Der Ständerat entscheidet über eine Strafnorm gegen die Genitalverstümmelung von Frauen. Das sei wichtig, sagt Expertin Monika Hürlimann in diesem Interview, führe aber zu einer Stigmatisierung der Betroffenen. Die Expertin für Gesundheitsförderung leitet das Präventionsprojekt gegen Mädchenbeschneidungen in der Schweiz bei der Hilfsorganisation Caritas.
Bereits jetzt wird die Beschneidung in der Schweiz als Körperverletzung geahndet. Was soll die zusätzliche Strafnorm?Es geht um das politische Zeichen, das man setzt. Der Gesetzesartikel ist auch deshalb angebracht, weil heute je nach Form der Beschneidung zwischen einfacher und schwerer Körperverletzung unterschieden wird. Das macht keinen Sinn.
Entscheidend ist nicht, wie viel man bei einem Mädchen wegschneidet - sondern dass. Trotz vergleichsweise geringer physiologischer Verletzungen kann der Eingriff riesige psychologische Schäden anrichten. Zudem ermöglicht die neue Strafnorm, eine im Ausland begangene Verstümmelung in der Schweiz auch dann zu bestrafen, wenn sie am Tatort nicht verboten ist - wie beispielsweise in Eritrea. Das ging bisher nicht.
Was gilt heute als schwere, was als leichte Körperverletzung?Das Zunähen der Vagina gehört klar zu den schweren Körperverletzungen, ebenso die Entfernung der Schamlippen und der Klitoris. Die wahrscheinlich am häufigsten praktizierte Form ist die Verletzung der Klitoris durch Vorhautentfernung, Ritzen oder Abschaben. Diese Praktik wird von ungeschultem Auge im Nachhinein oft nicht als Verletzung wahrgenommen und gilt heute als leichte Körperverletzung.
So hehr der Gedanke einer eigenständigen Strafnorm ist: Kann sie in der Schweiz lebende Mädchen tatsächlich vor Beschneidungen schützen?Nein, ein Strafgesetzesartikel kann niemanden schützen. Man muss sich das klar bewusst sein: Der Artikel ist keine präventive Massnahme, sondern ein Instrument, Beschneidungen zu verurteilen. Nicht mehr und nicht weniger.
© Unicef
Wie viele Frauen und Mädchen sind in der Schweiz betroffen?Nach Schätzungen aus dem Jahr 2005 leben in der Schweiz 12'000 Frauen, die aus Regionen kommen, in denen weibliche Genitalverstümmelung praktiziert wird. 6000 bis 7000 von ihnen sind beschnitten oder gefährdet.
Werden auch in der Schweiz Beschneidungen durchgeführt?Wir gehen davon aus. Bekannt geworden ist bis jetzt erst ein Fall aus Zürich - und das auch nur, weil es zu einer Verurteilung gekommen ist. Dabei ging es um ein somalisches Ehepaar, das seine Tochter im Zürcher Oberland hatte beschneiden lassen. Es wurde 2008 zu einer bedingten zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Wir hören von professionellen Beschneidern, die in die Schweiz geflogen werden. In welchem Ausmass das vorkommt, ist schwierig zu sagen.
Wie sieht sinnvolle Präventionsarbeit aus?Am wichtigsten sind Information und Konfrontation über informelle Netzwerke. Wir arbeiten stark mit den betroffenen Gemeinschaften zusammen, im Besonderen mit Personen, die über bestimmte Fachkompetenzen verfügen oder eine wichtige soziale Funktion in der Gruppe einnehmen. Die Kommunikation ist im besten Fall offen und horizontal.
Horizontal?Im Integrationsbereich wird häufig vertikal kommuniziert: Man versucht, die Migranten von der eigenen Vorstellung zu überzeugen. Schliesslich weiss man, wie sich diese zu verhalten haben und was für sie gut ist. Das klingt dann so: Bei uns hält man nichts von Beschneidung, also verzichtet darauf! Man befiehlt es von oben herab, statt auf Augenhöhe - eben horizontal - miteinander zu reden.
Reden klingt schön. Doch was, wenn ein Mädchen real bedroht ist?Dann ist ein intensiverer Ansatz angebracht, um das Mädchen zu schützen. Ist eine Migrantin beispielsweise schwanger, kommt für ein präventives Gespräch am ehesten ein Frauenarzt oder eine Hebamme infrage, später eine Mütterberaterin, ein Kinderarzt oder eine Lehrerin. So versucht man zu vermeiden, dass die Frau dereinst ihre Tochter beschneiden lässt.
