Halitplatz
Kassel/Wiesbaden/Erfurt (Eigener Bericht) - Mit neuen Hinweisen auf die mögliche Mitwisserschaft eines hessischen Verfassungsschutz-Mitarbeiters bei einem Neonazi-Mord befasst sich heute ein Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags. Dabei geht es um die Ermordung des Kasseler Internet-Café-Inhabers Halit Yozgat durch den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) am 6. April 2006. Anwälte, die Yozgats Familie vertreten, haben neue Indizien dafür, dass ein V-Mann-Führer des hessischen Verfassungsschutzes vorab Kenntnis von Tatplänen und Tatort gehabt haben könnte. Schon zuvor hatten Recherchen von Journalisten ergeben, dass der Mann wenige Tage nach dem Mord vermutlich exklusives Täterwissen offenbarte. Eine Aufklärung ist durch den Verfassungsschutz und das hessische Innenministerium, dem er untersteht, erheblich behindert worden. Der Fall, der zum wiederholten Mal Gegenstand der öffentlichen Debatte wird, zeigt exemplarisch, wie sich in von außen kaum kontrollierten deutschen Sicherheitsbehörden rechte Strukturen herausbilden, die in diversen Fällen das Erstarken faschistischer Organisationen begünstigten und regelmäßig sogar die Aufklärung neonazistischer Verbrechen erschwerten - im Falle des NSU, der jahrelang Migranten umbrachte, bis hin zu Mord.

Der Mord an Halit Yozgat

Die Umstände des Mordes an dem 21-jährigen Halit Yozgat hatten von Anfang an Verdacht gegen den hessischen Verfassungsschutzbeamten Andreas Temme geweckt. Yozgat war am 6. April 2006 ungefähr um 17 Uhr hinter dem Tresen seines Internet-Cafés in Kassel erschossen worden. Es war, wie sich später herausstellte, der neunte Mord an einem Menschen migrantischer Herkunft, den die Neonazi-Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) beging. Temme hatte sich am Mordtag von 16.50 Uhr bis 17.01 Uhr in dem Internet-Café aufgehalten, verheimlichte dies allerdings zunächst vor der Polizei, die ihn Tage später aufspürte und am 21. April kurzzeitig festnahm. Er hat stets erklärt, beim Verlassen des Internet-Cafés Yozgat nicht gesehen und lediglich eine Münze auf den Tresen gelegt zu haben, hinter dem laut Einschätzung von Ermittlern bereits unübersehbar der niedergeschossene Inhaber des Ladens gelegen haben muss. Die Frage, ob Temme Yozgats Körper tatsächlich nicht gesehen habe, und eine Reihe weiterer Ungereimtheiten wecken bis heute Zweifel, ob der Verfassungsschutz-Beamte nicht doch auf die eine oder andere Weise in den Mord involviert war - eine ursprüngliche Vermutung der Kasseler Polizei.

Nur restriktiv Auskunft gegeben

Ursächlich für die fortbestehenden Zweifel ist vor allem das Verhalten des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz und des hessischen Innenministeriums, dem die Behörde untersteht. Wie jetzt neu bekannt gewordene Mitschnitte von Telefongesprächen bestätigen, die die Polizei 2006 im Rahmen ihrer Ermittlungen gegen Temme aufzeichnete, mauerte der Verfassungsschutz gegenüber der Polizei. So ließ sich Temme zum Beispiel vom Geheimschutzbeauftragten seiner Behörde über das vorteilhafteste Verhalten bei Befratungen instruieren; der Geheimschutzbeauftragte riet ihm, er solle bei seinen Aussagen "so nah wie möglich (!) an der Wahrheit bleiben".[1] Aus einem anderen Telefonat geht klar hervor, dass Temme der Polizei Auskünfte vorenthielt, die er dem Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz, Lutz Irrgang, offenbarte; Temme habe sich "beim Irrgang ... nicht so restriktiv wie bei der Polizei" verhalten, sondern "alles dargestellt", berichtete einer von Temmes Verfassungsschutz-Kollegen. Mit Rückendeckung durch das hessische Innenministerium verweigerte der Verfassungsschutz der Polizei ein Verhör desjenigen V-Mannes, mit dem Temme weniger als eine Stunde vor dem Mord telefoniert hatte; Quellenschutz habe Vorrang vor der Aufklärung des Mordes, hieß es dazu. Der damalige CDU-Innenminister Volker Bouffier ist heute Ministerpräsident des Bundeslandes Hessen.

