Wohlfühl-, Kuschel-, Treue-, Liebes- oder auch Vertrauenshormon: Blumige Bezeichnungen für Oxytocin gibt es viele. Tatsächlich heben immer neue Studien die Bedeutung des Hormons im sozialen Miteinander hervor - doch so manches Ergebnis steht auf tönernen Füßen.
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Es macht freundlich, monogam und angstfrei - aber auch neidisch, unachtsam und vertrauensselig: Die Liste dem Hormon Oxytocin zugeschriebener Wirkungen ist lang. "Einige Studien sind methodisch fragwürdig", betont der Freiburger Psychologe Markus Heinrichs, ein Pionier der Oxytocin-Forschung am Menschen. Den Ergebnissen fehle dadurch die wissenschaftliche Basis. "Die Interpretationen sind mitunter schon fast esoterisch."

Jahrzehnte war es als Wehen- oder Stillhormon nur in der Geburtshilfe bekannt. Dann zeigten Versuche mit Nagern, dass es zudem das soziale Miteinander außerhalb von Mutter-Kind-Beziehungen beeinflusst und Stress oder Angst reduzieren kann. Bei der Paarung etwa wird Oxytocin im Gehirn aktiviert, fördert die Paarbindung und die Partner-Erkennung, vermindert gleichzeitig das generelle Angstverhalten, legt Stress-Systeme ruhig und steigert das allgemeine Wohlbefinden.

Ende der 90er lachten Experten noch über die Idee

Dass der Botenstoff, mit einem Nasenspray verabreicht, auch beim Menschen soziales Verhalten verändern könnte, habe zunächst als völlig abwegig gegolten, sagt Heinrichs. "Viele hoch angesehene Experten haben Ende der 90er Jahre schallend gelacht über diese Idee."

"Wie eine Bombe" habe dann eine 2005 im Fachjournal Nature präsentierte Studie eingeschlagen, sagt René Hurlemann vom Uniklinikum Bonn. Die Forscher um Heinrichs, der damals an der Universität Zürich lehrte, hatten Probanden Oxytocin oder ein wirkungsloses Placebo in die Nase gesprüht. Dann bekamen die Studenten die Rolle eines Kreditgebers. Das Ergebnis: Mit Oxytocin entschieden sie großzügiger, ihr Vertrauen in andere war offenbar erhöht.

Mit Nasenspray Menschen steuern

Damit war erstmals gezeigt, dass auch ein so komplexes Wesen wie der Mensch mit einem einfachen Hormon-Nasenspray beeinflusst werden kann. Die Skepsis in der Fachwelt war zunächst groß, dann aber folgte schier grenzenlose Begeisterung. Inzwischen habe die Forschung inflationäre Ausmaße erreicht, sagt Heinrichs. "Es ist offenbar eine regelrechte Mode, jeder möchte auch mal eine Oxytocin-Studie machen."

Entsprechend lang ist die Liste interessanter Ergebnisse: Werde Menschen mit einem Nasenspray Oxytocin verabreicht, nehme ihre kognitive Empathie zu, sagt Hurlemann. Es falle ihnen leichter, an der Augenpartie eines Gegenübers abzulesen, wie es diesem gehe. Eine andere Analyse habe gezeigt, dass sich die Amygdala-Aktivität bei Teilnehmern reduziert, die Oxytocin über die Nase erhielten. In der Folge reagierten sie weniger auf angstauslösende Bilder.

Oxytocin macht Männer monogamer

Gezeigt worden sei auch, dass sich die soziale Empathie mit dem Hormon verstärken lässt - etwa das Mitgefühl mit Menschen in einer schlimmen Lebenssituation. Gleiches gelte für das Lernen aus sozialem Feedback wie wohlwollenden oder bösen Blicken. Auf großes öffentliches Interesse stieß Ende 2013 ein Ergebnis der Forscher um Hurlemann: Wird Männern via Nasenspray Oxytocin verabreicht, wird ihr Belohnungszentrum im Gehirn beim Anblick der eigenen Partnerin stärker aktiviert. Die Zweierbindung und monogames Verhalten würden dadurch gestärkt, hieß es.

Beim Anblick anderer Frauen bleibe der Effekt aus, erklärt Hurlemann zu der im Fachmagazin PNAS präsentierten Studie. In einer Analyse zuvor hatte das Team bereits gezeigt, dass in Partnerschaften gebundene Männer unter Oxytocin-Einfluss mehr Abstand zu attraktiven fremden Frauen wahren als Singles oder unbehandelte Männer. "Das war überraschend", sagt der Bonner Neurowissenschaftler. Offenbar verstärke das bei Umarmungen und beim Sex ausgeschüttete Hormon die Treue, so die Interpretation der Gruppe im Journal of Neuroscience.

