Die heutzutage unter Progressiven vorherrschende Ansicht besteht darin, dass Amerika sich nicht sonderlich vom Rassismus fortentwickelt hat. Zwar würde niemand bestreiten, dass die Abschaffung der Sklaverei und die Auflösung des Jim Crow-Mems [AdÜ:
Jim Crow war ein Stereotyp, der im 19. Jahrhundert eine kulturell vorherrschende Ansicht über Schwarze repräsentierte] gute erste Schritte waren. Die progressive Haltung gegenüber solchen Reformen lässt sich in dem berühmten Witz von Malcolm X jedoch ganz gut zusammenfassen, wie folgt: "Man sticht keinem Menschen ein Messer 9 Zoll tief in den Rücken, zieht es 6 Zoll wieder heraus und nennt das Fortschritt." Abgesehen von der Ächtung der formalisierten Bigotterie glauben viele Progressive, dass sich die Dinge nicht allzusehr gebessert haben. Rassistische Einstellungen gegenüber Schwarzen - und wenn auch nur in der Form impliziter Vorurteile - werden immer noch als weitverbreitet angesehen; man nimmt an, dass schwarze Menschen weiterhin ohne triftigen Grund
in einem Starbucks verhaftet werden können; und überdies haben wir noch einen Präsidenten,
dem es schwerfällt, Neonazis anzuprangern. Solange Rassismus in unserem sozialen und politischen Leben stark verbreitet bleibt, "ist Fortschritt ausgeschlossen", wie ein linksgerichteter Kommentator
angemerkt hat.
Aber die Fakten beziehen in dieser Debatte eine klare Stellung. In seinem kontroversen Bestseller
Enlightenment Now stellt der Harvard-Psychologe Steven Pinker einen starken Rückgang von Rassismus fest. Um die Wende zum 20. Jahrhundert kamen Lynchmorde ungefähr dreimal pro Woche vor. Und nun geschehen rassen-motivierte Tötungen von Schwarzen nur noch etwa null- bis einmal pro Jahr.
1 Zudem sind einstmals weitläufige, gängige rassistische Haltungen nun an den Rand gedrängt worden. Eine Gallup-Umfrage fand heraus, dass im Jahr 1958
nur 4 Prozent der Amerikaner Eheschließungen zwischen Schwarzen und Weißen billigten. Bis 2013 ist diese Zahl auf 87 Prozent geklettert, was die Meinungsforscher dazu veranlasste, dies als "einen der stärksten Umschwünge der öffentlichen Meinung in der Geschichte von Gallup" zu bezeichnen.
Warum können Progressive nicht zugeben, dass wir Fortschritte gemacht haben?
Pinkers Antwort für das, was er als "Fortschrittsangst" betitelt, ist zwiefältig:
Erstens werden unsere Intuitionen darüber, ob Trends zu- oder abgenommen haben, durch das geformt, woran wir uns leicht erinnern können - Nachrichten, erschütternde Ereignisse, persönliche Erfahrungen, etc. Zweitens sind wir weitaus empfänglicher für negative Stimuli als für positive Reize. Diese beiden Fehler menschlicher Psychologie, die jeweils als Verfügbarkeitsverzerrung und Negativitätsverzerrung bezeichnet werden, machen uns anfällig für Schwarzmalerei - mit der Neigung, verrückte Nachrichtenereignisse mit Trends zu verwechseln und uns blind für den allmählichen Fortschritt zu machen.Während psychologische Fehler die Fortschrittsangst im Hinblick auf viele Themenbereiche hinreichend erklären können, verlangt unsere Verleugnung, dass wir uns bezüglich Rassismus weiterentwickelt haben, nach einer besseren Erklärung - einer Erklärung hinsichtlich weitverbreiteter Überzeugungen über Rasse und Ungleichheit.
Kommentar: Update: Die Geiselnahme konnte unblutig beendet werden.