Im April wurde in den USA eine Frau aus dem Gefängnis entlassen, die vor ihrer Verurteilung nie wegen Gewalttätigkeit auffällig geworden war. Wegen Mordes an einem Säugling zu einer Haftstrafe von 20 Jahren verurteilt, hatte sie fast die Hälfte davon verbüßt. Jennifer Del Prete, ehemalige Angestellte einer Kindertagesstätte, hatte während der gesamten Haftzeit ihre Unschuld beteuert. Sie war für schuldig befunden worden, die vier Monate alte Isabella Zielinski geschüttelt zu haben, nachdem die Kleine bewusstlos geworden war. Das Kind wachte aus dem Koma nie mehr auf und starb zehn Monate später im Krankenhaus.

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Während Del Pretes Prozess blieb die Staatsanwaltschaft bei der Behauptung, es handele sich um einen klassischen Fall eines schweren, absichtlich herbeigeführten Schütteltraumas (im Englischen »Shaken Baby Syndrom« und neuerdings offiziell als »Abusive Head Trauma« bezeichnet), und führte medizinische Sachverständige ins Feld, die dies bestätigten.

»Wegweisendes« Urteil

Doch der amerikanische Bezirksrichter Matthew Kennelly, der jetzt Del Pretes Freilassung anordnete, ist von dem Urteil Schütteltrauma nicht überzeugt, ja nicht einmal davon, dass die charakteristischen Symptome, die für die Diagnose vorliegen müssen, ausreichen, um jemanden wegen Kindesmissbrauchs oder Mordes zu verurteilen.

Die Website Care2.com berichtet:
In seiner umfassenden 97-seitigen Begründung der Entscheidung verweist Kennelly auf die umstrittene wissenschaftliche Grundlage des Schütteltraumas, er sagt sogar: »Ein Schütteltrauma zu behaupten, ist eher ein Glaubensgrundsatz als eine wissenschaftliche Aussage.«
Kennellys Entscheidung gilt in einigen Kreisen als wegweisend, denn zum ersten Mal wird darin die Diagnose Schütteltrauma - die in ungezählten Gerichtssälen aufrecht erhalten wird und aufgrund derer Hunderte wegen Kindesmisshandlung und Mord verurteilt wurden - als unzuverlässig zurückgewiesen.

Seit den 1990er Jahren seien laut der genannten Website über 1000 Fälle von Schütteltrauma vor Gericht verhandelt worden. Die Hälfte bis drei Viertel dieser Fälle beruhten auf einer Trias von mit dem Schütteltrauma in Verbindung gebrachten Symptomen als einzigem medizinischen Indiz, das das Verbrechen »bewies«. Diese Trias von Symptomen - subdurale Blutung (eine Blutung zwischen harter Hirnhaut und Gehirn), Netzhautblutung und Gehirnschwellung - wird von Staatsanwälten als unanfechtbarer Beweis betrachtet, der alle maßgeblichen Aspekte des Falles bestimmt, beispielsweise wie das Kind starb (durch heftiges Schütteln), wer schüttelte (der Letzte, der bei dem Kind war) oder wie der Geisteszustand zum Zeitpunkt des Mordes war (wütend und vorsätzlich).

Impfreaktionen können Schütteltrauma-Symptomen sehr ähnlich sehen

Zusätzliche körperliche Symptome wie Schrammen und Schnittwunden, die man in Fällen von extremem Kindesmissbrauch erwarten würde, brauchten in der Regel nicht vorzuliegen, um jemanden schuldig zu befinden, ein Schütteltrauma verursacht zu haben. Es war auch nicht nötig, Zeugen anzuhören. Man war so von der Aussagekraft der Trias überzeugt, dass die drei Symptome allein ausreichten, um über die Schuld eines Angeklagten zu richten:
Das ist aus verschiedenen Gründen beunruhigend, nicht zuletzt deshalb, weil die wissenschaftliche Grundlage der Trias mittlerweile in Zweifel gezogen wird. Viele Ärzte beobachten jetzt dieselben Symptome, die früher zur zweifelsfreien Diagnose eines Schütteltraumas dienten, auch bei anderen Krankheiten wie Infektionen oder Blutgerinnungsstörungen. Andere Erkenntnisse stellen die Annahme infrage, das Schütteln müsse notwendigerweise heftig und absichtlich herbeigeführt worden sein, um solche Symptome zu verursachen.
Darüber hinaus nehmen einige Experten an, dass negative Reaktionen auf Impfstoffe, die ähnliche Symptome verursachen können wie das Schütteltrauma, für den Tod einiger Babys verantwortlich sind.

»Del Pretes Fall kann uns viel mehr lehren als die Kontroverse, die das Schütteltrauma umgibt«, heißt es bei Care2.com. »Er führt uns vor Augen, wie wichtig es ist, dass Beweise nicht nur auf einer Vorstellung allein beruhen. Theorie ist wichtig, aber sich übermäßig darauf zu verlassen, ist unter Umständen ähnlich, wie sich auf die Aussage eines einzelnen Zeugen zu verlassen, wenn alle anderen nichts Beschuldigendes zu sagen haben. Wir müssen bei unseren Prozessen alles berücksichtigen, wenn der Satz ›Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils‹ seinen Wert behalten soll.«