Autoverladung Bremerhaven
© ReutersAutoverladung in Bremerhaven: Deutschland ist wirtschaftlich eine Supermacht
Das deutsche Jobwunder machte die Hartz-Reformen zum Vorbild für die Krisenländer Europas. Eine neue Studie räumt mit diesem Mythos auf: Nicht die Agenda 2010 habe Deutschland zum ökonomischen Superstar gemacht, sondern die Unabhängigkeit der Betriebe und der Gewerkschaften vom Staat.

So einig wie bei der Agenda 2010 hat man Europa selten erlebt. Die vor gut einem Jahrzehnt gestartete Reform - besser bekannt unter dem Namen Hartz - habe Deutschland zu dem gemacht, was es heute ist: eine wirtschaftliche Supermacht mit niedrigen Arbeitslosenzahlen und einem starken Selbstbewusstsein.

Doch so einmütig Kanzlerin Angela Merkel, ihr Vorgänger Gerhard Schröder oder etwa der französische Ex-Präsident Nicolas Sarkozy auch sind - sie alle haben unrecht. Das zumindest behaupten die vier Autoren einer neuen Untersuchung, die in der kommenden Woche im renommierten Journal of Economic Perspectives erscheint und Spiegel Online vorliegt.

Mit dem Mythos aufräumen

Der vielbeachtete Wandel Deutschlands vom "kranken Mann Europas zum ökonomischen Superstar" werde fälschlicherweise immer wieder mit den Hartz-Reformen in Verbindung gebracht, schreiben die Autoren. Dabei sei ein Mythos entstanden, mit dem dringend aufgeräumt werden müsse. Denn Hartz habe lediglich dabei geholfen, die Langzeitarbeitslosigkeit einzudämmen. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands hätten die Instrumente - wie etwa flexibilisierte Leiharbeit oder die Einführung von Minijobs - dagegen kaum gesteigert.

Dagegen gibt es der Studie zufolge ein anderes deutsches Wundermittel: nämlich die einzigartige Unabhängigkeit der Tarifpartner vom Staat und die damit verbundene freie Entscheidung über Löhne, die Branchen, die Größe und konjunkturelle Lage von Unternehmen berücksichtigt.

Der Deutsche Weg

Die Ergebnisse bergen politischen Zündstoff, denn sie räumen radikal mit den bisherigen Vorstellungen davon auf, wie Europa seine Krise in den Griff bekommen soll. Gerade den südeuropäischen Sorgenstaaten mit sehr hohen Erwerbslosenquoten und schwachen Exporten wird immer wieder geraten, sich bei den Arbeitsmarktreformen an Deutschland zu orientieren.

Aber auch hier winken die Autoren ab und erinnern an die einmaligen Entwicklungen in der Bundesrepublik. So hätten die extremen wirtschaftlichen Veränderungen nach dem Mauerfall in Deutschland schon ab Mitte der neunziger Jahre dazu geführt, dass die Löhne real sanken. In der Folge fielen die Lohnstückkosten, welche die Arbeitskosten in Relation zur Produktivität setzen, flächendeckend über alle Industriezweige - und das verbesserte die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie langfristig deutlich.

Anders gesagt: Als Schröder 2003 die Hartz-Reformen einleitete, waren die wichtigsten Weichen von Unternehmen und Mitarbeitern schon Jahre zuvor gestellt worden. In der schweren Rezession ab 2008 sorgten - neben der Kurzarbeit - vor allem wieder die Tarifpartner dafür, dass die Unternehmen keine Lohnerhöhungen stemmen mussten, die sie womöglich in die Knie gezwungen hätten.

Kritisch gegenüber dem Mindestlohn

Die Studienautoren Christian Dustmann, Uta Schönberg (beide University College London), Alexandra Spitz-Oener (Humboldt Universität) und Bernd Fitzenberger (Universität Freiburg) sind daher skeptisch, wenn es darum geht, die Hartz-Reformen "holzschnittartig" auf andere Länder zu übertragen.

In Ländern wie Italien und Frankreich sei die Lohnfindung von weitaus zentralisierten und gesetzlich stärker verankerten Arbeitsmarktinstitutionen geprägt als in Deutschland. Reformen seien daher enorm vom politischen Prozess abhängig. "Ob diese Länder in absehbarer Zeit eine ähnliche Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit erreichen können, ist fraglich", sagt Dustmann.

Mindestlohn "ein Schritt zu weniger Autonomie im Tarifsystem"

Doch auch in Deutschland warnen die Autoren vor Rückschritten. Der von der Bundesregierung geplante gesetzliche Mindestlohn sei "ein Schritt zu weniger Autonomie im Tarifsystem". Allerdings dürfe wie schon bei den Hartz-Reformen die Bedeutung einer Lohnuntergrenze auf das gesamte starke Gefüge nicht überschätzt werden.