Vor wenigen Tagen gelangte per richterlicher Anordnung das bisher umfangreichste Videomaterial aus dem berüchtigten US-Gefangenenlager Guantanamo Bay an die Öffentlichkeit. Die fast acht Stunden langen Bänder zeigen einen körperlich und seelisch geschundenen Jugendlichen, der zum Zeitpunkt seiner Festnahme erst 15 Jahre alt war und dem die Ermordung eines US-Soldaten in Afghanistan zur Last gelegt wird. Doch die Schuld von Omar Khadr, der immer noch unter unmenschlichen Bedingungen im Hochsicherheitsbereich von Guantanamo festgehalten wird, ist bis heute nicht zweifelsfrei erwiesen. Die jetzt veröffentlichten Aufnahmen haben Menschenrechtsorganisationen auf den Plan gerufen. Das bislang geheim gehaltene Videomaterial, aber auch klassifizierte schriftliche Aufzeichnungen, setzen allerdings nicht nur die US-Regierung unter Druck, sondern auch das Heimatland Khadrs, der kanadischer Staatsbürger und damit der letzte westliche Häftling von Guantanamo ist.

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Die Aufnahmen zeigen einen jungen Menschen, der in jahrelanger Haft systematisch ins seelische Aus manövriert wurde. Er sitzt alleine in einem düsteren, fensterlosen Raum und weint. In verzweifelter Stereotypie wimmert er vor sich hin, immer wieder nur »Tötet mich, tötet mich!«. Gerade einmal 15 Jahre alt war der Kanadier Omar Khadr, als er in das berüchtigte Gefangenenlager Guantanamo Bay auf Kuba gebracht wurde, um für die kommenden Jahre grausamen Erniedrigungen, psychischer wie physischer Folter und einer pechschwarzen Zukunft entgegenzusehen. Hier realisieren die USA gegen jedes geltende Menschenrecht eine Inquisition des 21. Jahrhunderts - und selbst Kinder bleiben nicht davor verschont.

Guantanamo Bay, das ist euphemistisch ausgedrückt eine Art »rechtsfreier Raum«, ein juristisches Niemandsland, in dem schlichtweg das Recht des Stärkeren gilt. Hier übt die US-Regierung in Gestalt des US-Verteidigungsministeriums (Department of Defense, DoD) und der Criminal Investigation Task Force (CITF) nichts als Selbstjustiz mit vermeintlich weißer Weste. DoD und CITF sind die Sponsoren jener teuflischen Einrichtung, die offiziell als die Guantanamo Bay Naval Station angesprochen wird. Die Gefangenen werden in der Regel ohne Hoffnung auf einen juristischen Prozess eingesperrt und verschiedensten Misshandlungen ausgesetzt. Sie leben in Käfigen, schlafen auf dem blanken Boden, müssen gefesselt und mit lichtdichten Kapuzen auf dem Kopf stundenlang knien. Durch geeignete Vorrichtungen beraubt man sie jeglicher Sinneswahrnehmung, um sie durch völlige Deprivation gefügig zu machen. Schlafentzug über Wochen hinweg sowie abstoßende Entwürdigungen zählen mit zum vielfältigen Programm.

Nein, "Folter gibt es dort nicht". Die US-Regierung wäscht ihre Hände in Unschuld, und Gleiches wird eben mit Gleichem vergolten, Terror mit
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Terror beantwortet. So einfach ist das. Omar Khadr wird als junger Terrorist dort gehalten, nicht als indoktrinierter Kindersoldat, sondern als »feindlicher Kämpfer«, nicht als Opfer vielfältiger, teils diametral entgegen gesetzter Interessen, sondern als äußerst gefährlicher Mensch, der bereits getötet hat und jederzeit wieder töten würde. Aber, wäre das ein großes Wunder, jetzt, nach vielen Jahren Haft in Guantanamo? Welches Bild von der größten Demokratie unseres Planeten mag Omar Khadr wohl entwickelt haben, ein genau von dieser untadeligen Demokratie systematisch zerstörtes Kind, dessen Schuld angesichts einer völlig widersprüchlichen Faktenlage längst nicht erwiesen ist!

