. Eine blinde Frau durchquert den Park vor meiner Haustür. Ihr Blindenhund geht, nicht angeleint, neben ihr. Ein paar Halbwüchsige, die auf Bänken sitzen, rauchen und Bier trinken, locken den Hund zu sich und halten ihn fest. Die blinde Frau vermisst irgendwann ihren Hund und beginnt nach ihm zu rufen. Sie bleibt stehen und ruft immer lauter nach ihm. Schließlich gerät sie in Panik und schreit den Namen des Hundes. Jetzt erst lassen die Jugendlichen den Hund laufen und zu seiner Besitzerin zurückkehren. Sie weiden sich an der Hilflosigkeit und Angst der Frau und lachen sich halbtot über ihre niederträchtige Aktion. Im selben Park sitzen ein paar Tage später Teenie-Mädchen auf einer Bank. Eine berichtet, sie habe ihre Oma besucht und 15 Euro von ihr bekommen. „Dafür musste ich mir eine Stunde ihr Geflenne anhören!“, sagte sie empört, so als sei das kein angemessener Stundenlohn für den Besuch einer Enkelin bei ihrer Großmutter.

In der Stadt werde ich Zeuge eines Dialogs zwischen 12/13-jährigen Jungen: „Ey Olly, deine Mutter ist in Preungesheim!“ In diesem Frankfurter Stadtteil befindet sich das Hessische Frauengefängnis. Der Beleidigte brüllt zurück: „Halt die Fresse, du Arschloch, sonst fick ich deine Mutter.“

Eine allumfassende Rücksichtslosigkeit, ein zur Egomanie gesteigerter Individualismus, Zynismus, Gleichgültigkeit und Feindseligkeit prägen den zwischenmenschlichen Umgang. So geht das „Zeitalter des Narzissmus“ bereits mit der nächsten psycho-historischen Entwicklungsstufe schwanger. Das Innenleben des allseits kompatiblen und fungiblen Menschen, den Markt, Wirtschaft und Pädagogik propagieren, weist eine große Ähnlichkeit mit dem eines Menschentypus’ auf, den wir heute noch als „Psychopathen“ stigmatisieren und den Gefängnissen und forensischen Psychiatrien überantworten. Wenn hier vom „Psychopath“ die Rede ist, ist nicht die umgangssprachliche Bedeutung gemeint, die darunter einen „durchgeknallten, unberechenbar-brutalen Typ“ versteht, sondern eine psychiatrische Diagnose, die in jüngerer Zeit von den amerikanisch-kanadischen Psychiatern Cleckley und Hare formuliert wurde. Die Diagnosemanuale beschreiben den „Psychopath“ als zur Einfühlung in andere unfähig, oberflächlich charmant, anpassungsfähig, zynisch-kalt, bindungs- und skrupellos und ausschließlich an privater Nutzenmaximierung interessiert. Das sind genau die Eigenschaften, die die Hasardeure und Gurus der New Economy und der Finanzwelt aufweisen, die uns an den Rand des Abgrunds manövriert haben und weiter manövrieren.

Vor einigen Jahren haben Paul Babiak und Robert Hare unter dem Titel Menschenschinder oder Manager (München 2007) ein Buch herausgebracht, in dem sie die Unternehmen und die Finanzwelt vor dem Vordringen von „Psychopathen“ in Führungspositionen warnten, weil ihre Skrupellosigkeit und grenzenlose Risikofreude ihnen langfristig großen Schaden zufügen würden. Eine Psychologie, die ihre Erkenntnisse ans Business verschachern will, muss die Systemfehler beim einzelnen Mitarbeiter suchen und nicht bei den Strukturvorgaben einer kapitalistischen Wirtschaft. Die akademische Psychologie ist auf dem gesellschaftlichen Auge blind und versucht deshalb, wie Peter Brückner bemerkte, „den Stand der Gestirne bei bereichsweise bedecktem Himmel zu bestimmen“. Sie kann nicht erkennen, dass die beklagten Phänomene eine Begleiterscheinung des neuen kapitalistischen Zeitalters darstellen, das sich im Abschied von der traditionellen „stakeholder value“- zugunsten der „shareholder value“-Orientierung Ende der 90er Jahre ankündigte. Die entfesselt und hemmungslos, also, wenn man so will, „psychopathisch“ gewordene Geldwelt zieht wie ein Magnet „psychopathische“ Menschen an und produziert sie. Die Qualifikationen für eine Psychopathen-Karriere erwirbt man im Schoß von Familien, die einen Zweckverbund von Warencharakteren und Geldsubjekten darstellen, und in der virtuellen Welt der Computerspiele. Exzessives Spielen - von im Kern „dissozialen“ Computerspielen - trägt dazu bei, „funktionale Psychopathen“ zu erzeugen und qualifiziert den Nachwuchs für ein Leben in der kapitalistischen Welt von heute und morgen. Unter unseren Augen bildet sich ein neues Kindheitsmuster aus, das man als Geräte-Sozialisation bezeichnen kann. In einer Form von postmoderner Kindsaussetzung werden die Kinder zeitig vor elektronische Apparate und technische Geräte gesetzt, die ihre Sozialisierung übernehmen. Auch heutige Eltern wollen, dass ihre Kinder „brav“ sind und funktionieren, aber sie sind nicht bereit, durch persönlichen Einsatz von Nerven und Lebenszeit dazu beizutragen. Sie überlassen die anstrengende Erziehungsarbeit den Lehrern und vertrauen auf den großen „Bravmacher“ Ritalin. Diese psychoaktive Substanz - der im Ritalin enthaltene Wirkstoff Methylphenidat gehört zu den Amphetaminen - wird einer ständig wachsenden Zahl von Kindern beinahe wie ein Nahrungsergänzungsmittel täglich verabreicht. Mit Ritalin und anderen Psychopharmaka werden Kinder fit gemacht für die Konkurrenz, der sie früh ausgesetzt sind und in die sie sich einüben sollen. Der alles beherrschende und von allen vergötterte Markt wirft seine Schatten voraus und so ist das Klima in unseren Schulen gekennzeichnet durch Leistungsdruck, Vereinsamung, Mobbing und Feindseligkeit untereinander. Es steht zu fürchten, dass sozialdarwinistische Leistungskonkurrenz, Bindungslosigkeit, Kälte und Indifferenz sich im Inneren der Kinder als psychische Frigidität, Empathie- und Gewissenlosigkeit reproduzieren werden. Der Narzisst mag heute noch tonangebend sein, die Zukunft gehört dem Psychopathen.


