Deutsche Psychoanalytiker warnen in einem Memorandum vor innerseelischen Katastrophen: Ganztägige Trennungen von den Eltern stellen extreme psychische Belastungen für die Kinder dar. Je länger die Fremdbetreuung, desto höhere Werte des Stresshormons Cortisol seien bei den Kindern nachweisbar.
Kind, Kindheit
© ZBKinder sind auf eine schützende und stabile Umgebung angewiesen. Eine zu frühe Trennung von den Eltern ist eher schädlich.
Ein "Memorandum" der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) gießt Öl ins Feuer der Debatte über frühkindliche Fremdbetreuung. In den ersten drei Lebensjahren seien Kinder "ganz besonders auf eine schützende und stabile Umgebung angewiesen". Die Analytiker berufen sich auf "Tiefenwirkungen und Langzeitfolgen von kindlichen Entwicklungsbedingungen", denen sie in Forschung und Praxis begegnen.

Die DPV-Vorsitzende Gertraud Schlesinger-Kipp sagte WELT ONLINE, sie habe in ihrer Kasseler Praxis vor allem mit Älteren zu tun, die während des Krieges "chaotische Betreuungsverhältnisse" durchlebten: "Sie wurden zu Großeltern oder ins Heim gegeben und wussten meist nicht, warum. Wir stellen fest, dass das gerade im Alter zu enormen Verunsicherungen gegenüber sich selbst führt."

Generell gebe es nur wenig Forschung zu kindlicher Fremdbetreuung in Deutschland. Sie selbst sei gespannt auf die Ergebnisse einer laufenden Studie, die das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut 2008 präsentieren will. Es handelt sich um eine Untersuchung zu jungen ostdeutschen Erwachsenen mit Krippenerfahrung. "Generell gilt: Trennungserfahrungen in sehr frühem Alter werden im Körper gespeichert. Sie tauchen in späteren Situationen als Ängste wieder auf", so Schlesinger-Kipp.

Ein Kind entwickle erst langsam die Fähigkeit, die Abwesenheit der Eltern innerseelisch zu verkraften, heißt es in dem Memorandum. Plötzliche oder zu lange Trennungen von den Eltern bedeuten in der frühen Kindheit einen "bedrohlichen Verlust der Lebenssicherheit, auch weil Sprach- und Zeitverständnis des Kindes noch nicht weit genug entwickelt sind, um Verwirrung oder Angst mit Erklärungen zu mildern". Langsame Übergänge seien daher oberste Bedingung.

"Natürlich kann und muss eine Trennung für ein Kind auch ein Entwicklungsmotor sein. Aber das funktioniert nur, wenn es gut aufgefangen wird", erläutert Schlesinger-Kipp. Ein familiär sicher gebundenes Kind verkrafte den Schritt in die außerfamiliäre Betreuung gut. Gestalten sich die Übergänge zu abrupt, könne es für das Kind zu einer "innerseelischen Katastrophe" kommen. Anhaltendes Weinen und Schreien, später dann Verstummen, Schlaf- und Ernährungsstörungen seien Zeichen für eine "seelische Überforderung".

Tagesmuttermodell gilt als besonders konfliktreich

Weil ein Kind sich immer an eine Betreuerin oder "Übergangsmutter" binde, bedeute jeder Krippenwechsel oder Wechsel der Tagesmutter einen Bindungsverlust für das Kind. Besonders schwerwiegend sei dies, wenn das Kind in seiner Trauer nicht von den Eltern unterstützt oder bestätigt werde. Das "Tagesmuttermodell", von dem man sich generell mehr Individualität bei der Betreuung erhofft, sei hier "besonders konfliktreich", heißt es in dem Memorandum. Denn häufig auftretende Spannungen zwischen Mutter und Tagesmutter und eine damit verbundene "Auswechslung" der Tagesmutter stürzen das Kind in die Krise. "Das Kind, das diesen Verlust primärer Ersatzbemutterung hinnehmen muss, wird nicht gefragt werden. Es wird trauern, aber die Trauer wird von der Mutter schwerlich begleitet werden können, denn sie sieht keinen Trauerbedarf", sagt die Hamburger Psychologin und Psychoanalytikerin Ann-Kathrin Scheerer. "Die Trauer um den Verlust der Kinderfrau bleibt als Spur der Entfremdung zwischen Mutter und Kind erhalten."

Scheerer sieht ein weiteres Problem in der Betreuung durch Tagesmütter oder Kinderfrauen: die täglichen Wechsel zwischen der einen und der anderen "Mutter": "Die frühe Aufspaltung des Bemutterungsangebots kann zu einer bleibenden Aufspaltung des inneren Beziehungserlebens führen." In der psychoanalytischen Therapie erlebe man das oft als "verdrängtes oder bagatellisiertes Fremdbetreuungsschicksal".

Die Psychoanalytiker wünschen sich für den Beruf der Tagesmutter eine "Professionalisierung mit guter Ausbildung und berufsbegleitender Supervision". Auch mache es entwicklungspsychologisch einen bedeutsamen Unterschied, ob ein Kind mit einem Jahr, mit anderthalb oder zwei Jahren außerfamiliär betreut und wie viele Stunden täglich sie in Anspruch genommen werde.

Je länger die tägliche Betreuung getrennt von den Eltern erfolge, desto höhere Werte des Stresshormons Cortisol seien im kindlichen Organismus nachweisbar. Das erkläre den Zusammenhang zwischen ganztägiger außerfamiliärer Betreuung und späterem aggressivem Verhalten in der Schule. Um "Traumatisierungen" zu verhindern, fordern die Analytiker, analog zur Schulreife für jedes Kind individuell die "Krippenreife" zu beurteilen.