Illegale Kämpfer sind sie alle, die in der unsäglichen Hölle von Guantanamo sitzen. Es sind etliche hundert, und ganz gewiss dürfte so mancher dort im Grunde auch nichts anderes für seine Verbrechen verdient haben. Dennoch sollte die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts und damit auch die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika den Begriff »Zivilisation« eigentlich so weit verinnerlicht haben, eine kollektive, durch Macht gerechtfertigte Selbstjustiz von vornherein unter allen Umständen komplett auszuschließen. Wem nicht der Prozess gemacht wurde, der kann demnach auch nicht auf Jahre eingekerkert werden. Und Folter? Die USA winken hierzu nur ab.

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Nun, »illegale Kämpfer« also sind die Unseligen von Guantanamo! Illegale Kämpfer - nichts als ein Kunstbegriff, mit dem die USA sie von der Genfer Menschenrechtskonvention ausnehmen und sich damit glatt über international geltendes Recht hinweg setzen. Ja, die einzig verbliebene Supermacht behält sich sogar schlichtweg vor, die Gefangenen gegebenenfalls im Geheimen zu verurteilen und jegliche Beweismittel und Protokolle ebenso geheim zu halten. Jegliche Berufung kann abgelehnt werden, ohne Gründe hierfür zu erörtern. Und laut David Lethbridge vom "Bethune Institute for Anti-Fascist Studies" besteht sogar die Möglichkeit, Gefangene in speziellen Kammern direkt auf Guantanamo hinzurichten. Was ist aus Amerika geworden!

Schon vor Jahren hat sich Lethbridge für die Befreiung von Khadr und anderen minderjährigen Häftlingen des Horror-Lagers eingesetzt. Vergeblich. Die Kinder waren nach den dramatischen Ereignissen des 11. September 2001 und der US-Invasion in Afghanistan gefangen genommen worden. Man hält sie getrennt von den erwachsenen Häftlingen in einem besonders gut bewachten Bereich der »Station«. Wenn es um Informationen über diese Altersgruppe geht, schotten offizielle Vertreter von Regierung und Militär komplett ab. Nichts als beredtes Schweigen über große Strecken. Dennoch sind in den vergangenen Jahren immer wieder Informationen nach außen gedrungen. Angela Wright von Amnesty Internationalspricht von einer Inhaftierung »in völlig abstoßender Weise und gegen die Grundprinzipien der Menschenrechte«.

In einem Appell zur Befreiung von Khadr lässt David Lethbridge seinerseits keine Zweifel aufkommen, wenn er sagt: »Guantanamo ist ein Konzentrationslager. Wenn nicht ein massiver öffentlicher und internationaler Aufschrei erfolgt, wird es bald ein Todeslager werden ... Und genau die hohe Intensität von Rassismus, wie er der US-amerikanischen Bestrafungsmaschinerie innewohnt, weist auch auf die innere Logik zwischen Auschwitz und Guantanamo. Auschwitz lag nicht auf deutschem Boden; Guantanamo nicht auf US-amerikanischen Boden. Die übelsten und mörderischsten Lager der Nazis befanden sich jenseits des direkten Sichtkreises der deutschen Bevölkerung, genau wie Guantanamo Bay ausreichend weit jenseits des Horizonts für amerikanische Augen liegt. Ein Schleier der Heimlichkeit hängt über dem Camp, genau wie 1943 in Deutschland auch. Jeder weiß, was vor sich geht, und doch weiß keiner, was geschieht - bis auf die eine Tatsache: dass diejenigen, die hinter die Tore gebracht werden, nie wieder zurückkehren«.

Khadr selbst bestreitet, den US-Soldaten Christopher J. Speer mit einer Handgranate getötet zu haben. Er sei durch die Folter in
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Guantanamo und aus Angst vor weiteren Folterungen zu falschen Aussagen gezwungen worden. Der hier wirkende Mechanismus gleicht einer Inquisition des 21. Jahrhunderts. Und wie verhielt es sich damals mit der peinlichen Befragung? Wie mit ihrer Rechtfertigung? Die immerhin »heilige« Inquisition behielt immer Recht. Nicht anders die Verhörspezialisten auf Guantanamo.

