Finanzkrieg und Sanktionen, die Washington und europäische NATO-Länder seit einigen Wochen gegen Russland führen und verhängen, könnten eine durchgreifende Umwälzung in der globalen Nahrungskette auslösen und der globalisierten »Agrobusiness-Revolution«, die seit 50 Jahren Ernährung und Gesundheit eines Gutteils der Weltbevölkerung bedroht, eine Niederlage bereiten. Alles hängt jetzt davon ab, wie gut die russische Führung die Chance nutzt, Feindseligkeit in Chance umzuwandeln.
Markt Russland
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Russlands Präsident Wladimir Putin und Ministerpräsident Dmitri Medwedew hatten angesichts der Sanktionen im Bereich Finanzen, Energie und Rüstung, die aufgrund der Krise in der Ukraine verhängt wurden - wegen welcher Verbrechen genau, weiß inzwischen keiner mehr so genau zu sagen - zunächst viel Geduld bewiesen. Doch jetzt kommt von russischer Seite eine entschiedene Antwort.

Am 6. August unterzeichnete Wladimir Putin einen Erlass, mit dem der Import landwirtschaftlicher Güter und Lebensmittel aus sechs Ländern, die Sanktionen gegen Russland verhängt haben, untersagt wird. Moskau verbietet für ein Jahr den Import von Rindfleisch, Schweinefleisch, Geflügel und Milchprodukten sowie Obst und Gemüse aus den USA, der Europäischen Union, Kanada, Australien und Norwegen. Basta! Erledigt. Die Grenzen zwischen Russland, Belarus und Kasachstan werden für Lebensmittelimporte aus der EU geschlossen, Waggons werden voll beladen wieder zurückgeschickt.

Die EU-Staaten verlangten eine »Dringlichkeits-«Sitzung über die Lage, als hätten sie mit ihren drakonischen, verschärften Wirtschaftssanktionen und Einschränkungen für Bankgeschäfte wichtiger russischer Industriebetriebe keine Provokation begangen. Am 14. August treffen sich hochrangige Landwirtschaftsvertreter aus allen 28-EU-Mitgliedsstaaten in Brüssel zu einer Sondersitzung, um über die Auswirkungen des russischen Verbots von Lebensmittelimporten aus der EU zu beraten. In klassisch bürokratischer Manier erklärte die EU-Kommission, man »behalte sich das Recht zu reagieren« vor, was immer das heißen mag. Am 11. August wurde eine Arbeitsgruppe gebildet, die eine »Einschätzung der Lage« erstellen soll.

Man braucht keine EU-Arbeitsgruppe, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass das russische Verbot von Lebensmittelimporten für Landwirte in der EU einen Schlag bedeutet, den sie nur schwer verkraften können. Zehn Prozent der landwirtschaftlichen Exporte aus der EU gehen nach Russland, das jährliche Volumen beläuft sich nach Zahlen der EU-Kommission auf rund elf Milliarden Euro.

Russland findet Auswege

Anders herum bedeutet die Sanktionskrise eine einmalige Gelegenheit für Russland und die wichtigsten Verbündeten, besonders die BRICS-Staaten. Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika haben gerade eine wichtige gemeinsame Vereinbarung zur Gründung einer gemeinsamen Bank für infrastrukturelle Entwicklung und Schaffung eines Fonds zur Verteidigung der Währungen unterzeichnet. Die EU-Kommission erklärte, sie beabsichtige in lateinamerikanischen Ländern wie Brasilien und Chile Lobbyarbeit für eine »Solidarisierung« mit den EU-Sanktionen zu betreiben. Offenbar lebt die Kommission nicht auf dieser Welt.

Russland führt mit seinem BRICS-Partner Brasilien bereits Verhandlungen über eine Steigerung der Importe aus dem wichtigen Nahrungsmittel-Exportland. Seit der Verhängung des Importstopps führt die oberste Landwirtschaftsbehörde Russlands, der Inspektionsdienst für Tier- und Pflanzengesundheit, Gespräche mit Vertretern Brasiliens, Argentiniens, Ecuadors und Chiles über eine mögliche Erhöhung der Lebensmittelimporte. Brasilien genehmigte den sofortigen Export von Geflügel-, Rind- und Schweinefleisch aus 90 Fleischbetrieben nach Russland: Es wird erwartet, dass auch die Exporte anderer Nahrungsgüter steigen werden.»Russland ist potenziell ein großer Abnehmer landwirtschaftlicher Erzeugnisse, nicht nur von Fleisch«,erklärte Brasiliens Landwirtschaftsminister Seneri Paludo.

