In einer Höhle im Norden Spaniens entdecken Forscher die Fossilien einer Neandertaler-Familie. Erste Untersuchungen zeigen, dass einige Knochen Kerben aufweisen. Dies ist ein Indiz dafür, dass der Neandertaler bei seinesgleichen auf dem Speiseplan stand.
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© UnbekanntIm unterirdischen Flussbett überdauerten mehr als 2000 Fossilien von Neandertalern die Jahrhunderte.
Der Eingang zur Höhle El Sidrón ist ein Loch im Boden, auf das ein Gullideckel passen würde. „Zugang verboten“, informiert ein Schild. Marco de la Rasilla, Professor für Archäologie an der Universität von Oviedo, und sein Team aus Studenten und Doktoranden streifen Regenkleidung über, bevor sie in die Höhle hinabsteigen.

Über Steine und durch Matsch geht es einen Gang entlang, dessen Wände aus Erde und Felsen bestehen. An einer Stelle müssen die Studenten und der Professor auf Knien rutschen, so niedrig ist der Gang. Sie können die 500 Meter langgestreckte Höhle nur im Sommer gefahrlos betreten, denn von November bis Mai fließt hier Wasser: Die Höhle ist ein Flussbett.

Nach rund 250 Metern beschwerlichem Fußmarsch wird es plötzlich breiter: Waschbecken stehen hier, so groß wie Badewannen. Kleine Knochen und Steine trocknen auf Gittern, die mit Zeitungspapier ausgelegt sind.

Knochen in gutem Zustand

In einem Seitenarm tut sich die Knochengalerie auf. Sie ist gesichert durch ein stabiles Eisentor. De la Rasilla schließt auf. Er und andere Forscher haben hier mehr als 2 000 Fossilien von Neandertalern gefunden, Teile ihrer Werkzeuge und Überreste von Tieren. Die wertvollen Fundstücke sind um die 50.000 Jahre alt, erklärt der Archäologe. „Den guten Zustand der Knochen verdanken wir einer Reihe von Bedingungen.“

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© Emanuel HermDie 50.000 Jahre alten Knochen liegen zum Trocknen aus.
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© PNAS / Rosas et al Neanderthaler-Fußknochen in einem Block aus zementierten Sand und Ton aus der El Sidrón Höhle in Spanien
Fäden laufen kreuz und quer durch die Knochengalerie. Sie unterteilen den Raum in kleine Quadrate, die zur genauen Bestimmung der Fundorte dienen. Die jungen Forscher hocken auf den Vorsprüngen in den Wänden der Höhle und tragen geduldig die Erde mit kleinen Schaufeln ab. Aus den freigelegten Fossilien haben de la Rasilla und andere Forscher zwölf Neandertaler rekonstruiert: ein Kleinkind, zwei Kinder, drei Heranwachsende und sechs Erwachsene. „Sie könnten eine Familie gewesen sein“, sagt der Professor. Er holt aus einem kleinen Plastikpaket einen sterilen Schutzanzug hervor. Wenn die Forscher Fossilien bergen, deren DNA analysiert werden soll, tragen sie diese Anzüge sowie Masken, um Kontaminationen mit der eigenen DNA zu verhindern. Die freigelegten Knochen werden noch am Fundort tiefgefroren und zum Institut für Evolutionsbiologie in Barcelona geschickt.

DNA-Analyse ist eine Revolution

Carles Lalueza Fox, Paläogenetiker, leitet die genetischen Studien der Knochen aus El Sidrón und erklärt die weiteren Arbeitsschritte: „Zunächst trennen wir die Nukleinsäuren der Knochen von den Proteinen, Lipiden und mineralischen Salzen. In dem Extrakt aus Nukleinsäuren finden wir Millionen von DNA-Fragmenten der Individuen aus El Sidrón, aber auch DNA der Bakterien, die im Boden und in den Fundstücken leben. Wir trennen das feinsäuberlich voneinander.“ So sind die Forscher in der Lage, vollständige Neandertaler-Genome zu rekonstruieren.

