Nach Auffassung vieler, die dem Narrativ des Westens zum anhaltenden Konflikt in der Ukraine folgen, sind die Russen bereits »in die Ukraine einmarschiert«. Trotz der absurden Behauptung, ein nuklear-bewaffnetes Russland sei dabei, in die Ostukraine »einzumarschieren« und trotz der ramponierten, planlos agierenden Streitkräfte Kiews in ihren zusammengeschusterten Uniformen, denen oft die täglichen Rationen fehlen, halten viele Menschen an ihrer Überzeugung fest, die offensichtliche Unfähigkeit der Regierung in Kiew, die Kontrolle über die östlichen Regionen zurückzugewinnen, sei in erster Linie auf das »Eingreifen« Russlands zurückzuführen.

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Auch wenn der Westen behauptet, Russland sei bereits in die Ukraine »einmarschiert«, muss das Schreckensbild einer »bevorstehenden russischen Invasion der Ukraine« immer wieder dazu herhalten, die westliche Öffentlichkeit zu terrorisieren und zu empören - als wenn eine »weitere Invasion«, eine »Re-Invasion« sozusagen, bevorstehe.

Am 6. Juli veröffentlichte der Business Insider einen Artikel mit der Überschrift »Russland ist praktisch schon in die Ostukraine einmarschiert - Wie wird der Westen darauf reagieren?« Darin heißt es (Hervorhebungen vom Verfasser):
»Was Putin angeht, so scheint er, zumindest für den Moment, eine frontale Invasion auszuschließen. Am 24. Juni forderte er in einer theatralischen Geste das immer loyale Unterhaus des Parlaments auf, die Ermächtigung zum Einsatz militärischer Mittel in der Ukraine, die er Anfang März gefordert hatte, zurückzunehmen. Bei diesem Schritt handelte es sich im Wesentlichen um eine leere Geste gegenüber Poroschenko und um einen weiteren Versuch, weitere Sanktionen des Westens zu verhindern. Aber selbst wenn eine Invasion mit Panzern und Soldaten unwahrscheinlich sein sollte, hat eine russische Invasion anderen Typs bereits vor langem begonnen: eines Typs, der dem aalglatten, postmodernen Krieg ähnelt
Da der ukrainische Vormarsch gegen die ukrainischen Bürger im Osten ins Stocken geraten ist, würden nur Kiew und seine Unterstützer sowohl in der Europäischen Union (EU), als auch die mit ihr zusammenarbeitenden NATO-Staaten von einer tatsächlichen russischen Invasion profitieren. Trotz aller Versuche, den Abzug der lokalen Verteidigungskräfte aus der Stadt Slawjansk in der Region Donezk als »Rückzug« und »Wendepunkt« im Konflikt zugunsten Kiews darzustellen, muss Kiew weiterhin schwere Verluste hinnehmen. Erst vor kurzem wurde offenbar eine Tankzug-Kolonne mit 40-70 Fahrzeugen in Luhansk zerstört.

Und die BBC berichtete in ihrem Artikel mit der Überschrift »Ukraine-Konflikt: In der Nähe der Stadt Luhansk flackern Kämpfe auf«:
»Außerhalb der von Rebellen gehaltenen ostukrainischen Stadt Luhansk flackern Kämpfe auf. Die Rebellen behaupten, die Regierungseinheiten hätten versucht, mit Panzern in die Stadt einzudringen.

Der Militärführer der Rebellen, Igor Strelkow, wurde mit den Worten zitiert, seine Einheiten hätten Marschkolonnen gepanzerter Fahrzeuge, die von Süden und Westen her angriffen, zurückgeschlagen.«
Im selben Artikel heißt es auch:
»Eine Quelle aus der Umgebung des ukrainischen Präsidenten erklärte gegenüber Ukrajinska Prawda, eine gepanzerte Einheit versuche, Truppen zu entlasten, die seit Wochen am Flughafen von Luhansk blockiert seien.

Strelkow (der Kampfname von Igor Girkin) erklärte, die Rebellen hätten zwei gepanzerte Marschkolonnen der Regierung mit zwischen 40-70 Panzern zurückgeschlagen.«
Wenn aber die Streitkräfte Kiews in Luhansk eingekreist wurden und die Einsatzkräfte offenbar vernichtet wurden - ein Mini-Stalingrad −, hätte Russland keinerlei Grund für einen Einmarsch in die Ukraine. Immer noch versucht der Westen das Image der ukrainischen Armee zu retten, die zunehmend erfolglos agiert und so viele zivile Opfer wie Niederlagen auf dem Schlachtfeld aufweist.

Die Washington Post meinte dazu vor dem Hintergrund der jüngsten Rückschläge Kiews in Luhansk unter der Überschrift »Russland warnt Ukraine vor ›unumkehrbaren Folgen‹ nach Granateneinschlägen auf russischem Gebiet«:
»Am Sonntag warf Russland der Ukraine vor, eine Granate über die Grenze geschossen und dabei einen russischen Zivilisten getötet zu haben, und warnte vor ›unumkehrbaren Folgen‹. Diese scharfe Rhetorik ließen Befürchtungen vor einer russischen Invasion in den Osten der Ukraine aufkommen.

