Island ist kurz davor, sich eine neue Verfassung zu geben und ging dabei einen besonderen Weg: Keine Politiker, sondern die Bürger selbst entwarfen den Vorschlag für ein Grundgesetz. Ein Modell für Europa?

Es ist ein einzigartiges Experiment, das Island gerade zum politischen Labor Europa macht. Das kleine Land, das nur etwa 320.000 Einwohner zählt, hat einen Verfassungsrat aus der Mitte seiner Bürger gewählt. Wenn der Entwurf des Rates tatsächlich zur neuen Verfassung Islands werden sollte, könnte das Projekt ein Vorbild für partizipative Demokratie in Europa sein - auch für Deutschland.

Seit 68 Jahren leben die Isländer schon mit einer Übergangslösung. So lange ist es her, dass mit der Unabhängigkeit des Inselstaates die dänische Verfassung übernommen wurde. Geändert hat man damals nur das Wort "König", Island wollte eine Republik werden. Man ersetzte es also kurzerhand durch "Präsident" und ließ das Volk in einem Referendum über die "neue" Verfassung entscheiden. Es sollte eine Übergangslösung sein. Verfassungskommissionen des Parlaments sollten sich damit auseinandersetzen - schließlich stammte die 1944 übernommene Verfassung aus dem Jahre 1874 und war schon damals revisionsbedürftig.

Die Realität sah jedoch anders aus. Trotz etlicher Versuche, in parlamentarischen Kommissionen eine neue Verfassung, oder besser eine eigene Verfassung zu erarbeiten, scheiterten diese parlamentarischen Gremien immer an politischer Uneinigkeit. Die Verfassung blieb also, wie sie war - bis zur Bankenkrise 2008.

Der neoliberale Kurs der regierenden Unabhängigkeitspartei hatte 2001 eine Bankenprivatisierung zur Folge. Die Geldinstitute Kaupthing, Landsbanki und Glitnir wurden von jungen, aufstrebenden Banken übernommen - zunächst mit Erfolg. Der Kurs der Isländischen Krone stieg, die Importe wurden so günstig wie nie zuvor, die Ratingagenturen waren begeisterte Fans des Inselstaates. Selbst als das Haushaltsdefizit des Inselstaates schon auf 213 Prozent des Bruttoinlandproduktes angestiegen war, gab es noch Bestnoten.

Doch von der Wirtschafts- und Finanzkrise wurde Island als Erstes erwischt: Die drei größten Banken des Landes konnten 2008 ihre Schulden nicht mehr bezahlen, die Isländische Krone verlor 40 Prozent ihres Wertes und die ausländischen Schulden der Banken verdoppelten sich fast über Nacht. Viele Isländer verloren ihre Arbeit, andere fürchteten, sie zu verlieren. Sie fühlten sich hilflos. Aus der Hilfslosigkeit wurde schließlich Wut. Auf die Regierung, die wichtige Entscheidungen im stillen Kämmerlein traf. Auf den Chef der Nationalbank, der mit drin steckte. Darauf, dass die Mächtigen zu viel Macht besaßen.

Wie macht man in Island seiner Wut Luft? Manche griffen zu Küchengeräten: Mit Töpfen, Pfannen und Kochlöffeln bewaffnet zogen Tausende Isländer zur Nationalbank in Reykjavik und forderten nicht nur den Rücktritt des Nationalbankchefs, sondern auch den des konservativen Premierministers Geir Haarde von der Unabhängigkeitspartei (Sjálfstæðisflokkurinn). Und: Eine neue Verfassung sollte her - eine, die so eine Katastrophe verhindern könne. Zu lange schon habe man mit einer Übergangslösung gelebt.

Und tatsächlich: Die neue sozialdemokratische Premierministerin Jóhanna Sigurðardóttir war der Meinung, dass es Zeit war, den Übergang zu beenden. Sie führte seit Februar 2009 die Übergangsregierung nach dem Rücktritt Haardes. Und sie kündigte an, sich für eine neue Verfassung einzusetzen. Aber nicht irgendwie. Sondern durch ein Bürgergremium. Die Bürger sollten es wählen und sie sollten es auch sein, die in dem Rat eine neue Verfassung erarbeiten sollten. Bei den Neuwahlen im April 2009 gewann die Sozialdemokratin. Als eine ihrer ersten Amtshandlungen reichte sie den Gesetzesentwurf für einen Verfassungsrat ein.

Bürgernahe Demokratie


Im November 2010 begann das spannende Projekt: Die Isländer durften zu den Urnen - knapp 36 Prozent der Wahlbeteiligten gingen auch. Þorkell (ausgesprochen Thorkell) Helgason war einer von denen, die gewählt wurden. Der Professor für angewandte Mathematik wurde eines der führenden Mitglieder des Rates.