Die neuen Videoaufnahmen zeigen mehr als bedrückende und erschreckende Bilder. Gefilmt wurde offenbar heimlich aus einem Belüftungsschacht heraus, außerdem konnten diverse Agenten den jungen Gefangenen durch eine verspiegelte Glasscheibe hindurch ständig beobachten, auch wenn er sich alleine wähnte. Natürlich entstand das anfangs klassifizierte, später den hilflosen Anwälten Khadrs übergebene Video mit Zustimmung der Militärs und der Dienste. Obwohl also jedermann klar war, dass die Aufnahmen früher oder später ihren Weg in die Öffentlichkeit finden würden, enthalten bereits diese Sequenzen genügend Belege für einen Verstoß gegen die Menschenrechte auf Guantanamo Bay. Die über Jahre angewandte, mentale Zermürbungstaktik hat Khadr seelisch zerstört. Kanadische Agenten, wie sie auch in den Videoaufzeichnungen mit ihm sprechen, erhielten erst nach Jahren die Gelegenheit, ihn im Horrorlager aufzusuchen. Doch auch sie spielen eine dubiose, undurchsichtige Rolle. Genau wie die US-Agenten scheinen auch sie an nichts anderem als an Informationen interessiert zu sein. Alle wollen wissen: Was weiß Khadr? Denn der junge Mann stammt aus einer Familie, die engen Kontakt zu Osama bin Laden hatte. Schon als Kind besuchte Khadr zusammen mit seinem Vater den "vermeintlichen Terror-Chef Nummer Eins". Natürlich wurde er zusammen mit anderen Kindern indoktriniert, er wurde zum Kindersoldaten und damals wie heute zum Opfer fremder Interessen. Als Minderjähriger geriet er sowohl in das al-Qaida-Netz wie auch unmittelbar darauf in das Netz der US-Inquisition, die Kinder ohne Rechtsgrundlage festhält, sie wider jedes Menschenrecht einkerkert und quält.

Die verwirrenden Ereignisse, die Khadr nach Guantanamo führten, gehen auf den Morgen des 27. Juli 2002 zurück. Damals traf eine Mannschaft der "19th Special Forces Group", des "505th Infantry Regiment"und Miliz-Angehöriger in dem kleinen afghanischen Dorf Khost zu Inspektionen ein. Durch widrige Umstände geriet damals eine an sich wohl eher unkritische Situation außer Kontrolle und es kam zum Feuergefecht. Khadr befand sich an jenem Tag offenbar zufälligerweise und ohne Wissen seiner Eltern in Khost. Die Lage dort spitzte sich immer weiter zu. Schließlich rückte US-Verstärkung an und bombardierte die Häuser. Neben einem namentlich nicht genannten diensthabenden Offizier »OC-1« drangen Sergeant Christopher Speer, Captain Mike Silver und drei Delta-Force-Angehörige in den unter Beschuss stehenden Gebäudekomplex ein; US-Truppen warfen einige Granaten. Khadr war einer der wenigen Überlebenden. Eine Granate unbekannter Herkunft flog nun in Richtung der US-Militärs und explodierte direkt neben Speer. Als sich der Staub gelegt hatte, war nur Khadr zu sehen, der verwundet auf seinen Knien kauerte, mit dem Körper abgewandt vom Geschehen. OC-1 schoss ihm zweimal in den Rücken. Khadr hatten zudem Granatsplitter ins linke Auge getroffen, auf dem er fast erblindete.

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Hatte Khadr die Granate auf Speer geworfen? Was in diesen Momenten wirklich geschah, ist völlig ungewiss. Auch die Aussagen der Militärs widersprechen sich. Nach Angaben von Silver hatten sogar zwei Delta-Force-Truppen das Feuer eröffnet und insgesamt dreimal in Khadrs Brust geschossen, nachdem der Junge den Soldaten mit einer Pistole in der Hand gegenüber gestanden habe. Diese Aussage aber widerspricht den Angaben von OC-1 völlig. Bis heute kann niemand mit Sicherheit sagen, was wirklich geschah. Khadr lag im Sterben und wurde von einem US-Militärarzt vor Ort versorgt. Speer war tot. Für das Militärtribunal stand Khadr als Mörder von Speer fest. Begründung genug, ihn nach Guantanamo zu bringen. Ohne echte Beweise, lediglich auf Grundlage von Vermutungen.