Auch die Türkei - wo der neu gewählte Präsident Recep Tayyip Erdogan engere Verbindungen zu Russland knüpft, da Washington ihn zunehmend aufs Korn nimmt, weil er nicht Teil der Neuen Weltordnung ist - diskutiert über eine Steigerung der Lebensmittelexporte nach Russland. Wie Mehmet Buyukeksi, Vorsitzender des türkischen Außenhandelsverbands, mitteilt, verhandeln russische Lebensmittelunternehmen mit der Türkei über eine Kompensation der ausgefallenen Lieferungen aus der EU. »Die russische Nachfrage nach türkischen Waren ist nach der Einführung von Handelsbeschränkungen gegenüber den USA und der EU gestiegen«, erklärte Buyukeksi. In dieser Woche wird eine russische Delegation in der Türkei erwartet, um die Einzelheiten zu besprechen. Buyukeksi erwartet eine deutliche Steigerung des Exports von Geflügel und Fisch, aber auch von Obst und Gemüse.

Russlands natürliche Landwirtschaft wird zu neuem Leben erweckt

Die mit Abstand wichtigste Konsequenz aus der Nahrungsmittelkrise ist jedoch die Gelegenheit, die seit zwanzig Jahren andauernde Zerstörung der Lebensmittelqualität durch Importe von Agrobusiness-Produkten aus der EU und den USA - von industriell verarbeitetem Geflügel, Fleisch und Fisch bis hin zu Gensoja und Genmais - rückgängig zu machen.

Bei einem kürzlichen Besuch in Moskau und St. Petersburg nutzte ich die Gelegenheit, mir die Regale von typischen russischen Supermärkten einmal genauer anzusehen. Das Sortiment war praktisch identisch mit dem einer deutschen Kette wie REWE oder der französischen Carrefour. Überall gab es Nestlé, Unilever, Kraft und Kellogg‘s. Und der Nährwert dieser westlichen Agrobusiness-Importe ist, wie ausführlich dokumentiert, oft weniger als Null - langfristig können sie sogar gesundheitsschädlich sein.

Das gilt insbesondere für den übermäßigen Gehalt an bestimmten Zuckern, MSG und chemischen Geschmacksverstärkern. Tomaten aus den USA werden normalerweise mit chemischen Konservierungsstoffen besprüht, damit sie bei der Ankunft in Moskau aussehen wie »frisch gepflückt«. Ein einziger Bissen belehrt einen etwas Besseren.

Eine echte russische Tomate

Zum ersten Mal besuchte ich 1994 die Russische Föderation; damals war ich eingeladen, in Moskau einen Vortrag über die Gefahren des Umgangs mit dem IWF zu halten. Ich kam aus Frankfurt, wo ich damals lebte. Bei einem bescheidenen Mittagessen, das der Konferenzveranstalter, der Nachfolger des IMEMO-Instituts, servieren ließ, aß ich einen Tomatensalat. Mir lief das Wasser im Munde zusammen, als ich eine echte Tomate schmeckte, wie ich sie aus meiner Jugend kannte. Die russische Landwirtschaft in der Sowjetära, so rückständig und ineffizient sie auch war, hatte einen großen Vorteil vor der Landwirtschaft der USA und der EU: da fast die gesamte Chemieproduktion für militärische Zwecke gebraucht wurde, wurden praktisch keine chemischen Düngemittel ausgebracht oder Herbizide versprüht. Es war reales, natürliches Essen.

Ich habe mit vielen russischen Freunden über diese Erfahrung gesprochen. Sie hatten vergessen, wir lecker Tomaten waren - lecker, weil natürlich. Angesichts des Embargos hat die Medwedew-Regierung jetzt die Gelegenheit, die zwei Jahrzehnte währenden Einschränkungen durch den WTOFreihandel« rückgängig zu machen und die heimische natürliche, oder wie es in der EU heißt - »Bio« oder »organische« - Produktion zu subventionieren. Wenn es richtig gemacht, das heißt, als Priorität der Lebensmittelsicherheit für das Land behandelt wird, könnten dadurch unzählige heruntergekommene landwirtschaftliche Regionen, deren Bauern nach 1991 durch die Flut billiger Lebensmittelimporte aus der EU und den USA in den Bankrott getrieben wurden, zu neuem Leben erweckt werden.

Die Lebensmittel wurden bewusst so billig geliefert, um eine strategische Abhängigkeit Russlands von der NATO auch im Bereich gesicherter Lebensmittelversorgung zu erzwingen. Ein Kommentator brachte es auf den Punkt:
»Russische Produkte sind Gentechnik-frei, sie enthalten viel weniger Konservierungsstoffe, Antibiotika, Farbstoffe, Geschmacksverstärker und Pestizide. Und da sie regional erzeugt werden, brauchen sie nicht mithilfe der Kühlungs- und Konservierungstechniken herbeigeschafft zu werden, die meistens bewirken, dass die Produkte wie Pappendeckel schmecken. Mit anderen Worten, russische landwirtschaftliche Produkte schmecken viel besser, aber das reicht normalerweise im Wettbewerb nicht aus. Dieses Embargo gibt ihnen jetzt einen wichtigen Schub zu investieren, zu entwickeln und Marktanteile zu erobern.«