Die dunkle Seite des Kuschelhormons

Doch nicht nur Positives wurde vermeldet: Wiener Forscher berichteten, dass sich frisch verliebte Meerschweinchen mit erhöhtem Oxytocin-Spiegel die Lage eines Futterplatzes partout nicht merken können. Eine Studie in PNAS beschrieb, dass bei Rhesusaffen unter Einfluss des "Kuschelhormons" die Wachsamkeit schwindet. Und Psychologen der Universität Haifa fanden heraus, dass Oxytocin bei Menschen negative Gefühle wie Schadenfreude und Neid verstärken kann.

Alles Kinkerlitzchen verglichen mit der "dunklen Seite" des Hormons, über das Forscher um den niederländischen Psychologen Carsten de Dreu in Science und PNAS berichteten: In Gruppenspielen um Geld bevorzugten Menschen unter Oxytocin-Einfluss das eigene Team weit stärker. Wurde die unbewusste Haltung niederländischer Studenten gegenüber Arabern und Deutschen getestet, fiel diese mit intranasal verabreichtem Hormon weniger wohlwollend aus.

Tiere mit hohem Oxytocin-Spiegel reagieren friedlicher

Oxytocin schüre offenbar Vorurteile, Fremdenangst und Gewalt zwischen den Mitgliedern verschiedener Gruppen, so die Schlussfolgerung des Teams der Universität Amsterdam. "Das wurde stark kritisiert", erläutert Heinrichs. Die eigenen Leute zu bevorzugen, sei nicht mit Aggression anderen gegenüber gleichzusetzen. "Das wurde zunächst nicht korrekt interpretiert von De Dreu."

Evolutionsbiologisch ist Oxytocin dafür verantwortlich, die eigene Gruppe, die eigenen Gene durchzubringen - das zeigt allein schon seine Bedeutung beim Gebären, Stillen und der Paarbildung. "Soziale Bindungen schotten sich immer nach außen ab, notfalls werden die eigenen, genetisch nahe stehenden Leute auch verteidigt", betont die Regensburger Neurobiologin Inga Neumann. Schutz nach innen bedeute automatisch auch Ablehnung nach außen. Das zeige allein schon das Aggressionsverhalten von Muttertieren und auch Vätern, wenn die Nachkommen angegriffen werden. Mit verstärktem Fremdenhass habe das nichts zu tun. Ihre Studien zeigten vielmehr, dass Tiere mit hohem Oxytocin-Spiegel weniger aggressiv auf Artgenossen reagierten.

Oxytocin löscht negative Sozialerfahrungen

Sozialverhalten, Affen
© dpaOxytocin lässt Tiere negative Sozialerfahrungen vergessen.
Gut zeigen lasse sich im Tiermodell auch der Einfluss auf soziale Präferenzen und Ängste. "Oxytocin sorgt dafür, dass Mäuse lieber einen unbekannten Artgenossen beschnüffeln als ein unbekanntes Objekt", erklärt die Regensburger Neurobiologin Inga Neumann. "Und es kann negative Sozialerfahrungen löschen." Dies gelte etwa, wenn ein Tier für den Kontakt zu einem Artgenossen zunächst schmerzhaft "bestraft" werde. In der Folge meide es Gesellschaft. Eine Oxytocin-Gabe könne diese Konditionierung wieder komplett aufheben.

Mittel gegen Autismus?

Solche Ergebnisse lassen Experten auf ein therapeutisches Potenzial Oxytocins beim Menschen hoffen. "Wenn es das prosoziale Hormon ist und soziale Ängste reduziert, hilft es eventuell bestimmten Patienten", sagt der Freiburger Psychologe Markus Heinrichs. Defizite im sozialen Miteinander kennzeichnen psychiatrische Leiden wie Autismus, soziale Phobie, Borderline-Störung und Schizophrenie.

Das Hormon sei aber kein Medikament, das man einfach dreimal täglich allein in der Küche einnehmen könne. "Es gehört immer eine spezielle Kombinationstherapie dazu", betont der Psychologe. "Die Arbeit leistet der Psychotherapeut, das Hormon kann ihn nur unterstützen." Die bisherigen Anläufe zeigten keine Nebenwirkungen. "Die klinischen Studien laufen aber alle noch", betont Heinrichs. Sichere Ergebnisse zu Wirksamkeit und Verträglichkeit liegen noch nicht vor.

