Zwischen 2004 und 2010 verkauften und lieferten britische Firmen Natriumfluorid, einen wichtigen Grundstoff bei der Herstellung des tödlichen Nervengases Sarin, an syrische Unternehmen, wie britische Medien enthüllten. Nach dem Chemiewaffenangriff in einem Außenbezirk der syrischen Hauptstadt Damaskus werden diese Geschäfte heute als »verstörend« bezeichnet.
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Zwischen Juli 2004 und Mai 2010 erteilte die britische Regierung fünfmal zwei Unternehmen Exportgenehmigungen, die den Verkauf und die Lieferung von Natriumfluorid an Syrien ermöglichten, heißt es in einem Bericht der britischen Tageszeitung Daily Mail.

Das Nervengas Sarin wirkt etwa 100-mal tödlicher als Zyanid und gilt als einer der weltweit gefährlichsten chemischen Kampfstoffe. Es wirkt vor allem auf das zentrale Nervensystem, führt aufgrund einer Dauererregung zu Muskelzuckungen und Schädigungen lebenswichtiger Organe. Bereits die einem Tropfen entsprechende Menge wirkt tödlich. Die USA, Frankreich und Deutschland behaupten, bei dem tragischen Giftgasangriff in Ghuta, einem Außenbezirk der syrischen Hauptstadt Damaskus, am 21. August, bei dem Hunderte von Zivilisten getötet oder verletzt wurden, sei Sarin eingesetzt worden.

Die Sonntagausgabe der Mail schreibt, die britischen Firmen hätten das Natriumfluorid an ein syrisches Kosmetikunternehmen geliefert; dies sei rechtlich nicht zu beanstanden gewesen. Die Zeitung zitiert britische Unterhausabgeordnete, die zum ersten Mal einräumten, dass chemische Substanzen dieser Art an Syrien geliefert worden seien. Sie verurteilten dies als »sehr unverantwortlich« und als klare Verletzung internationaler Übereinkommen zum Handel mit gefährlichen Stoffen.

Britische Abgeordnete zeigten sich angesichts der schockierenden Enthüllungen entsetzt. Der Abgeordnete Thomas Docherty, der dem Unterhaus-Ausschuss für Waffenexportkontrolle angehört, sagte am Samstag: »Dies sind sehr bestürzende Enthüllungen, die die Mail in ihrer Sonntagsausgabe im Zusammenhang mit der Lieferung von Natriumfluorid an Syrien veröffentlichen wird. Wir hätten dem Regime von Präsident Assad niemals die Möglichkeit geben sollen, sich mit diesen Substanzen zu versorgen. Wir waren zuvor überzeugt, es seien zwar Exportgenehmigungen vergeben, aber tatsächlich keine chemischen Substanzen geliefert worden. Jetzt wissen wir, dass britische Firmen - mit Genehmigung unserer Regierung - im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum Bürgerkrieg in Syrien diese potenziell tödlichen Substanzen geliefert haben.«

Die letzte Exportgenehmigung wurde zwar im Mai 2010 ausgestellt, aber derartige Genehmigungen müssen vor der eigentlichen Herstellung und zum Nachweis der Einhaltung bestimmter Industriestandards bereits vier bis fünf Monate vor der eigentlichen Lieferung vorliegen. »Man muss also davon ausgehen, dass die britischen Lieferungen von Natriumfluorid erst Ende 2010 Syrien erreichten«, meinte Docherty weiter. Die Regierung werde einige ernste Fragen zu beantworten haben, schloss er.

Ein Sprecher des Ministeriums für Geschäfte, Innovation und Qualifikationen (BIS, Department for Business, Innovation and Skills) verteidigte demgegenüber den Verkauf dieser Chemikalien an Syrien. Die gelieferte Menge habe der Menge »entsprochen, die in der angeführten Endanwendung bei der Herstellung von Kosmetika zu erwarten gewesen ist, und es hat keinerlei Hinweise auf Verbindungen zum syrischen Chemiewaffenprogramm gegeben. Dies ist auch heute unsere Auffassung«. Das BIS weigerte sich unter Berufung auf das Geschäftsgeheimnis, die Namen der beiden Firmen zu nennen.