Aus den stundenlangen Video-Verhören, die gerne als »Gespräche« bezeichnet werden, geht hervor, dass Omar Khadr verschiedenen Erniedrigungen und Folter ausgesetzt war, Methoden, die im betreffenden Jargon bevorzugt mit Formulierungen wie »harsche Techniken« umschrieben werden. Dazu zählt auch das »Frequent-Flyer-Programm«, hinter dem sich eine ständige Verlegung des Gefangenen verbirgt - zum Zwecke fortwährenden Schlafentzuges. So wurde Khadr ebenfalls Tag und Nacht alle drei Stunden in eine andere Zelle gebracht, über Wochen hinweg. Schlaf war nicht möglich. Als ihn 2004 schließlich ein kanadischer Agent aufsuchen konnte, dessen »Gespräche« mit Khadr ebenfalls auf Video festgehalten sind, zeigt sich, dass Kanada kaum echtes Interesse an der Befreiung Khadrs hat, der diese falsche Hoffnung anfänglich noch hegte. Er flehte den Agenten um Hilfe an, versuchte ihm seine Situation zu erklären. Doch der kanadische Geheimdienstler zeigte sich absolut ungerührt und war genau wie die US-Agenten lediglich an Informationen interessiert.

Im Laufe der Aufzeichnung sieht man Khadr, der ursprünglich noch völlig ruhig und kooperativ war, wie er sich das Hemd vom Körper reißt, um seine immer noch schmerzenden, nicht richtig verheilenden Wunden zu zeigen. Khadr bricht in Tränen aus. Völlig emotionslos erklärt ihm der Agent: »Ich bin kein Arzt, aber ich denke, das du eine gute medizinische Sorge erhältst« - »Nein«, weint Khadr, »die bekomme ich nicht. Sie sind nicht hier!« Überhaupt legen die Verhöre grenzenlosen Zynismus an den Tag. Der ungenannte Agent äußerte einmal, er glaube nicht, dass Khadr überhaupt wieder nach Hause wolle, denn auf Guantanamo sei das Wetter doch so schön - »kein Schnee!«


Kommentar: Wenn das nicht Psychopathisch ist, was dann??


Khadr erkennt, dass er auch von Kanada im Stich gelassen wird. Anfangs glaubte er, man wolle ihm helfen, doch es geht nur darum, ihn auszuquetschen. »Ich interessiere Sie überhaupt nicht«, schluchzt er. »Ich habe meine Augen verloren, meine Füße verloren, alles« - Khadr umschreibt damit selbstredend nicht allein seine schweren körperlichen Schädigungen, sondern auch seine Lage, den Verlust sämtlicher Freiheit. Doch der Agent bleibt weiter eiskalt und erwidert lediglich: »Nun, du hast deine Augen immer noch. Und deine Füße sind immer noch am Ende deiner Beine, wie du weißt.«

Laut Pentagon-Sprecher Commander Jeffrey D. Gordon sind die Bedingungen auf Guantanamo völlig akzeptabel: »Guantanamo schafft für die Gefangenen eine Umgebung, die stabil, sicher und human ist. Dieses Umfeld bildet die Grundlage dafür, von den Gefangenen erfolgreich wertvolle Informationen zu erhalten, und zwar basierend auf einem Vertrauensverhältnis, nicht auf Furcht.«

Menschenrechtsorganisationen sehen die Sachlage allerdings völlig anders. Sie hoffen, dass die Videoaufzeichnungen die Öffentlichkeit wachrütteln. Von Seiten der Regierungen können sie kaum Unterstützung erwarten. Nach Aussage des kanadischen Regierungssprechers Kory Teneycke haben die Videos nichts am Denken der Regierung geändert.

Dass Minderjährige in US-Militärgefängnissen gefoltert werden und die größte Demokratie unseres Planeten heute Methoden der Inquisition geradezu selbstverständlich anwendet, ist eine alarmierende Tatsache. Der einzigartige Fall Omar Khadr geht uns alle an, denn wir alle sind von diesem versagenden System betroffen.

Sequenzen des Videos können unter folgender URL abgerufen werden: