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Mit dem Fall Mollath ist die Kritik an psychiatrischen Gutachten wieder aufgeflammt. Sie sollen beurteilen, wie gefährlich Straftäter sind. Die Betroffenen fühlen sich schnell wie in Kafkas „Process“.

Die Kennung ICD 10: F 22.0 bedeutete für Gustl Mollath sieben Jahre Zwangsunterbringung in der geschlossenen Psychiatrie. Dahinter verbirgt sich die Diagnose „Wahnhafte Störung“. Im ersten Strafverfahren vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth war für den Gerichtsgutachter klar: Mollath ist psychisch schwer krank und weiterhin gefährlich. Ein anderer Psychiater sprach von einer „groben Falschbegutachtung“ und sah weder Anzeichen einer psychischen Erkrankung noch der Gemeingefährlichkeit. Solche eklatanten Widersprüche zwischen Gutachtern sind eher die Regel als die Ausnahme. Auch den rechtsradikalen Norweger Anders Breivik hielten die einen Ärzte für schizophren, die anderen für voll zurechnungsfähig.

Doch eine der beiden Einschätzungen muss falsch sein. Sachverständige gehen selbst davon aus, dass ein beträchtlicher Anteil ihrer Gutachten fehlerhaft ist. Nobert Nedopil, Gutachter im Wiederaufnahmeverfahren gegen Gustl Mollath, schätzt die Fehlerquote bei der Prognose über die Gefährlichkeit auf sechzig Prozent. Wie ziehen Gerichtsgutachter die Linie zwischen „böse“ und „verrückt“? Wann ist jemand ein anstrengender, aber gesunder Querulant, wann ein Wahnkranker? Wo hört die „Persönlichkeitsakzentuierung“ auf, und wo fängt die Persönlichkeitsstörung an? Die Konsequenzen sind gravierend: Der psychisch kranke Straftäter ist schuldunfähig, muss also freigesprochen werden.

Argumente des Angeklagten zählen nicht

Doch er wird für unabsehbare Zeit im psychiatrischen Krankenhaus weggeschlossen und erst entlassen, wenn von ihm keine Gefahr mehr ausgeht - und das kann bis zu seinem Tod dauern. Der gesunde Straftäter dagegen verbüßt seine Strafe und ist danach ein freier Mensch. Hätte das Gericht Mollath für schuldfähig gehalten, wäre er mit einer Bewährungsstrafe davongekommen - statt sieben Jahren im Maßregelvollzug. „Der Fall Mollath hat in der Gesellschaft archaische Befürchtungen vor der Machtlosigkeit gegenüber Psychiatern aktiviert“, sagt Christian Vogel, stellvertretender Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher Psychiater (BVDP). Man denkt an Kafkas „Process“. Argumente des Angeklagten zählen nicht.

Ein Gefühl der Ohnmacht. Mollath scheint es kaum anders ergangen zu sein: Ob es tatsächlich ein „komplexes System von Schwarzgeldverschiebungen“ gegeben hat, wurde nicht aufgeklärt. Trotzdem waren ebendie Berichte über die vermeintlichen illegalen Geschäfte Grundlage für die Diagnose der wahnhaften Störung. „Das reale Geschehen spielt lediglich eine untergeordnete Rolle“, befand ein Psychiater bei einer gerichtlichen Anhörung zur Unterbringung Mollaths. Die fehlende Krankheitseinsicht sei ja gerade typisch für den Wahn. Es ist eine psychiatrische Grunderkenntnis, dass meist ein „Körnchen Wahrheit“ im Wahn steckt. Ist es bei solchen Erklärungen nicht verständlich, dass man zum Kohlhaas wird?

„Auf Pechsträhnen irrational oder sogar mit Racheaktionen zu reagieren ist noch kein Zeichen einer Krankheit“, sagt Rüdiger Müller-Isberner dazu. Seit dreißig Jahren ist er Direktor der Forensischen Psychiatrie in Gießen und Haina. „Das Verhalten ist erst medizinisch relevant, wenn der Anlass sich verselbständigt und alle Proportionen verlorengehen.“ Wenn also ein Nachbarschaftsstreit zum Lebensinhalt wird. Es gebe zwei Kriterien, nach denen er zwischen „normal“ und „krank“ unterscheidet: Leidet der Mensch unter seinem Zustand? Bekommt er sein tägliches Leben auf die Reihe?

