Das in der Natur übliche Verfahren, arteigene Erbanlagen neu zu kombinieren, nennt man Sexualität. Diese hat den Vorteil, dass in jeder Generation genetisch variable Individuen entstehen, die sich an Umweltbelastungen und Umweltveränderungen in der Regel besser anpassen können als genetisch gleichförmige Individuen, die durch ungeschlechtliche Fortpflanzung erzeugt werden.

Obwohl auch Bakterien letztere Methode praktizieren, besitzen sie zudem die Fähigkeit, überlebenswichtige Gene, etwa solche für Antibiotika-Resistenzen, an andere Bakterienstämme zu übertragen. Dieser Vorgang wird im Gegensatz zum »vertikalen Gentransfer« bei der Sexualität als »horizontaler Gentransfer« bezeichnet, der, so glaubte man lange, nur bei Lebewesen ohne echten Zellkern auftritt. Inzwischen weiß man jedoch, dass horizontaler Gentransfer auch an den Kontaktflächen verschiedener menschlicher Gewebe stattfindet, zum Beispiel nach einer Organtransplantation.

Ähnliches geschieht bei der Pfropfung von Obstbäumen und Tabakpflanzen, wie ein Forscherteam um Ralph Bock vom Potsdamer Max-Planck-Institut für Molekulare Pflanzenphysiologie 2009 nachgewiesen hat. Zur Erklärung: Beim Pfropfen wird etwa einem Baum (auch Unterlage genannt) ein Ast abgeschnitten und an der frei gewordenen Stelle das Aststück einer anderen Pflanze, das sogenannte Edelreis, eingesetzt. Dieses wächst im Laufe der Zeit an und wird von der Unterlage mit ernährt, bis seine ruhenden Knospen schließlich austreiben. Das heißt: Unter Umgehung der Mendelschen Vererbungsregeln lässt sich aus nur einem Ast eines besonders ertragreichen Obstbaumes ein Klon des Baumes erzeugen.

Solche Techniken werden nicht nur im Gartenbau angewandt. Auch in der Natur können zwei Pflanzen, die sehr nahe beieinanderstehen, an den Kontaktflächen zusammenwachsen. Scherzhaft ist bei Botanikern hier von »küssenden Bäumen« die Rede. Dabei gehen Erbinformationen aus den grünen Chloroplasten, die in der Pflanzenzelle unter anderem für die Photosynthese zuständig sind, von einem Gewächs auf das andere über. Konnten Bock und seine Kollegen 2009 nachweisen, dass eine solche Genübertragung innerhalb einer Art stattfindet, haben sie nun gezeigt, dass hierbei auch Artgrenzen überschritten werden können.

Dazu führten die Forscher ein Experiment durch, über welches sie in den Proceedings der US-Wissenschaftsakademie (DOI: 10.1073/pnas.1114076109) berichten: Sie pfropften die auf natürliche Weise nicht kreuzbaren wilden Tabakarten Nicotiana benthamiana und Nicotiana glauca auf die Kulturart Nicotiana tabacum. In die Zellkern-DNA der beiden Wildarten hatte man zuvor Genmaterial für eine Resistenz gegen ein Antibiotikum sowie ein gelbfluoreszierendes Protein (YFP) eingebracht. Dagegen enthielt der Kulturtabak in seiner Chloroplasten-DNA eine andere Antibiotikum-Resistenz und ein grünfluoreszierendes Protein (GFP). Dank der verschiedenfarbigen Markerproteine war es möglich, die DNA-Moleküle der Unterlage und des Edelreises jederzeit voneinander zu unterscheiden.

Nach dem Verwachsen der Tabakpflanzen schnitten die Forscher die Pfropfungsstellen aus und kultivierten das entfernte Gewebe auf einem Wachstumsmedium, das die beiden zellzerstörenden Antibiotika enthielt. Folglich konnten dort nur jene Zellen überleben, denen es gelang, sich gegen beide Antibiotika zu behaupten. Und das wiederum waren Zellen von Nicotiana benthamiana und Nicotiana glauca, die zuvor Chloroplasten von Nicotiana tabacum bzw. deren Erbinformation aufgenommen hatten. Tatsächlich wuchsen aus rund der Hälfte der Schnittproben neue Pflanzen heran, deren Zellen unter dem Mikroskop durch das gelbe und grüne Leuchten der Markerproteine YFP und GFP auffielen.

»Besonders interessant sind jedoch die Ergebnisse der DNA-Sequenzierung«, sagt Bocks Kollegin Sandra Stegemann. »Das Chloroplastengenom von N. tabacum ist nämlich unverändert an die beiden anderen Tabaksorten weitergegeben worden.« Das mag insofern überraschen, als es bei den Mitochondrien, die ebenfalls zu den Zellorganellen mit eigener DNA gehören, beim horizontalen Gentransfer meist zu einer Vermischung des Genmaterials kommt. Zudem verdrängen die neuen Chloroplasten die alten vollständig aus den Pflanzenzellen und werden laut Stegemann an die nächste Generation vererbt.

Bleibt die Frage, wie die Chloroplasten es schaffen, von einer Zelle zur anderen zu gelangen. Benutzen sie dafür die sogenannten Plasmodesmata, also schmale Tunnel, die sich zwischen Pflanzenzellen ausbilden können? Oder löst sich gar punktuell die Zellwand auf und macht so den Weg frei für die Chloroplasten-Wanderung? »Wir wissen es noch nicht« gesteht Bock. »Entscheidend ist aber, dass sie es tun.« Und so den Biologen einen Mechanismus offenbaren, der vielleicht geeignet ist, manche Unklarheit in den evolutionären Stammbäumen der Botanik zu beseitigen. Ohnehin trägt neben der DNA im Zellkern auch die Chloroplasten-DNA zur Fitness der Pflanze bei und kann entscheidende Überlebensvorteile verschaffen.

Wenn man so will, betreiben Pflanzen, die sich fremdes Erbgut einverleiben, eine Art natürliche Gentechnik, die sich in der Evolution offenbar bewährt hat. Könnte da nicht auch der Mensch irgendwann Chloroplasten-Genome durch Pfropfung auf andere Gewächse übertragen und so neue Pflanzensorten züchten? Denkbar ist dies allemal. Ob es jedoch auch praktisch sinnvoll wäre, vermag derzeit niemand zu sagen.