Diese Beschuldigungen, die von offizieller ukrainischer Seite zurückgewiesen wurden, haben in Russland wütende Angriffe ausgelöst. So forderte ein hochrangiger Abgeordneter Präzisionsluftangriffe auf ukrainisches Territorium von der Art, wie sie Israel in Gaza durchführe.«
Der Versuch durch Übertreibungen, die angeblich ein einzelner russischer Abgeordneter geäußert haben soll, Ängste vor einer bevorstehenden russischen Invasion hervorzurufen, ist ein schon häufig angewendeter Propagandatrick seitens westlicher Medien, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Obskure Zitate früherer »Regierungsvertreter« im Iran wurden hinterlistig dazu benutzt, die gesamte iranische Außenpolitik mehr als einmal in ein schlechtes Licht zu rücken. Die Washington Post behauptet auch im Zusammenhang mit dem Konflikt in der Ukraine:
»Der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärte in der vergangenen Woche, sein Land sei darauf vorbereitet, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, sein Territorium zu verteidigen - eine Stellungnahme, die anscheinend die Option eines offenen Eingreifens in der Ukraine offen halten sollte.«
Das Bestreben des Westens, Russland als »Invasoren der Ukraine« darzustellen, geht auf die Überzeugung zurück, Russlands politischen Einfluss auf diese Weise zu verringern und einer deutlich aggressiveren Unterstützung der NATO für das geschwächte Regime in Kiew die Tür zu öffnen. Eine vermeintliche russische Aggression würde es leichter machen, die NATO- und EU-Mitgliedsländer, die sich bisher den Sanktionen und den Verurteilungen Russlands verweigert hatten, zu überzeugen, eine stärker antirussische Haltung einzunehmen.

Warum Russland keinen Grund für einen Einmarsch in die Ukraine hat

Ob Russland nun bereits verdeckt die Kämpfer in der Ukraine unterstützt oder nicht, hat praktisch keine Auswirkungen auf die nichtexistierende Notwendigkeit, direkt in der Ukraine einzumarschieren. Wenn Russland die Kämpfer in der Ukraine nicht unterstützt, sind diese offenbar sehr gut in der Lage, den Einheiten Kiews eigenständig und erfolgreich mit klassischer Guerillakriegsführung entgegenzutreten. Sollte Russland die Kämpfer in der Ukraine bereits verdeckt unterstützen, muss es seine Unterstützung nur verstärken. Der Westen wirft Russland ohnehin bereits vor, gepanzerte Fahrzeuge in Richtung Ukraine über die Grenze zu lassen - Wie könnte Russland das dann noch steigern, damit es eine offene »Invasion« wäre?

Sollten die ukrainischen Provokationen nicht zu offensichtlich werden, würde Russland von einem grenzüberschreitenden Eingreifen nicht profitieren. Die bisherige Zurückhaltung Russlands hat die westliche Doktrin der »Schutzverantwortung« (R2P) als verkleideten Imperialismus entlarvt. Wenn in diesem Konflikt überhaupt je ein »Eingreifen aus humanitären Gründen« geboten gewesen wäre, dann beim Angriff Kiews auf die Ostukraine mit Kampfflugzeugen, Panzern und Artillerie - wobei willkürlich Bevölkerungszentren beschossen wurden, um vom Fehlen fähiger Bodentruppen abzulenken, die erforderlich gewesen wären, um genauer und unter besserem Schutz der Zivilbevölkerung gegen die Gegner Kiews vorzugehen. Dass der Westen dieses Vorgehen nicht verurteilt, sondern eher ermutigt, macht es praktisch unmöglich, R2P als Rechtfertigung für einseitige, weltweite militärische Aggression zu benutzen.

Würde sich Russland seinerseits auf R2P beziehen, würde dies diese umstrittene Politik legitimieren und könnte sogar dazu beitragen, sie in anderen Krisenregionen weltweit einzusetzen.

Aus vielen Gründen würde Russland aus einer Invasion in die Ukraine keinen Vorteil ziehen, aber aus sehr viel zahlreicheren Gründen würden die NATO und die EU davon profitieren - zumindest rhetorisch. Russland wird daher aller Wahrscheinlichkeit nach auf Provokationen der Ukraine nicht mit einem grenzüberschreitenden Eingreifen reagieren, auch weil es der NATO keinen Vorwand liefern will, sich in Osteuropa einzumischen. Stattdessen wird Russland zulassen, dass Kiew weiterhin seine Brutalität und Inkompetenz in den Kampfgebieten unter Beweis stellt, während die Ostukraine weiterhin erfolgreich gegen die Einheiten aus Kiew vorgehen wird. Der wirtschaftliche Druck wird das Regime in Kiew weiterhin schwächen und dazu führen, dass es weitere Unterstützer in der Westukraine verliert.

Die Uhr tickt, und für die Ostukrainer ist ein deutlicher militärischer Sieg über die Kräfte Kiews nicht notwendig, um ihre Ziele zu erreichen. Eine störende Guerillakampagne gegen Kiew könnte diesen Countdown unterbrechen, bis entweder ein Aufstand oder der wirtschaftliche Druck, das Regime zum Einlenken zwingt, und Versuche, seinen Einfluss weiter nach Osten auszudehnen, um seine Macht zu festigen, unmöglich sein werden.