"Jeder, der weiß, dass so etwas passiert"

Ein Verhör von Temmes V-Mann Benjamin Gärtner hätte auch deswegen wichtige Aufschlüsse versprochen, weil dieser überaus enge Beziehungen in die gewalttätige Neonazi-Szene unterhielt - zu einschlägigen Organisationen in Kassel ("Sturm 18", "Blood and Honour Nordhessen"), aber auch zur Neonazi-Szene in Thüringen, wo der NSU seine Ursprünge hatte. Ein Neonazi aus Gärtners engem Umfeld hat eingeräumt, die NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos persönlich gekannt zu haben.[2] Gärtner stand auf Platz 11 einer Liste mutmaßlicher Unterstützer oder Mitglieder des NSU, die die Bundesanwaltschaft unmittelbar nach Bekanntwerden der Terrorgruppe im November 2011 erstellte. Berichten zufolge hielt er sich am 9. Juni 2005 in Nürnberg auf, als dort der sechste NSU-Mord begangen wurde. Am 15. Juni 2005 war er demnach nach München weitergereist, als der NSU in der bayerischen Landeshauptstadt sein siebtes Opfer umbrachte.[3] Am 6. April 2006 telefonierte Gärtner in Kassel kurz nach 13 Uhr und dann erneut kurz nach 16 Uhr mit seinem V-Mann-Führer Temme. Unmittelbar darauf brach Temme zu Yozgats Internet-Café auf. Bis heute ist unbekannt, worüber die beiden am Telefon gesprochen haben. Ein Mitschnitt eines Telefonats, das Temme wenige Tage später mit dem Geheimschutzbeauftragten seiner Behörde führte, enthält dessen Aussage: "Ich sag ja jedem, wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert: Bitte nicht vorbeifahren!"[4] Der Verdacht gegen Temme verstärkt sich auch dadurch, dass er im Gespräch gegenüber einer Kollegin erwähnte, der Mord sei mit derselben Waffe begangen worden wie andere Morde in anderen Bundesländern, obwohl dies zum Zeitpunkt des Gesprächs öffentlich noch nicht bekannt war und die Polizei ihn nicht darüber informiert hatte - "Täterwissen", urteilen Beobachter.

Nicht nur Peinlichkeiten

Angesichts der Umstände wird inzwischen nicht nur der Corpsgeist des Verfassungsschutzes, sondern auch das Vorgehen der Bundesanwaltschaft sogar in konservativen Medien kritisiert. Die Behauptung der Bundesanwälte, der Kasseler Mord sei "ausermittelt" und es gebe nichts mehr zu klären, gehöre zu einer "Kette von behördlichen Pleiten, Pannen und Peinlichkeiten", die die NSU-Morde und ihre mangelhafte Aufklärung begleiteten, heißt es.[5] Dabei ist der Kasseler Fall, bei dem eine mögliche Mitwisserschaft eines Beamten bei einem Neonazi-Mord für möglich gehalten wird, nur ein extremes Beispiel für das Näheverhältnis zur extremen Rechten, das in den kaum kontrollierbaren Strukturen der Inlandsgeheimdienste immer wieder entsteht - mit fatalen Folgen. Exemplarisch lässt sich dies an den Operationen eines anderen Landesamtes für Verfassungsschutz in den 1990er Jahren erkennen - in Thüringen, dem Bundesland, dem die drei untergetauchten NSU-Terroristen entstammten.