Für die Erforschung der Neandertaler bedeutet die DNA-Analyse eine Revolution. Neben den traditionellen Disziplinen wie Archäologie, Paläontologie und Anthropologie ist sie eine weitere Informationsquelle, die Auskünfte zum Aussehen und zu Verwandtschaftsverhältnissen innerhalb einer Gruppe von Neandertalern liefert.

Die genetischen Studien der Knochen aus der Höhle El Sidrón brachten Erstaunliches zum Liebesleben der Neandertaler ans Licht: Die Männer und Jungen sind miteinander verwandt. Sechs sind gleicher Abstammung, drei weitere ebenfalls. Auch zwei der drei Frauen sind jeweils mit einer dieser männlichen Gruppen verwandt. Aber zwischen den verschiedenen Frauen besteht keine Verwandtschaft.

Lalueza Fox folgert daraus, dass Patrilokalität bestand: die Männer bildeten den festen Kern einer „Familie“, während die Frauen zu einer anderen Gruppe zogen, ein Mittel um Blutsverwandtschaft zwischen Eltern zu vermeiden.

Eine weitere, erstmalige Erkenntnis lieferte die Entdeckung einer Mutation des Gens FoxP2 bei einem Neandertaler aus der Höhle. Es ist eine Mutation am Sprachgen. Sie bedeutet, dass der Neandertaler die gleiche Veranlagung zum Sprechen hatte wie der moderne Mensch.

Auch das Gen TAS2R38 für bitteren Geschmack analysierten die Forscher. Darüber hinaus entdeckten sie bei einer der Frauen das Gen MC1R, das für Pigmentierung zuständig ist und auf rote Haare und helle Haut schließen lässt.

Neandertaler auf der Speisekarte

Ganz anders als heute scheint damals nur die Ernährung gewesen zu sein: An rund zehn Prozent aller Knochen aus der Höhle befinden sich Kerben, die von Steinwerkzeugen stammen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind die Kerben Spuren von Schnitten ins Fleisch. Da sich nicht an allen Individuen aus El Sidrón Kannibalismus nachweisen lässt, gehen die Forscher davon aus, dass nur ein Teil der Gruppe verspeist wurde - vom anderen Teil der Gruppe.

De la Rasilla erklärt: „Es kann ein Ritual gewesen sein. Vielleicht wurde Kannibalismus auch nur in Momenten besonderen Hungers praktiziert. Oder der Neandertaler stand bei seinesgleichen auf dem ganz normalen Speiseplan wie Bison oder Bär.“

Auch die linsenförmigen Werkzeuge mit Zahnung aus Quarzit und Feuerstein, die in der Höhle gefunden wurden, stützen die These, dass die Neandertaler aus El Sidrón einander aßen: Die Steinwerkzeuge und die Schnittspuren an den Knochen passen zueinander wie die Teile eines Puzzles.

Warum sind die Knochen der gesamten Gruppe und die Werkzeuge, mit denen das Fleisch herunter geschnitten wurde, alle an einem Ort geblieben? Das fragten sich de la Rasilla und andere Forscher. Als Antwort rekonstruierten sie folgende Szene: Eines fernen Tages kamen zwölf Neandertaler, die wie beschrieben zum Teil miteinander verwandt waren, an einem Ort oberhalb der Höhle El Sidrón zusammen, um Kannibalismus zu praktizieren. Auch die Individuen, die nicht verspeist wurden, kamen dabei ums Leben - vielleicht durch eine Naturkatastrophe. Falls diese Annahme stimmt, böten die Funde aus El Sidrón einen einzigartigen Einblick in einen ganz bestimmten Tag im Leben der Neandertaler.

Inzwischen hat Paloma, eine der Archäologie-Studentinnen, einen Zehn-Liter-Eimer voll abgetragener Erde zu den großen Waschbecken geschleppt. Sie arbeitet nun wie ein Goldsucher, wäscht und siebt die Erde. Kleine Reste von Knochen und anderer Fundstücke bleiben hängen. Auf die Experten warten neue Erkenntnisse.