Kommentar: Leider ist der Psychopath schon lange tonangebend, wenn man zum Beispiel die letzten Jahrzehnte der Menschheit betrachtet. Doch Lobaczewski führt das in seinem Buch Politische Ponerologie genauer aus.

link
© SOTTPolitische Ponerologie: Eine Wissenschaft über das Wesen des Bösen und ihre Anwendung für politische Zwecke

Wenn ich hier etwas pointiert sage: „Die Psychopathen kommen“, sind eben gerade nicht jene „kriminellen Monster“ gemeint, auf die die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in einem reißerischen Artikel vom 10. Juli 2011 Bezug nimmt. Fast alle monströsen Verbrecher des 20. Jahrhunderts von Heinrich Pommerenke, über Jürgen Bartsch, Erwin Hagedorn, Ronny Riecken, Rolf Diesterweg bis Frank Gust werden aufgeboten, um ein Bild vom „Psychopathen“ zu zeichnen, das nicht aufklärt, sondern Angst und Schrecken verbreiten soll. Die hier genannten Täter sind eben gerade keine „Psychopathen“ sensu Hare und Cleckley, sondern „sexuelle Sadisten“, die in der Realität glücklicherweise äußerst selten auftreten. Die „Tierzähmung des Menschen“ (Nietzsche) ist ein äußerst kompliziertes und störanfälliges Unternehmen, das gelegentlich scheitert und dann unter anderem solche Perversionen und andere Triebanomalien hervorbringen kann. Was die FAZ und andere Medien betreiben, ist ein großes Ablenkungsmanöver, das dem Handwerk der Zauberer entlehnt ist. Deren Grundprinzip besteht darin, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken als auf das, was sie gerade tun. Das soll in unserem Fall heißen: Man lenkt die Aufmerksamkeit auf Hannibal Lecter-artige Verbrecher, in deren Aufmerksamkeits-Schatten die Psychopathen in Nadelstreifen und Schlipsen in Ruhe ihrem sozial absolut schädlichen Treiben nachgehen können. Es wird mehr oder weniger bewusst eine soziale Dunkelangst und Verbrechensfurcht erzeugt, die von viel verbreiteteren sozialen Ängsten und Nöten und größeren Verbrechen ablenkt. Wer bilanziert eigentlich das Leiden, das Banker und Spekulanten über die Menschheit bringen? In welcher Statistik tauchen die Selbstmorde, psychosomatischen Krankheiten und die Verzweiflung auf, die die Finanz-Psychopathen zu verantworten haben?

Die von mannigfachen Erfahrungs-, Kompetenz- und Kontrollverlusten bedrohten Menschen rufen unter dem Einfluss medialer Dauermanipulation „Haltet den Dieb!“, und lassen den eigentlichen Dieb entkommen. Ihre Rache- und Vergeltungsbedürfnisse konzentrieren sich auf den Verbrecher, in dessen Verfolgung, Festnahme und Bestrafung der Staat eine Handlungsfähigkeit demonstriert, die ihm ansonsten in immer mehr politischen und ökonomischen Feldern entgleitet.

Die Nachricht über den Sexualmord an einem Mädchen und die medial groß in Szene gesetzte Fahndung nach dem Täter eint die ganze Nation auf einer affektiven Ebene wie sonst nichts mehr. Individuen und Gesellschaft verschmelzen im fieberhaften Empfinden einer Bedrohung zu einem einzigen großen Fahndungskollektiv, zur Hetzmeute. Der kathartischen Funktion traditioneller Opferrituale, die einst die aggressiven Impulse austrieben und die Eintracht und das Gleichgewicht der Gemeinschaft wiederherstellten, muss man die angsterzeugende Funktion unserer heutigen Fahndungsrituale entgegenstellen, die den Status quo dramatisch aufladen und das Leben der Menschen in die erregende Nähe eines Kataklysmus rücken. Irgendwo „da draußen“ liegt ein Monster auf der Lauer, alle Beteiligten spielen in einem schlechten Film mit, der zugleich Krimi, Western und Horrorschinken ist. Nach zu satanischen Ungeheuern stilisierten Kriminellen wie Zurwehme, Schmökel und anderen wird nicht mit einem derartigen Aufwand an Menschen, Geld und Medienpräsenz gefahndet, weil sie eine tatsächliche Bedrohung unserer Ordnung darstellen. Eine von Desintegration und dem Schwund von Solidarität heimgesuchte Gesellschaft stilisiert sie erst zu Rittern der Apokalypse, um den leeren Raum zu füllen, den der Verlust des Feindes - der früher stabil und verlässlich vom Ostblock und dem sogenannten Kommunismus gestellt wurde - hinterlassen hat, und in ihrer Bekämpfung und Dingfestmachung ein trügerisches Gefühl von Sicherheit und Homogenität zu erzeugen. „Nur hochgradig aufgeheizte, hysteroide und paniknahe Spannungszustände“, schreibt Peter Sloterdijk, „vermögen einen zerspaltenen, verängstigten und vielfältig differenzierten Volkskörper in ein in gemeinsamen Themen und Sorgen vibrierendes Schein-Ganzes zu verwandeln.“

Sicher sind nur die Katastrophen, auf die wir sehenden Auges zusteuern. Alles andere hängt vom verändernden Eingriff der Menschen ab. Bei der Verwirklichung der in der gegenwärtigen Gesellschaft immer noch angelegten besseren Möglichkeiten können wir uns weder auf eine der Geschichte innewohnende Tendenz, noch auf ein kollektives Subjekt verlassen, das sie realisieren wird. Wir, die heute lebenden Menschen, sind es, die den Wahnsinn der rasenden Ökonomie und der losgelassenen Märkte stoppen und die Kontrolle über die Ökonomie zurückgewinnen müssen. Eine von der Tyrannei der Ökonomie befreite Gesellschaft hätte ihr Hauptaugenmerk auf die Erfindung und Schaffung neuer verlässlicher Räume zu richten, in denen es Kindern möglich ist, unter Bedingungen raum-zeitlicher Konstanz und leiblicher Anwesenheit von Erziehungspersonen ihre psychische Geburt zu vollenden und sich zu Menschen in einer menschlichen Gesellschaft zu entwickeln. Eine Gesellschaft, die ihre soziale Integration und den zwischenmenschlichen Verkehr auf Formen solidarischer Kooperation gründet, statt auf einer letztlich a-sozialen Vergesellschaftung durch Markt und Geld, wird auch andere psychische Strukturen und andere Formen der Vermittlung von Psychischem und Gesellschaftlichem hervorbringen, für die uns Heutigen die Begriffe fehlen. Allenfalls wird man sagen können, dass der individuelle Selbstwert einen ausgeprägteren Bezug zur Gemeinschaft aufweisen würde, in der der Einzelne in echter Solidarität aufgehoben wäre. Oder mit den Worten aus dem Kommunistischen Manifest: Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Die Erzeugung des Menschlichen wäre der Hauptproduktionsgegenstand einer „Ökonomie des Glücks“ (Bourdieu), die es den Menschen gestattete, sich zu entfalten, ihre noch nicht gelebten, von der Klassengesellschaft an der Entfaltung gehinderten Möglichkeiten zu entdecken und hervorzubringen. Besinnen wir uns auf die Warnungen der Kritischen Theorie, den befreiten Zustand allzu genau auszumalen, und formulieren zum Schluss eher ex negativo: Der durch nichts beschränkte, an nichts gebundene, keiner Tradition verpflichtete, rücksichtslos und wendig seiner individuellen Nutzenmaximierung und der Kurssteigerung seiner Selbstwert-Aktien nachjagende „flexible Mensch“ wird sicher nicht das Ideal einer befreiten Menschheit sein.

PK

Dr. Götz Eisenberg ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist und schreibt seit den frühen 70er Jahren theoretische Texte und Essays, die in der Tradition der Kritischen Theorie (Frankfurter Schule) und des antiautoritären Denkens der Neuen Linken stehen.