Straftaten im Einsatz

In Thüringen ermöglichte die Zusammenarbeit mit dem Landesamt für Verfassungsschutz dem V-Mann Tino Brandt in den 1990er Jahren den Aufbau des Thüringer Heimatschutzes, einer schlagkräftigen Neonazi-Organisation, der letztlich der NSU entstammt. Im Erfurter Landtag kam ein Untersuchungsausschuss zu dem Ergebnis, es seien an den V-Mann Brandt "neben Sachmitteln übermäßig hohe Prämien ausgereicht" und dieser "so in die Lage versetzt" worden, "Geld- und Sachmittel in den Aufbau und das Funktionieren des Thüringer Heimatschutzes ... zu stecken sowie Reisen, Propagandamaterialien und Aktionen zu finanzieren".[6] "Auch andere Organisationen mit extrem rechtem Hintergrund dürften von der V-Mann-Tätigkeit ihrer Führungspersonen profitiert haben", heißt es weiter; so habe "der V-Mann Marcel Degner" mutmaßlich "als Sektionsleiter einen ähnlichen Einfluss auf die Aktivitäten des Thüringer 'Blood and Honour'-Netzwerkes genommen" wie Brandt auf den Thüringer Heimatschutz. Weitere "V-Männer und Gewährspersonen" hätten "zum Teil auch während ihres Einsatzes Straftaten verübt". Strafverfahren gegen sie seien häufig eingestellt worden; der Verfassungsschutz habe immer wieder dem "Quellenschutz" klaren Vorrang vor "einer effektiven Strafverfolgung" eingeräumt. Das sind Merkmale, die sich offenbar auch im Fall des Kasseler V-Mannes Gärtner und seines V-Mann-Führers Temme zeigen.

Zumindest mittelbar geschützt

Ähnlich beurteilte der Thüringer Untersuchungsausschuss das Verhalten des Verfassungsschutzes beim Untertauchen der NSU-Terroristen im Jahr 1998: Die Fahndung nach diesen sei "in einem so erschreckenden Ausmaß von Desinformation, fehlerhafter Organisation, Abweichungen von üblichem Vorgehen und Versäumnissen bei der Verfolgung erfolgversprechender Hinweise und Spuren durchsetzt" gewesen, dass "der Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen" nicht von der Hand zu weisen sei.[7] "Mit der Zurückhaltung wichtiger Informationen, die die Ermittlung des Aufenthalts der Flüchtigen hätten voranbringen können", habe das Landesamt für Verfassungsschutz die untergetauchten Terroristen "zumindest mittelbar ... geschützt", heißt es weiter.

Immer wieder

Verschiedene Beispiele auch jenseits des NSU belegen die fatalen Auswirkungen der rechten Strukturen, die sich immer wieder aus dem Zusammenwirken deutscher Geheimdienste und ihrer neonazistischen V-Männer ergeben. german-foreign-policy.com berichtet in loser Folge.

Weitere Berichte zum Verhältnis zwischen NSU und staatlichen Behörden finden Sie hier: Staatliche Aufbauhilfe für Neonazis, Kleiner Adolf,Europa erwache!, V-Männer, Eine Untergrundarmee, In besseren Kreisen, Von Spitzeln umstellt, Nicht nur Pleiten, Pech und Pannen,Belange des Bundeswohls und Unberechtigte Vorwürfe.

[1] Stefan Aust, Per Hinrichs, Dirk Laabs: Wie nah war der Verfassungsschutz an den NSU-Mördern? www.welt.de 01.03.2015.
[2] Andrea Röpke: Der Nazi-V-Mann und der NSU. blog.zeit.de/stoerungsmelder 23.02.2015.
[3], [4] Stefan Aust, Per Hinrichs, Dirk Laabs: Wie nah war der Verfassungsschutz an den NSU-Mördern? www.welt.de 01.03.2015.
[5] Ralf Euler: Warum das Unglaubliche manchen glaubhaft erscheint. www.faz.net 26.02.2015.
[6], [7] Bericht des Untersuchungsausschusses 5/1 "Rechtsterrorismus und Behördenhandeln". Thüringer Landtag, Drucksache 5/8080, 16.07.2014.