Kriterien - das klingt nach Wissenschaft. Aber bei der menschlichen Psyche bleiben doch immer Unsicherheitsfaktoren. Was eine „seelische Abartigkeit“ ist, ist eine reine Wertungsfrage - entscheidet aber letztlich darüber, ob ein Straftäter schuldhaft oder schuldlos handelt. Wie „normal“ sind eigentlich Terroristen? Die RAF-Mitglieder hielten die Gerichte für voll schuldfähig, aber ist es nicht krank, einen Guerrillakampf gegen das „faschistoide System“, gegen die „Schweine in Uniform“ zu führen? „Sie haben sich abgekapselt und gegenseitig aufgeschaukelt. Das sind normale psychologische Prozesse“, sagt Müller-Isberner. Auch Menschen, die sich ganz einer Sekte verschreiben und ihr Leben vollständig selbst entwürdigenden Ritualen unterwerfen, hält er in aller Regel nicht für krank.

„Vorsätzlich falsch“

„Das ist doch ihr freier Wille.“ Wichtig sei auch der kulturelle Hintergrund, sagt Müller-Isberners Kollege Christian Oberbauer, Chef der Forensischen Psychiatrie in Wiesloch: „Wenn ein Patient aus Afrika kommt und Geister hört, ist das anders zu bewerten als bei einem Deutschen.“ Auch die Brutalität einer Tat sei kein Anzeichen für Unzurechnungsfähigkeit. „Kriminalität zu psychiatrisieren ist der falsche Ansatz“, so Müller-Isberner. Dann wäre jeder Mörder, eben weil er ein Mörder ist, nicht schuldfähig. „Die meisten Täter treffen schlicht und einfach eine Entscheidung nach einer mehr oder weniger elaborierten Abwägung der Folgen und Risiken und auch der ethischen Aspekte.“

Gustl Mollath wollte mit den meisten seiner Psychiater nicht sprechen. Die Anwesenheit des Gutachters Nedopil bezeichnete er zu Beginn des Wiederaufnahmeverfahrens vor dem Landgericht Regensburg als „Damoklesschwert“. „Ich bekomme Beklemmungen und Angstzustände, die meine Verteidigungsmöglichkeit unmöglich machen“, sagte Mollath. Die fehlende Kooperationsbereitschaft hat ihm in der Vergangenheit geschadet, denn die Ablehnung von Diagnostik und Behandlung werteten die Psychiater als Argument für Mollaths fortdauernde Gefährlichkeit. Die einzige Möglichkeit ist in solchen Fällen ein Gutachten nach Aktenlage, also vor allem anhand von Verhaltensbeobachtungen der Tatzeugen und Aufzeichnungen der Vollzugsbeamten.

Müller-Isberner kann daran nichts Verwerfliches finden: „Um ein gebrochenes Bein zu diagnostizieren, reicht doch auch das Röntgenbild.“ Doch ist eine wahnhafte Störung nach außen hin so leicht zu erkennen wie ein Knochenbruch? Gustl Mollaths Unterstützer üben heftige Kritik - nicht nur an der Begutachtung nach Aktenlage. Sie halten die Gutachten, die den Angeklagten als wahnhaft einstufen, insgesamt für „grob unsinnig“ und „vorsätzlich falsch“. Gutachter Friedrich Weinberger, den die Unterstützer beauftragt haben, unterstellt seinem renommierten Kollegen Friedemann Pfäfflin eine „raffiniert angelegte“ und „bewusste Irreführung“ des Gerichts.

Richtern fehlt es an Fachwissen

Norbert Nedopil, der nun selbst Sachverständiger im Wiederaufnahmeverfahren ist, nahm seine Kollegen bei seiner mündlicher Stellungnahme im Landgericht Regensburg in Schutz. Wie es zur Diagnose einer wahnhaften Störung gekommen sei, sei nachvollziehbar, sagte Nedopil am vergangenen Freitag. Im vergangenen September noch hatte er allerdings bei einem Vortrag im Rahmen der polnisch-deutschen Psychiaterkonferenz von einer „Dilemmalage“ in der deutschen forensischen Psychiatrie gesprochen und in diesem Zusammenhang auch den Fall Mollath genannt. Dazu wäre es nicht gekommen, „wenn sich die Autoren der Gutachten und die Gerichte daran gehalten hätten, was in den Mindestanforderungen steht“.

