Wie wurde der Mensch, was er ist? Aufschluss gibt das Erbgut des Denisova-Urmenschen, gewonnen aus dem Fingerknochen eines Kindes, 50.000 Jahre alt. Jetzt können Wissenschaftler eine Liste präsentieren, die das Geheimnis der Spezies Homo sapiens enthält.
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© MPI für evolutionäre Anthropologie / DPAReplik eines Fingerknochenfragments: Während vom Neandertaler nahezu komplette Skelette gefunden wurden, gibt es vom Denisova-Menschen bisher kaum Überbleibsel. Genanalysen helfen, trotzdem ein Bild der Urmenschen zu zeichnen.
Endlich geschafft! Seit mehr als 20 Jahren gilt alles wissenschaftliche Streben von Svante Pääbo diesem einen Ziel. Und nun hält er sie endlich in Händen: eine Liste, die das Geheimnis der Spezies Homo sapiens enthält.

Gewiss, noch mutet diese Liste ziemlich kryptisch an. Im wesentlichen besteht sie aus einer Aneinanderreihung von etwas mehr als 120 000 Kürzeln wie NOVA1, SLITRK1 oder ARHGAP32. Und über die meisten dieser Kürzel ist tatsächlich nicht viel mehr bekannt als ihr zumeist nichtssagender Name. Trotzdem ist Pääbo überzeugt: "Diese Liste enthält das, was uns zu dem macht, was wir sind."

Ein ganzes Forscherleben lang hat sich der Paläogenetiker Pääbo an dieses Ziel herangepirscht. Immer weiter hat er sich mit den Mitteln der Genanalyse in die Vorgeschichte des Menschen vorgetastet. Mit immer raffinierteren Methoden ist es ihm gelungen, dem Erbgut der Menschenahnen ihre Geheimnisse zu entlocken. Ein ganzes Max-Planck-Institut hat er in Leipzig aus der Taufe gehoben, um das große Menschheitsrätsel knacken zu können. Und nun also ist sie da, diese Liste.

Letztlich war es ein glücklicher Zufall, der den Durchbruch möglich machte. Denn wer hätte ahnen sollen, dass das kirschkerngroße Knöchelchen, das Pääbos Mitarbeiter Johannes Krause vor gut zwei Jahren aus Sibirien mit nach Leipzig brachte, eine solche Sensation enthalten könnte? Und doch entpuppte sich dieses unscheinbare Fossil als einer jener Funde, die Wissenschaftsgeschichte schreiben: Fast unversehrt durch Bakterien fand sich rund 50.000 Jahre altes Erbgut darin. Und in diesem, so zeigte sich kurz darauf, war ein ganzes Kapitel der Menschwerdungsgeschichte versteckt.

Die Gen-Analyse offenbarte nämlich, dass es sich um das Fingerknöchelchen eines Mädchens handelte. Und dieses Mädchen gehörte zu einem Typ Mensch, der den Forschern bis dahin völlig unbekannt war. "Denisovaner" tauften die Forscher diesen Stamm.

Das Völkchen dieser Denisovaner, all das verriet der Erbgut des Mädchens, hatte sich offenbar dereinst irgendwo in Vorderasien von seinen Verwandten, den Neandertalern, getrennt, und war dann ostwärts gen Sibirien gewandert. Ja, sogar noch mehr ließ sich aus diesem einen Erbgut schließen: Ein Stoßtrupp der Denisovaner musste vor etwa 30.000 Jahren bis nach Ostasien vorgedrungen sein. Dort stießen sie auf Menschen modernen Typs und vermischten sich mit diesen. Bis heute lassen sich die Spuren dieser Vermischung im Erbgut der Pazifikvölker nachweisen.

