Medikament Produktion
© PICTURE-ALLIANCE/ DPA/DPAWEBTamiflu-Produktion bei Roche
Als weltweit die Angst vor der Grippe-Pandemie umging, glaubten alle an die Mittel Tamiflu und Relenza. Millionen Arzneidosen wurden gekauft und eingelagert, Milliarden Euro ausgegeben. Jetzt zeigt sich: Die Mittel nützen kaum und schaden mehr als erhofft.

Es ist der vorläufige Schlusspunkt eines beispiellosen Katz- und Mausspiels und die fast restlose Entzauberung zweier Arzneimittel. Und eigentlich ist es auch einer der größten Skandale der jüngeren Medizingeschichte. Nur trauen sich nicht einmal die Ankläger in ihrer bisher umfangreichsten Klageschrift gegen die sogenannten Pandemie-Arzneien Tamiflu und Relenza, es öffentlich so zu benennen. Denn der Skandal ist vor allem eins: eine bittere, großteils selbst verschuldete Lehrstunde für Wissenschaft, Medizin, Staat, Industrie und Steuerzahler. Es geht um die mehr oder weniger sinnlose Massen-Bevorratung mit den beiden antiviralen Medikamenten in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts, als die Welt zuerst vor einer weltweiten Vogelgrippen- und anschließend einer Schweinegrippenpandemie zitterte. Wie eine Gruppe von unabhängigen Ärzten und Forschern jetzt in der Neubewertung von 46 klinischen Studien zu Tamiflu und Relenza so klar wie nie zuvor gezeigt hat, sind die beiden zu den Neuraminidasehemmern zählenden Medikamente wenig effektiv, ja geradezu nutzlos im Kampf gegen die gefürchteten Influenzaviren. Die Veröffentlichungen der Cochrane-Collaboration, einem weltweiten Netzwerk von unabhängigen Wissenschaftlern, sind im British Medical Journal erschienen.

Tamiflu und Repenza verhinden offenbar weder Ansteckung noch Komplikationen

Ihre Ergebnisse auf der Suche nach einer Evidenz der Medikamentenwirkungen sind mehr als ernüchternd: Tamiflu und Repenza mildern die Symptome, auch wenn sie rechtzeitig nach einer möglichen Ansteckung eingenommen sind, nur um durchschnittlich einen halben Tag von sieben auf sechseinhalb Tage. Mehr nicht. Sie verhindern dagegen offenbar weder Komplikationen der Infektionskrankheit noch dass die Viren übertragen werden; sie sorgen nicht dafür, dass weniger Menschen ins Krankenhaus eingeliefert werden und sie verringern nicht die Tödlichkeit der Erreger. Und auch frühzeitig als vorbeugendes Mittel eingenommen eignen sie sich lediglich dazu, das Risiko schwerer Symptome nach Ausbruch der Krankheit leicht zu senken. Sie verhindern nicht den Ausbruch der Grippe.

Kurz gesagt: Alles, was in den Jahren zwischen 2004 und 2009 gesagt und von den zuständigen Behörden, angefangen von der Weltgesundheitsorganisation bis zu den eingesetzten Pandemiestäben, wieder und wieder öffentlich verkündet wurde, um den Menschen zumindest den Schein einer medikamentösen Behandlungsmöglichkeit mitzuteilen, ist entlarvt worden. Am Ende hatten sich mindestens 96 Länder mit Arzneidosen für mutmaßlich 350 Millionen Menschen eingedeckt. Allein der Schweizer Tamiflu-Hersteller Roche dürfte seriösen Schätzungen zufolge nach der Zulassung des Mittels an die 13 Milliarden Euro verdient haben. Wie viele Arzneidosen die zuständigen Bundesländer in Deutschland eingelagert haben, ist offiziell nicht bekannt.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin, an dem der Pandemie-Krisenstab vor annähernd zehn Jahren eingerichtet wurde und das derzeit von einem Expertenbeirat einen neuen Pandemieplan aufstellen lässt, hat solche Erhebungen nie vorgenommen. Im „Behördenspiegel“ aus dem Jahr 2007, zwei Jahre vor der Ausbreitung des sogenannten Schweinegrippevirus H1N1 in Mexiko, wurde eine Umfrage des RKI zitiert, aus der sich ergibt: Je nach Bundesland sollten in den Kliniken im Laufe der Jahre insgesamt Vorräte für vier bis dreißig Prozent (Nordrhein-Westfalen) der jeweiligen Bevölkerung angelegt werden - also Abermillionen von Tamiflu-Tabletten. Viele Menschen hatten sich nach der ersten Angstwelle vor dem bei Vögeln grassierenden H5N1-Virus längst mit Tamiflu- oder Relenza-Beständen eingedeckt.