Langfristig negative Auswirkungen auf den Körper

Neumann warnt vor allzu euphorischen Erwartungen. "Oft wird Patienten einmal Oxytocin gegeben und es ist ein schöner Verhaltenseffekt zu sehen", erklärt die Neurobiologin. "Aus Tierversuchen gibt es Hinweise, dass eine fortwährende Gabe zunehmend die Bindungsstellen für das Hormon im Gehirn inaktiviert." Ein solcher Gewöhnungseffekt könnte dazu führen, dass die erzielte Verbesserung bei gleichbleibender Dosis immer geringer ausfällt. "Vor allem aber kann das körpereigene Oxytocin nicht mehr normal wirken - das hätte langfristig verheerende Auswirkungen."

Genaue Wirkung beim Menschen noch unklar

Problematisch sei zudem das geringe Grundlagenwissen. "Wir wissen, dass es beim Menschen wirkt, aber wir wissen nicht, wie und wo genau", sagt Neumann. Oxytocin wirke auf viele und ganz verschiedene Signalkaskaden und Gene in den Nervenzellen. Ihr Zusammenspiel sei im Einzelnen meist ebenso unklar wie die genetischen Grundlagen. Heinrichs Team zeigte vor einiger Zeit, dass genetische Varianten des Oxytocin-Rezeptorgens bei Menschen mit unterschiedlicher sozialer Sensitivität einhergehen.

Solche Faktoren würden bei Studien oft noch viel zu wenig berücksichtigt, kritisiert Neumann. Hinzu kommt demnach, dass die Oxytocin-Konzentration im Gehirn nicht über den Spiegel im Blut erfasst werden kann - Forscher in ihren Studien aber oft diesen Eindruck erwecken. Ob im Blut zirkulierendes Oxytocin überhaupt das Zentralnervensystem beeinflusst, ist nicht klar, da das Gehirn durch die Blut-Hirn-Schranke komplett abgeschottet wird. Studien mit Interpretationen von Oxytocin-Spiegeln im Blut sehen sowohl Neumann als auch Heinrichs daher als methodisch fragwürdig an.

Wissen statt Klischee

Neben dem möglichen Einsatz in Therapien sei der zweite wichtige Forschungsstrang, die Mechanismen hinter der Wirkung besser zu verstehen, betont Heinrichs. "Wir dürfen nicht den Fehler wiederholen, Präparate einzusetzen, bevor ihre Mechanismen und Wirkweise ganz geklärt sind." Dies werde noch Jahre dauern. Oxytocin gelte als Bindungshormon, so wie Cortisol mit Stress und Testosteron mit Aggressivität verbunden sei. "Solche Hormonklischees fassen aber viel zu kurz." Das Zusammenspiel der Botenstoffe im Körper sei hochkomplex, die Wirkungen vielfältig.

Umso mehr sei davor zu warnen, selbst zum Oxytocin-Fläschchen zu greifen. Im Internet lassen sich verschiedene Präparate wie "Liquid Trust" bestellen - für teils absurd hohe Preise. Alle Experten warnen einhellig vor dem Kauf solcher Produkte, deren tatsächlicher Inhalt ohnehin unklar sei. "Die Versprechungen sind totaler Quatsch", betont Heinrichs. "Es gibt genügend natürliche Wege, die Oxytocin-Freisetzung zu steigern", ergänzt Hurlemann. "Umarmungen oder andere zärtliche Berührungen zum Beispiel."

Oxytocin-Forschung steht noch ganz am Anfang

Eine kürzlich veröffentlichte Studie zeigt ein Beispiel dafür, welche Facetten das "Kuschelhormon" haben kann: Der Signalstoff wirkt demnach dem altersbedingten Muskelabbau entgegen und verbessert die Regeneration nach Verletzungen - zumindest bei Mäusen. Fehlt Oxytocin aufgrund eines genetischen Defekts, führt das zu frühzeitigem Muskelschwund, berichten Forscher um Christian Elabd von der University of California im Fachjournal Nature Communications.

Noch ist unklar, ob das Hormon auch beim Menschen ein entscheidender Faktor bei der Erhaltung und Erneuerung der Skelettmuskulatur sein könnte. Weitere Überraschungen zur vielfältigen Wirkung des Oxytocins dürften jedenfalls folgen. Noch stehe die Forschung da ganz am Anfang, betont Heinrichs. "Ein Großteil der spannenden Fragen ist noch unbeantwortet."

dpa