Bereits zuvor war es im Zusammenhang mit Sarin zu einem Skandal gekommen. Es hatte sich herausgestellt, dass britische Beamte kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs Genehmigungen für den Export von Natriumfluorid und Kaliumfluorid nach Syrien ausgestellt hatten. Die Genehmigung vom Januar 2012 wurde in dem Wissen erteilt, dass »beide Substanzen als Ausgangsstoffe bei der Herstellung von Chemiewaffen eingesetzt werden können«, heißt es in einem Bericht, der vom Unterhaus-Ausschuss für Waffenexportkontrolle veröffentlicht wurde.

Der Abgeordnete Angus Robertson von der Scottish National Party erklärte gegenüber RussiaToday, in der vergangenen Woche sei die Angelegenheit nach der Ablehnung einer Beteiligung an einem Militäreinsatz gegen die syrische Regierung zur Sprache gekommen. »Der Verteidigungsminister musste erklären, wie es möglich sein konnte, dass Großbritannien die Gewährung einer Exportgenehmigung in diesem Fall auch nur in Erwägung ziehen konnte.« Es sei unmöglich, festzustellen, ob die Rebellen möglicherweise Zugriff auf diese Substanzen hatten, nachdem sie im Land eingetroffen waren, sagte er weiter. »Es bereitet mir aber immer noch Sorgen, dass die Exportgenehmigungen zu einem Zeitpunkt erteilt wurden, als sich die Lage in Syrien bereits zugespitzt hatte.«

Im amerikanischen Kongress wird hitzig darüber gestritten, ob Barack Obama die Genehmigung für ein militärisches Vorgehen gegen die syrische Regierung von Präsident Baschar al-Assad erteilt werden soll. Das Weiße Haus macht Assad für den tödlichen Chemiewaffenangriff im August verantwortlich.

US-Präsident Barack Obama hatte zuvor erklärt, der Einsatz von Chemiewaffen in Syrien stelle eine »rote Linie« dar, deren Überschreiten eine militärische Reaktion der USA nach sich ziehen werde. Diese Warnung des Weißen Hauses berücksichtigte nicht die Möglichkeit, dass syrische Rebellengruppen versuchen könnten, diese Festlegung der USA dazu zu benutzen, im Falle eines solchen Angriffs amerikanische Truppen auf ihre Seite zu ziehen.

Während des G-20-Gipfels, der gerade in Sankt Petersburg zu Ende geht, veröffentlichte das Weiße Haus eine Gemeinsame Erklärung, die von den Staats- und Regierungschefs von elf Ländern - zehn von ihnen gehören der G-20 an - unterzeichnet wurde. Unterzeichner der Erklärung sind Australien, Kanada, Frankreich, Italien, Japan, Südkorea, Saudi-Arabien, Spanien, die Türkei, das Vereinigte Königreich und die USA.

Die unterzeichnenden Länder erklären dort, sie »unterstützten die Bemühungen der USA und anderer Länder, das Verbot des Einsatzes von Chemiewaffen durchzusetzen«. Dennoch machen die Unterzeichner deutlich, dass sie ein militärisches Vorgehen gegen Syrien ablehnen:
»In der Erkenntnis, dass es für den Syrienkonflikt keine militärische Lösung gibt, bekräftigen wir unsere Entschlossenheit, eine friedliche politische Lösung durch die vollständige Einhaltung des Genfer Kommuniqués von 2012 herbeizuführen. Wir sind zu einer politischen Lösung entschlossen, die zu einem geeinigten, inklusiven und demokratischen Syrien führen wird.«
Neben anderen Nationen stehen Russland und China der Behauptung, das Assad-Regime habe Chemiewaffen eingesetzt, äußerst skeptisch gegenüber. Sie vertreten die Auffassung, dass bisher keine ausreichenden Beweise vorliegen, die die Identität der Angreifer zweifelsfrei belegen.

Auf dem G-20-Gipfel bezeichnete der russische Präsident und Gastgeber Wladimir Putin den Chemiewaffenangriff als »Provokation«, die von Rebellen ausgeführt worden sei, und rief die Unterstützer eines Angriffs auf Syrien zur Zurückhaltung auf. Sie sollten im Rahmen der UN-Charta handeln, und auch erst dann, wenn belastbare Ergebnisse der Probenuntersuchungen der Vereinten Nationen vorlägen. Dies dürfte bereits in der kommenden Woche der Fall sein.