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Berlin - In Deutschland haben so viele Menschen wie nie eine Arbeit - und dennoch wächst die Kluft zwischen Arm und Reich.

Zu diesem Befund kommt der Paritätische Gesamtverband in seinem ersten Gutachten zur sozialen Lage, das sich von Expertenstudien zu Konjunkturindikatoren abgrenzt. "Am wachsenden Wohlstand haben immer weniger Menschen teil", sagte der Vorsitzende des Wohlfahrtsverbandes, Rolf Rosenbrock, am Donnerstag in Berlin. Fast jeder Sechste sei armutsgefährdet. In der Europäischen Union (EU) liegt Deutschland im Mittelfeld. Der Sozialverband sieht in der Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD wenig Ansätze, die Kluft zu verringern. "Wenn wir den Koalitionsvertrag als Drehbuch nehmen, müssen wir pessimistisch sein", sagte Rosenbrock.

Der Befund des Sozialverbandes liegt auf einer Linie mit Untersuchungen zur Vermögensverteilung und Erhebungen des Statistischen Bundesamtes. Laut einer Studie etwa des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vom Februar sind die Vermögen in keinem Euro-Land so ungleich verteilt wie in Deutschland. Nach der DIW-Studie verharrte die Ungleichheit in den vergangenen zehn Jahren etwa auf dem gleichen Niveau.

Anders sieht es bei der Armutsquote aus, die EU-weit erhoben wird: Sie ist in Deutschland seit 2007 kontinuierlich von 15,2 Prozent auf 16,1 Prozent im Jahr 2011 gestiegen. Als armutsgefährdet galt in Deutschland 2011 eine allein lebende Person mit einem Einkommen von weniger als 980 Euro im Monat. In Frankreich, der zweitgrößten EU-Volkswirtschaft, lag die Quote 2011 bei 14,1 Prozent, in Italien indes bei 19,4 Prozent.

Verband fördert höhere Steuerbelastung für Vermögen

Der Paritätische Verband stützte sich auf andere Zahlen des Mikrozensus, die europaweit nicht vergleichbar sind, aber die gleiche Tendenz zeigen. Die Armutsquote auf dieser Basis habe mit 15,2 Prozent einen Höchststand erreicht. "Im Ergebnis dieser Betrachtung kann man sagen, Deutschland war noch nie so tief gespalten wie heute", sagte Rosenbrock. "Noch nie war im vereinigten Deutschland die Spanne zwischen Arm und Reich größer." Der Politik warf er Untätigkeit vor: "Die Passivität, man kann sagen, die sozialpolitische Ignoranz ist erschreckend."

Wer die soziale Spaltung bekämpfen wolle, komme um einen Kurswechsel in der Steuerpolitik nicht herum, sagte Rosenbrock. Große Einkommen und Vermögen müssten stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens herangezogen werden. Für Langzeitarbeitslose müsse es mehr Qualifizierungsangebote geben, und die monatliche Hartz-IV-Regelzahlung müsse deutlich erhöht werden. Die umstrittene Rente mit 63 kritisierte der Verband als "Privileg für langjährig Versicherte", die nichts dazu beitrage, Armut im Alter zu bekämpfen. Allein der gesetzliche Mindestlohn sei zu begrüßen: Dieser diene aber nicht der Armutsbekämpfung.

Das Gutachten kontrastiert mit den Aussichten für Wirtschaft und Beschäftigung in Deutschland, die für dieses und das kommende Jahr allesamt positiv sind. "Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einem soliden Aufschwung", stellte Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel vor Ostern bei der Vorlage der Frühjahrsprognose fest. Bei den Erwerbstätigen wird ein Plus von 240.000 auf den Rekord von 42,1 Millionen erwartet. Der Zuwachs wird aber vor allem von einer höheren Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren sowie von Zuwanderern getragen. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist mit einer Million unverändert hoch.