Nicht nur für die medizinischen Laien, auch für die Fachleute in den Krisenstäben sah es damals so aus, als seien Tamiflu-Pillen und das von Glaxo verkaufte Relenza, das inhaliert wird, durchaus sinnvolle Investitionen. Die Mittel wurden offiziell empfohlen, die Dokumente der höchsten Gesundheitsbehörden und -institute wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) legten nahe, dass die antiviralen Medikamente die einzigen Mittel sind, die gegen die Influenzaviren wirken. „Ihre Einnahme“, so schrieb etwa die weltweit führende wissenschaftliche Organisation in Infektionsfragen, die amerikanischen Centers for Disease Control and Diseases (CDC), „macht den Unterschied aus zwischen einem milden Krankheitsverlauf und der Gefahr eines schweren Verlaufs mit Einweisung in die Klinik“. Jetzt weiß man: Stimmt nicht. Ironischerweise hatte die amerikanische Genehmigungsbehörde FDA schon bei der Tamiflu-Zulassung vor fünfzehn Jahren geschrieben, dass die Mittel allenfalls eine „mäßige“ Wirkung hätten. „Auf vier Seiten taucht dieses Adjektiv sechsmal auf“, geben Tom Jefferson und Peter Doshi von der Cochrane-Gruppe zu bedenken. Schon damals hätten Zweifel an der Wirksamkeit aufkommen können. Kamen sie aber nicht. Erst die Hinweise von Forschern im Laufe der folgenden Jahre, dass die vorhandenen klinischen Studien nicht ausreichten, die Wirksamkeit und vor allem auch die langfristige Sicherheit der Mittel genau einschätzen zu können, sorgte für ein Umdenken.

Als Jefferson und einige Kollegen im Jahr 2006 eine Überprüfung der vorhandenen Studien zu Tamiflu und Relenza vornahmen, wurde deutlich, woran das lag: Den Wissenschaftlern fehlten wesentliche Informationen aus den von den Firmen finanzierten klinischen Studien. Und nicht nur das: Es kam der Verdacht auf, dass die betroffenen Firmen wichtige Details der klinischen Untersuchungen zurückhielten. Der Verdacht wurde noch zusätzlich verstärkt, weil einige der federführenden Studienleiter Verbindungen zu den Pharmaherstellern hatten, und als sich die Unternehmen tatsächlich außerstande sahen, die Rohdaten herauszugeben, wurde aus dem Streit ein Krieg um Datentransparenz. Dreieinhalb Jahre hat er gedauert. Dann händigten die Unternehmen den Forschern um Jefferson elf Dutzend CDs aus, auf denen ungefähr 160.000 Seiten Dokumente mit wichtigen Rohdaten und anonymisierten Patientendaten enthalten waren. Es zeigte sich: Nur ein kleiner Teil der Studien war veröffentlicht worden.

Mit den ausführlichen klinischen Studienberichten, den „Clinical Study Reports“, die auf Inititative des Europaparlaments inzwischen zur Pflicht für große klinische Studien geworden sind, hatten die Cochrane-Forschern jetzt genug Material in der Hand, um eine Neubewertung von Tamiflu und Relenza vornehmen zu können. Die Daten von an die 24.000 Influenza-Patienten zeigen aber auch, dass über die Wirksamkeit in vieler Hinsicht noch gar keine soliden Aussagen getroffen werden können. So gab es schon zur Zulassung lediglich Wirksamkeitsvergleiche zu Scheinmedikamenten (Plazebos), aber keine Vergleichsuntersuchungen zu einem anderen verfügbaren Wirkstoff, der die Grippesymptome mildern könnte, beispielsweise Paracetamol.

Die Dokumentation des Krankheitsstatus und -verlaufs war in vielen Fällen lückenhaft, viele Fragzeichen blieben nach den Zulassungsstudien. Etwa zur Frage der Mortalität. Im Laufe der klinischen Studien kam es bei 24.000 infizierten Patienten zu 13 Todesfällen. Wie viele durch die Einnahme von Tamiflu verhindert wurden, lässt sich statistisch nicht ermitteln. Genauso wenig gibt es eine Antwort darauf, wie viele Menschen sich angesteckt und von Natur aus oder durch die Medikamentenprophylaxe symptomlos geblieben waren, oder die tatsächlich wegen der Einnahme der Mittel nach der Ansteckung nur einen milden Verlauf hatten. „Unsere jüngsten Ermittlungen stellen grundsätzlich in Frage, ob es für eine glaubwürdige Analyse genügt, sich auf die vorhandenen begutachteten Studien zu verlassen“, meinen Jefferson und Doshi. Die Chefredakteurin des British Medical Journal, Fiona Godlee, die zusammen mit den Cochrane-Forschern den Kampf für mehr Datentranparenz aufgenommen und ein Buch darüber geschrieben hat, sieht die Vorgänge um Tamiflu und Relenza als „Testfall“ für das derzeitige „fehlerhafte System“. Jefferson und seine Kollegen bezeichneten es deutlicher: ein „Multisystemversagen“.

Statt neuer Wirksamkeitsnachweise sind mit der neuerlichen Arznei-Überprüfung jetzt vermehrt Hinweise über mögliche Nebenwirkungen zutage gefördert worden - wenn auch keine schwerwiegenden. Übelkeit und Erbrechen kommen offenbar häufiger vor bei den Patienten , die die Mittel eingenommen hatten. Und wenn das Mittel vorbeugend eingenommen wurde, waren offenkundig vermehrt Fälle von starken Kopfschmerzen, Nierenbeschwerden und behandlungsbedürftige psychiatrische Symptome festgestellt worden. Das Fazit der Cochrane-Forscher: „Die neuen Ergebnisse stellen den historischen Befund in Frage, dass Neuraminidasehemmer effektiv sind im Kampf gegen Influenzaviren.“ Die Konsequenzen daraus müssten jedes einzelne Land, jede Regierung und die zuständigen Behörden ziehen: „Sie müssen sich im Lichte der jüngsten Erkenntnisse fragen: Würden sie die Empfehlungen für Tamiflu heute wiederholen?“

Die WHO hält die Mittel bisher trotz der schon länger aufkommenden Zweifel noch immer für sinnvoll und hat Tamiflu auf der Liste der essentiellen Medikamente gelistet, die „überall auf der Welt verfügbar sein sollten“.