Eine Lehrerin befürchtet, dass die Eltern einer Schülerin in den Ferien in ihre Heimat reisen, um die Schülerin zu beschneiden. Was soll die Lehrerin tun?Dass die Eltern mit ihrer Tochter in die Heimat reisen, heisst noch lange nicht, dass sie sie dort zwangsläufig beschneiden lassen wollen. Doch hat die Lehrerin einen begründeten Verdacht, gilt die Regel, die immer gilt, wenn ein Kind in Gefahr ist: Die Lehrerin bespricht ihre Bedenken mit der Schulsozialarbeiterin oder der Schulleitung und in einem weiteren Schritt mit der Kinderschutzgruppe oder der Vormundschaftsbehörde. Es braucht kein spezielles Vorgehen für die Beschneidung: Der Ablauf funktioniert genau gleich wie bei einer potenziellen Gefährdung durch Vernachlässigung, häusliche oder sexuelle Gewalt.
Wie soll sie dem Mädchen begegnen?Die Lehrerin kann versuchen, es in ein Gespräch zu verwickeln und Fragen wie diese stellen: Was macht ihr im Heimatland? Besucht ihr Verwandte? Ist etwas Spezielles geplant? Freust du dich?
Bringt die neue Strafnorm auch Nachteile mit sich?Ja. Beschnittene Frauen kommen sich durch die plötzliche Öffentlichkeit ausgestossen vor - nicht erst mit der neuen Strafnorm. So viele Vorteile die Kampagne gegen die Mädchenbeschneidung auch hat: Sie drängt die Frauen in die Opferrolle. Gerade in den Medien wird immer wieder betont, wie sehr sie unter der Beschneidung litten. Dass sie keine Gefühle und kein Sexualleben mehr hätten, ihre Partnerschaft beeinträchtigt sei. Das führt zu einer Stigmatisierung, unter der die Frauen oft mehr leiden als unter der Beschneidung selbst.
Inwiefern?Beschnittene Frauen können in ihrem Sexualleben durchaus Gefühle erleben, manchmal sogar einen Orgasmus. Es hängt nicht alles von der Klitoris ab.
Ist die Stigmatisierung für die Frauen tatsächlich schlimmer als die körperlichen Schmerzen?
In vielen Fällen ja. Man kann sich nicht vorstellen, welchen Vorurteilen beschnittene Frauen in Europa ausgesetzt sind. Sie werden richtiggehend abgestempelt. Gleichzeitig fühlen sie sich oft als potenzielle Täterinnen: Als Mütter könnten sie ihren Töchtern womöglich die gleiche Prozedur zumuten, so die gängige westliche Meinung. Dieser konstante Rechtfertigungsdruck kann bei Frauen zu Traumatisierungen und Rückzug führen. Aber selbstverständlich gibt es auch das Gegenteil - nämlich Frauen, die aufgrund ihrer Beschneidung stark in ihrem Alltag eingeschränkt sind.
Ist ein gewisser Rechtfertigungsdruck nicht unvermeidbar?Es ist bitter, wenn eine beschnittene Mutter darlegen muss, warum sie ihre Tochter nicht beschneiden lässt. Aber wenn man diese Praktik langfristig unterbinden und die Mädchen schützen will, geht es nicht anders: Man muss die Eltern auf das Thema ansprechen - erst dann zeigt sich, wie sie darüber denken.
Bringt die Kampagne gegen die Genitalverstümmelung noch andere Nachteile mit sich?
Die Diskussion über ihr angeblich nicht vorhandenes Sexualleben hat zur Folge, dass sich die Frauen im Irrglauben wähnen, alle ihre Probleme seien auf die Beschneidung zurückzuführen. Sie denken dann: Wenn ich nicht beschnitten wäre, hätte ich ein unglaubliches Sexualleben, überhaupt ein schöneres Leben, eine bessere Partnerschaft als jetzt. Sie meinen, eine unbeschnittene Frau habe bei jedem Geschlechtsverkehr ein ultimatives Erlebnis - obwohl das nicht der Realität entspricht.
Wie reagieren die Männer auf die Stigmatisierung?In der Regel noch empfindlicher als die Frauen. Viele sind enttäuscht über den Umstand, dass wir in der Schweiz extra einen Gesetzesartikel einführen, der die Beschneidung verbietet. Sie sagen, man hätte das Gespräch mit ihnen suchen können.
Kommentar: Vergessen wir auch nicht die Beschneidung von Männern: Laut Wikipedia werden zwischen 25 Prozent und 33 Prozent der männlichen Weltbevölkerung beschnitten.