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© A. Arraou/corbisKonzentrationsschwierigkeiten ohne zu wissen, warum: schleichende Vergiftung.
Forscher schlagen Alarm: Chemikalien vergiften Babys schon im Mutterleib

Chemische Substanzen verursachen "Stille Pandemie" von Autismus und ADHS.

Mehr als jedes zehnte Kind leidet bereits vor der Geburt an einer Entwicklungs- oder Verhaltensstörung, berichten dänische und US-Forscher. Zu den Leiden zählen sie Autismus und andere geistige Defizite, das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADHS), Hyperaktivität, Aggressionen, soziale Auffälligkeiten, Essstörungen und Depression.

Wer die Schuld dafür in den Erbanlagen, Fehlernährung und einer zu nachlässigen, zu strengen oder der Entwicklung sonstwie abträglichen Erziehung sucht, denkt zu kurz. Philippe Grandjean von der Universität Süddänemark in Odensee und Philip Landrigan von der Universität Harvard in Boston, Massachusetts, warnen nämlich vor einer stillen, schleichenden Vergiftung von Kindern durch Umweltchemikalien in einem noch viel höheren Ausmaß als bisher angenommen. Der Einfluss dieser Giftstoffe würde zu einer fortschreitenden Verdummung und einer stetigen Zunahme von Verhaltensstörungen führen, berichten die Wissenschafter im britischen Fachjournal The Lancet.

"Die Wurzeln der globalen Pandemie von neurologischen Entwicklungsstörungen sind bisher nur zum Teil verstanden", schreiben sie. Genetische Faktoren würden höchstens 40 Prozent der Fälle erklären, der Rest sei durch Umwelteinflüsse versursacht.

Im Mutterleib reagiert das sich entwickelnde Gehirn ganz besonders sensibel nicht nur auf Alkohol und Nikotin, sondern auch auf chemische Reize. Wenn die Mutter solchen Umweltgiften ausgesetzt ist, erreichen diese über ihr Blut das heranwachsende Baby nahezu ungefiltert.

Den Forschern zufolge wurden bisher 214 neurotoxische Chemikalien im Nabelschnurblut von Neugeborenen nachgewiesen. Grandjean und Landrigan hatten selbst fünf Industriechemikalien mit messbaren Auswirkungen auf das kindliche Gehirn schon im Jahr 2006 entdeckt. Demnach können Blei, Quecksilber, Arsen, polychlorierte Biphenyle und das Lösungsmittel Tolul das Hirnvolumen verringern und geistige Leistungsdefizite, motorische Störungen und ein problematisches Sozialverhalten hervorrufen.

Nun haben die beiden Forscher weitere Studien ausgewertet und dabei Belege für weitere sechs Chemikalien gefunden. Indische und kanadische Untersuchungen liefern Hinweise, dass Mangan die mathematischen Fähigkeiten beeinträchtigt. Französische und amerikanische Studien beinhalten Indizien, dass das Lösungsmittel Tetrachlorethylen aggressives Verhalten und Hyperaktivität verursachen kann. Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft dieser Substanz ausgesetzt waren, würden zudem eher zu psychischen Erkrankungen neigen. Gleich drei Studien ergeben wiederum, dass Kinder, die über das Mutterblut Organophosphat-Pestizide aufnahmen, mit einem kleineren Kopfumfang zur Welt kommen und sich langsamer entwickeln.

"Noch größere Sorge" bereiten den Forschern allerdings all jene Kinder, deren Gehirne zwar durch giftige Chemikalien geschädigt wurden, die aber nie eine Diagnose dazu erhalten haben. "Sie leiden unter Konzentrationsstörungen, Entwicklungsverzögerungen und schlechteren schulischen Leistungen - und keiner weiß, warum." Angesichts immenser Mengen neurotoxischer Chemikalien in der Umwelt seien diese auch als Ursache auch für eher unauffällige Störungen anzunehmen.

Schäden, die im Mutterleib verursacht werden, sind größtenteils unbehandelbar. "Wir sind sehr besorgt, dass Kinder weltweit Giftstoffen ausgesetzt sind, die unerkannt ihre Intelligenz unterminieren, ihr Verhalten ändern und ihre Zukunft zerstören", konstatieren Grandjean und Landrigan. Sie fordern schärfere Zulassungsbestimmungen und Umweltrichtlinien.

Derzeit würden Chemikalien zwar auf akute neurotoxische Wirkungen getestet, aber schleichende und pränatale Effekte nicht erfasst. "Wir müssen weg von der irrigen Annahme, wonach neue Chemikalien und Technologien so lange als ungefährlich gelten, bis das Gegenteil nachgewiesen wird", warnen die Forscher.