In diesen Mindestanforderungen an forensische Gutachten über die Schuldfähigkeit von Straftätern und ihre Kriminalprognose, die eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe in den Jahren 2005 und 2006 entwickelt hat, heißt es unter anderem, dass ein Gutachter seine Erkenntnisquellen exakt wiedergeben, deutlich zwischen gesichertem medizinischen Wissen und seiner subjektiven Meinung trennen und verbleibende Unklarheiten offenlegen soll. In einem Fall, in dem der Sachverhalt nicht zweifelsfrei aufgeklärt wurde, sei es an sich üblich, verschiedene Hypothesen aufzustellen, sagt auch Oberbauer aus Wiesloch - also für den Fall, dass es die Konten in der Schweiz gibt und dass es sie nicht gibt.

Solche nicht eindeutigen Gutachten seien allerdings bei Gerichten nicht sonderlich beliebt. Zwar hat der Bundesgerichtshof schon mehrfach gerügt, die Gerichte dürften die Gutachten nicht ohne eigene kritische Prüfung übernehmen. Doch Richtern fehlt es in aller Regel an dem nötigen Fachwissen. Und sie scheuen zusätzliche Arbeit. Am liebsten sei es ihnen, der Gutachter halte ein Kärtchen hoch, auf dem „§20“ für schuldunfähig, „§21“ für vermindert schuldfähig steht, heißt es in Psychiaterkreisen hinter vorgehaltener Hand. Das Landgericht Regensburg wird Mollath wohl freisprechen. Weder die Reifenstecherei noch die Körperverletzung und Freiheitsberaubung zu Lasten der Ehefrau scheinen nachweisbar. Die Grundlage für eine Unterbringung ist nach Nedopils Diagnose, die Mollath „kompromisslos, penetrant, rigide und misstrauisch, aber nicht für psychisch krank“ nennt, entfallen. Der Fall Mollath wäre damit beendet.

Überprüfung erst nach einem Jahr

Die Konsequenzen, die im vergangenen Sommer das Bundesjustizministerium und zahlreiche Landesminister versprochen haben, stehen jedoch noch aus. Vor einem Jahr unterbreitete die damalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) Reformüberlegungen: Die Unterbringung in der Psychiatrie soll künftig auf drohende gravierende Straftaten beschränkt werden. Alle vier Monate ist den Überlegungen zufolge eine Überprüfung fällig statt wie derzeit erst nach einem Jahr; nach jeweils zwei Jahren soll ein externer Gutachter bestellt werden, nach sechs Jahren sollten zwei Sachverständige die psychische Verfassung unabhängig überprüfen.

Während Strafverteidigervereinigungen die Vorschläge noch nicht für ausreichend erachten, halten Müller-Isberner und sein Kollege Oberbauer eine Reform für nicht zwingend notwendig: „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit steht schon jetzt im Gesetz“, sagt Müller-Isberner. Eine geringfügige Anlasstat dürfe auch nach geltendem Recht an sich nicht dazu führen, dass ein Straftäter für Jahrzehnte in der Psychiatrie verschwindet. „Die Gerichte müssten sich daran nur halten.“ Oberbauer sieht ein anderes Problem: „Für manche Menschen gibt es einfach keinen Platz. Sie sind nicht gemeinschaftsfähig, keine Nachsorgeeinrichtung will sie haben.“