Gut 120.000 Stellen enthalten das genetische Menschwerdungsprogramm

Die Chronik eines ganzen Menschengeschlechts aus einem einzigen Knöchelchen zu lesen - wissenschaftlich war das ein ziemlicher Scoop. Doch die Leipziger begnügten sich nicht damit. Sie entwickelten ein neues Verfahren, um den Erbgutbröseln in diesem einen Knochen noch mehr Geheimnisse zu entlocken. "Mit dieser Methode können wir auch sehr brüchige Abschnitte entschlüsseln", erklärt Max-Planck-Forscher Matthias Meyer. "Auf diese Weise haben wir das Genom mit der gleichen Präzision entschlüsselt wie bei einem heutigen Menschen."

Mit anderen Worten: Vor rund 50.000 Jahren starb in einer sibirischen Höhle ein kleines Mädchen. Und heute lässt sich sein Erbgut so exakt rekonstruieren, als lebte es noch heute. So perfekt ist das Ergebnis, dass sich sogar die Unterschiede zwischen den väterlichen und den mütterlichen Genen genau erkennen lassen. Für die Forscher ist das von Bedeutung, weil es Rückschlüsse auf das gesamte Volk der Denisovaner erlaubt: Die genetische Vielfalt in diesem Volk war offenbar erstaunlich gering. Das spricht dafür, dass es sich um einen ziemlich kleinen Trupp handelte, der da in die endlosen Steppen Sibiriens auszog.

Doch all das sind für Pääbo Ergebnisse, die nebenbei abfallen. Was ihn vor allem interessiert: Die hohe Genauigkeit der neuen Methode erlaubt es, all jene Orte im Erbgut ausfindig zu machen, in denen sich die Denisovaner von sämtlichen heute lebenden Menschen unterscheiden. Es sind eben jene gut 120.000 Stellen, von denen Pääbo überzeugt ist, dass sie das genetische Menschwerdungsprogramm enthalten. In der Liste dieser Stellen müssten jene Eigenschaften versteckt sein, die dem modernen Homo sapiens den Siegeszug über den ganzen Planeten erlaubten; hier müsste mithin das Geheimnis seiner Überlegenheit über seine Vettern, die Neandertaler und Denisovaner, verborgen sein.

"In dieser Liste schlummern noch viele große Entdeckungen"

Bisher allerdings, das muss auch Pääbo zugeben, reicht das Wissen der Genforscher nicht aus, um die Liste richtig zu deuten. Von sehr vielen der Einträge darauf ist nicht mehr als der Name bekannt. Nur in einigen Fällen gibt es zumindest Vermutungen, wozu das Gen, das auf der Liste steht, gut sein könnte. Was aber die menschenspezifische Mutation bedeutet? Das spätestens ist völlig unbekannt.

"Unsere Ergebnisse sind vor allem eine große Aufgabe für die Biologen der Zukunft", erklärt Pääbo. Sein Kollege Meyer sieht das ganz ähnlich: "Ich bin überzeugt davon, dass in dieser Liste noch viele große Entdeckungen schlummern." Noch sind die meisten Geheimnisse der Liste nicht gelüftet. Doch ein bisschen haben Pääbo und seine Mitstreiter bereits in den Daten gestochert. Und immerhin: Ganz erfolglos waren sie nicht dabei.

Insgesamt 23 Gene haben sie gefunden, die bei der Menschwerdung eine besondere Rolle gespielt haben könnten. Besonders interessant: Acht davon haben etwas mit der Verdrahtung von Hirnzellen zu tun.

Auch ein neues Lieblingsgen hat Pääbo identifiziert, dessen Rolle er jetzt gerne genauer aufklären möchte. Genetische Studien deuten darauf hin, dass Defekte dieses Gens zu Sprachstörungen führen. Und auch mit sozialen Fähigkeiten könnte dieses Gen etwas zu tun haben: Es wurde immer wieder mit Autismus in Verbindung gebracht. "Ich könnte mir vorstellen, dass wir in Zukunft noch mehr von diesem Gen hören werden", meint Pääbo. Es gilt also, sich einen nicht ganz einfachen Kürzelnamen zu merken: CBTNAP2.