Helgason ist mit der Wahlbeteiligung keineswegs unzufrieden. Eine Wahlbeteiligung dieser Größenordnung sei für eine solch spezielle Wahl ganz normal, sagt Helgason zur SZ, und verweist auf vergleichbare Wahlen in Schweizer Kantonen. Viele misstrauten den Politikern und allem, was mit ihnen zu tun hatte. "Sie hielten die Kandidaten für einen Teil des Establishments. Viele Menschen waren einfach wütend auf das System."

Aus den 525 Kandidaten hatten die Isländer 25 Ratsmänner und -frauen auserkoren. Seine Arbeit beginnen durfte er aber dennoch nicht sofort. Die alten Machteliten, denen das Projekt ein Dorn im Auge war, reichten Klage beim Obersten Gericht ein - mit Erfolg. Aufgrund technischer Nichtigkeiten wurde die Wahl für ungültig erklärt. Vier der fünf Richter waren noch von der langjährigen konservativen Regierungspartei, jetzt in der Opposition, ernannt worden. Böse Zungen sprechen von einem politischen Urteil.

Doch das Althing, das isländische Parlament, umging das Urteil des Obersten Gerichtshof und wählte kurzerhand selbst einen Verfassungsrat. Es bot allen 25 Kandidaten, die vom Volk in den Rat gewählt worden waren, einen Platz im neuen parlamentarischen Verfassungsrat an. Bis auf eine stimmten alle zu.

Innerhalb von nur dreieinhalb Monaten erarbeitete das Gremium anschließend in drei Arbeitsgruppen eine Verfassung. Darin wird die Rolle des Parlaments gestärkt - vor allem gegenüber den Ministern, die in der bisherigen Verfassung große Handlungsfreiheit genießen. Der Staatspräsident soll dagegen als neutrales Kontrollorgan fungieren.

Der Verfassungsrat bemühte sich während des gesamten Prozesses um Transparenz und Offenheit. Über Twitter, Facebook, YouTube und Flickr und nicht zuletzt der offiziellen Website des Rates konnten die Isländer nicht nur verfolgen, wie die Arbeit voranschritt, sie konnten auch mitreden. Und das taten sie. "Wir haben viele E-Mails und Rückmeldungen bekommen", erzählt Þorkell Helgason.

Aber von einer Massenbeteiligung zu reden, sei übertrieben. Das Ratsmitglied betonte, dass man die Vorschläge und Anmerkungen aufmerksam gelesen habe, die Erarbeitung des Entwurfs sei aber Aufgabe der Ratsmitglieder gewesen. "Gute Vorschläge haben geholfen, aber manche waren zu extrem: Zum Beispiel alle Macht dem Präsidenten. Oder umgekehrt: das Amt des Präsidenten abzuschaffen."

Volksentscheid im Gespräch

Seit Juli 2011 liegt der fertige Entwurf nun dem Parlament vor. Passiert sei seitdem nicht viel, wie Helgason bedauert. Zuletzt war der 12. Oktober als Datum für einen ratgebenden Volksentscheid im Gespräch. Das Parlament will erst noch einmal von den Bürgern hören, ob es mit dem Entwurf einverstanden ist. Erst dann will es ihn verabschieden.

Helgason hofft, dass die Regierungskoalition der Sozialdemokraten (Samfylkingin) und der Links-Grünen noch bis kommendes Jahr hält. Dann sind regulär Neuwahlen angesetzt. Bis dahin könnte der Vorschlag tatsächlich durch das Parlament sein, das neue Parlament müsste ihn allerdings auch noch bestätigen. Eine weitere Hürde ist das geplante Referendum, das die Verfassung endgültig rechtskräftig machen würde. Sollte die Wahlbeteiligung wieder so niedrig ausfallen, wie bei der Ernennung des Rates, würde das Verfassungsprojekt scheitern - und auch in den Rest Europas ein entmutigendes Signal aussenden.

In Deutschland, wie in vielen anderen europäischen Ländern, gibt es bisher nur relativ wenige Partizipationsmöglichkeiten. Seit Abschluss des Lissabon-Vertrages 2007 besteht immerhin innerhalb der EU die Möglichkeit, Bürgerinitiativen ins Leben zu rufen. So hat die EU am 9. Mai zum ersten Mal eine länderübergreifende Bürgerinitiative von Belgien, Italien, Luxemburg, Österreich, Rumänien, Spanien und Ungarn offiziell registriert.

Doch wenn die neue Verfassung Islands eine parlamentarische Mehrheit und die Anerkennung des Volkes bekommt, könnte von der kleinen Insel eine Diskussion um partizipative Demokratie in ganz Europa ausgehen.

Süddeutsche.de/kler/segi/lala