Wer eine unglückliche Kindheit erlebt hat, leidet darunter meist auch noch als Erwachsener: Folgen können Minderwertigkeitsgefühle, Panik oder Wut sein. Es gibt nur einen Weg aus diesem Teufelskreis.
Depressionen, psychische Probleme, trauma
© paSeelische Verletzungen in der Kindheit sind hartnäckig – der einzige Weg, der herausführt, ist verstehen und vergeben, behaupten Psychologen
Die Mutter hatte wenig Zeit, der Vater flippte selbst bei Kleinigkeiten aus: Fast jeder erinnert sich an Situationen in seiner Kindheit, in denen er sich von den Eltern unfair behandelt oder ungeliebt gefühlt hat.

Waren solche Verletzungen an der Tagesordnung, bleibt oft das Gefühl zurück, nichts wert zu sein, nicht geliebt zu werden, nichts richtig zu machen. Häufig prägen diese Empfindungen das ganze Erwachsenenleben. Dann ist es nötig, sich mit Kindheit und Eltern auszusöhnen.

Bei vielen Menschen entsprecht die Einstellung zum Leben der grundlegenden Einstellung zu den Eltern, schreibt Psychologe Bertold Ulsamer in einem seiner jüngsten Bücher.

Wer als Erwachsener gierig sei, hatte oft das Gefühl, als Kind nicht genug bekommen zu haben. Um eine positivere Einstellung zum Leben zu gewinnen, empfiehlt er deshalb, die Haltung gegenüber den eigenen Eltern zu ändern.

Dabei sei es hilfreich, Vater oder Mutter einen Brief zu schreiben, den man jedoch nicht abschicken sollte, sagt Ulsamer. Er arbeitet in Freiburg als Psychotherapeut. Das Aufschreiben hilft, sich selbst einzugestehen, dass man in der Kindheit verletzt wurde. Nur wer zugibt, dass ein Erlebnis schlimm war, könne beginnen, die Situation zu klären.

Versuchen, den Eltern keine Vorwürfe zu machen

Das direkte Gespräch mit Vater und Mutter ist nur selten möglich: "95 Prozent der Eltern schaffen das nicht", sagt Ulsamer. Wenn es dennoch zu einer Aussprache kommen sollte, passiert das am besten in einem liebevollen Rahmen.

Kinder sollten versuchen, den Eltern keine Vorwürfe zu machen. Es gehe nicht um Schuldzuweisungen. Ziel des Gesprächs ist es, das Verhältnis zu Vater und Mutter zu verbessern.

Verhaltenstherapeutin Annika Gieselmann betont, dass die direkte Konfrontation mit den Eltern bei der Aufarbeitung von negativen Kindheitserlebnissen nicht die wichtigste Rolle spiele. Häufig habe man ein festes Bild von den Eltern im Kopf. Entscheidend sei, sich mit diesem inneren Bild auszusöhnen.

Dadurch lernt man, den Eltern auf einer neuen, erwachsenen Ebene zu begegnen, sagt die Psychotherapeutin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Düsseldorf. Das könne sich positiv auf die reale Beziehung zu Vater und Mutter auswirken.

Ulsamer rät, sich aus der Perspektive des Erwachsenen anzuschauen, wie das Leben der Eltern ablief, wie ihre Kindheit war, welche Schicksalsschläge sie vielleicht zu verkraften hatten.

Wer seine Eltern nicht wie ein Kind als übergeordnete Instanz betrachte, sondern wie einen Freund oder Kollegen, könne leichter Verständnis für ihr Verhalten aufbringen und vergeben. Auch Ähnlichkeiten könnten verbinden. Sich einzugestehen, den Eltern doch ähnlicher zu sein, als man dachte, gehört zum Erwachsenwerden dazu.

Aussöhnung, auch wenn die Eltern bereits tot sind

Ob die Eltern noch leben oder bereits gestorben sind, spielt Ulsamer zufolge für diese Aussöhnung keine Rolle. Auch wenn Vater und Mutter nicht mehr leben, sei es wichtig, Frieden mit ihnen zu schließen.

Wer als Erwachsener in bestimmten Situationen reagiere wie ein Kind, müsse sich fragen, ob der Grund dafür in der Kindheit liege, sagt Gieselmann. Frühe negative Erfahrungen führen häufig dazu, dass Erwachsene unangemessen heftig reagieren.

Wer beispielsweise als Kind immer gehört habe: "Das schaffst du eh nicht", der reagiert als Erwachsener möglicherweise panisch auf Prüfungssituationen.

Diese erlernten Verhaltensschemata zu erkennen, sei ein großer erster Schritt. Hilfreich auf diesem Weg können neben einer Psychotherapie auch Selbsthilfegruppen sein.

Es sei gut, sich auszutauschen und zu erfahren, dass man mit seinem Problem nicht allein ist. Wer eine Gruppe sucht, kann sich an Nakos wenden: die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen.

Ist dort keine passende Gruppe registriert, empfiehlt Svenja Jantje Speckin, selbst eine solche Gesprächsrunde zu gründen. Sie ist Selbsthilfeberaterin bei Kiss, den Kontakt- und Informationsstellen für Selbsthilfegruppen in Hamburg. Wer das Thema der Gruppe genau definieren kann, dem helfe die Kontaktstelle, weitere Mitglieder zu finden.

Um sich mit Eltern und Kindheit auszusöhnen, empfiehlt Bertold Ulsamer therapeutische Hilfe. "Es ist schwierig, das allein zu machen", sagt er. Wichtig sei auch, den Eltern gegenüber Dankbarkeit zu entwickeln - auch, wenn es schwerfällt. Denn Dankbarkeit sei ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Versöhnung.

dpa/oc