Die Folge: Die Verweildauer im Maßregelvollzug nimmt ständig zu - und damit auch die Zahl der Untergebrachten: Im Jahr 2012 waren nach Angaben des Statistischen Bundesamts in den alten Bundesländern 6750 Straftäter in der forensischen Psychiatrie (gesamtdeutsche Zahlen gibt es nur bis 2010), im Jahr 2000 waren es nur gut 4000 Personen. Richter und Gutachter wollen nicht für Straftaten nach der Entlassung verantwortlich gemacht werden. Dass psychiatrische Kliniken zuweilen als „Dunkelkammern des Rechts“ bezeichnet werden, kann keiner der beiden Ärzte verstehen. „Kaum jemand hat so viel Rechtsschutz wie die Patienten im Maßregelvollzug“, so Müller-Isberner, „unsere Patienten können sich gegen jede Kleinigkeit gerichtlich wehren, auch wenn sie nur fünf statt sechs Kartoffeln auf dem Teller haben.“

„Die können doch gar nicht lesen“

Die Frage ist freilich, wie ernst die Leitung des Krankenhauses, die Strafvollstreckungskammer oder das Sozialministerium die Beschwerde eines Menschen nimmt, dem querulatorische Züge attestiert wurden. Auf die im Internet veröffentlichte Strafanzeige gegen Müller-Isberner angesprochen, lächelt er nur müde. Die Vorwürfe, die ein „Dipl. Mediziner“ gegen ihn erhebt, lauten: „Womöglich falsche Verdächtigung, womöglich im Amt. Ausstellung und Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse, fortwährend unterlassene Hilfeleistung gegenüber Schutzbefohlenen, Freiheitsberaubung. Korruptionsdelikte/ bandenmäßiger Betrug/ organisierte Wirtschaftskriminalität durch ,Gesundheitskonzern‘-Verantwortliche“.

Die Teilnehmer des Psychoseseminars an der Wiesbadener Hochschule RheinMain können von ganz anderen Erfahrungen berichten, wenn auch nicht in Maßregelvollzug, sondern in der Psychiatrie. „Rechtliche Möglichkeiten? Das ist für mich schwarzer Humor“, sagt eine Frau, die mehrere Jahre in der Psychiatrie verbracht hat. Theoretisch gebe es natürlich das Recht, sich zu beschweren, aber „versuch dort mal, an Bleistift, Papier und Briefmarken zu kommen“. Die Betreuerin eines jungen Mannes, der zwangseingewiesen wurde, berichtet, die gerichtliche Verfügung sei ihr zu Hause zugestellt worden, der junge Mann habe sie gar nicht erhalten. Auch Rückfrage beim Gericht teilte man ihr mit: „Die können doch gar nicht lesen.“

In einem Punkt haben die Gerichte den Untergebrachten in Psychiatrie und Maßregelvollzug geholfen: Das Bundesverfassungsgericht und, ihm folgend, der Bundesgerichtshof entschieden in den Jahren 2011 und 2012, dass psychisch Kranke gegen ihren Willen nicht medikamentös behandelt werden dürfen. Die Behandlung mit Psychopharmaka stelle einen tiefen Eingriff in die Grundrechte dar, denn Psychopharmaka seien auf die Veränderung seelischer Abläufe gerichtet, schwere irreversible und lebensbedrohliche Nebenwirkungen seien zudem nicht auszuschließen.

Einige Bundesländer haben mittlerweile Gesetze erlassen, die in besonders gravierenden Fällen und mit richterlicher Zustimmung die Zwangsbehandlung erlauben. Alexander Kummer, Vorstand des Landesverband Psychiatrie-Erfahrene Hessen e.V., fürchtet, dass die Ärzte trotzdem so weitermachten wie bisher und sich anschließend auf den rechtfertigenden Notstand berufen. „Die mittlerweile unterbundene Zwangsmedikation wird zu einer Art Hilfe umdeklariert“, so Kummer.

Im Zweifel für Freiheit des Einzelnen oder Sicherheit der Mehrheit? Auf diese Frage gibt es keine Antwort, das weiß Müller-Isberner aus Erfahrung. „Das Pendel schlägt mal in die eine, mal in die andere Richtung.“ Nach einem Fall wie Mollath stehe das Individuum im Vordergrund. Doch es ist noch gar nicht lange her, da sagte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder über den Umgang mit Sexualstraftätern: „Es kann da nur eine Lösung geben: wegschließen - und zwar für immer.“ Und bei dem nächsten Mädchen, das von einem psychisch Kranken vergewaltigt wird, werden die Stimmen, die jetzt nach immer mehr Liberalisierung rufen, wieder verstummen.