Ein Terrorist schießt in einem französischen Schnellzug um sich. Drei zufällig anwesenden US-Amerikanern gelingt es, den Attentäter zu überwältigen. Eine wahre Heldengeschichte.
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© ReutersFür ihre Heldentat mit Tapferkeitsmedaillen geehrt (v.l.): Anthony Sadler, Alek Skarlatos und Chris Norman
Gut drei Stunden dauert die Zugfahrt von Amsterdam nach Paris. An Bord des Thalys, der den Zentralbahnhof von Amsterdam Freitag um 15.17 Uhr verlässt, sind 554 Menschen. Darunter auch der Schauspieler Jean-Hugues Anglade. Geplante Ankunft in Paris: 18.35 Uhr. Ende der Ferien.

Anglade, der mit seinen beiden Kindern und seiner Lebensgefährtin unterwegs ist, wurde berühmt in seiner Rolle als Zorg in Jean-Jacques Benneix' 80er-Jahre-Kultfilm Betty Blue - 37,2 Grad am Morgen. Auch in Luc Bessons Action-Thriller "Nikita" hat er mitgespielt. Sogar eine kleine Rolle in der amerikanischen TV-Serie "Die Sopranos" hat er mal gehabt. Auf der Leinwand ist er öfter schon gestorben. Aber Schreie und Schüsse im Zug, in der Wirklichkeit?

"He's shooting, he's shooting", hört er einen Mann schreien. Dann sieht er Bahnkontrolleure, die gebückten Hauptes und mit fassungslosem Ausdruck im Gesicht durch den Wagon rennen in Richtung ihres Kontrolleurabteils, das sie mit einem Spezialschlüssel öffnen, um sich darin einzuschließen. In diesem Augenblick sieht Anglade den bewaffneten Mann im Abteil.

Nackter Oberkörper. Weiße Hosen. In der einen Hand eine Waffe. In der anderen eine Kalaschnikow: "Er kam auf uns zu, er war entschlossen. Ich dachte, das war's, das ist das Ende. Vor meinem inneren Augen sah ich, wie wir alle sterben." Er, seine Kinder, seine Freundin, alle anderen im Wagon Nummer elf. Vielleicht alle der 554 Reisenden, die im Thalys Nummer 9364 sitzen.

"Ein Albtraum. Man kommt aus so einem Zug nicht raus"

Als der mutmaßliche Terrorist, ein 26-jähriger Marokkaner, seinen Angriff startet, ist es etwa 17.50 Uhr. Der Zug ist längst durch Brüssel durch, er hält nicht mehr bis Paris. Bis zur Einfahrt in den Gare du Nord bleibt eine Dreiviertelstunde. Zeit genug, um Hunderte unbewaffnete Menschen zu töten. Acht oder neun Magazine soll er bei sich gehabt haben, jeweils 30 Schuss stecken da drin. Dazu eine weitere automatische Schusswaffe und ein Teppichmesser. Frankreichs Innenminister sagt noch am selben Abend, es sei ein "furchtbares Blutbad" verhindert worden.

Dem Pariser Magazin Paris Match erzählt Anglade am Tag darauf, dass er sich wie in einer Mausefalle gefühlt habe: "Es war ein Albtraum. Man kommt aus so einem Zug nicht raus." Verzweifelt klopfen die Reisenden des Wagons Nummer elf an das Abteil der Kontrolleure. Aber die rühren sich nicht.

Vielleicht ist es Zufall, vielleicht will der mutmaßliche Terrorist ganz am Ende, im letzten Waggon beginnen, um sich dann langsam vorzuarbeiten, damit ihn auch keiner entwischt: Der Bewaffnete bewegt sich jedenfalls in die andere Richtung, zum letzten Waggon. Er ist jetzt zwischen dem Wagen elf und zwölf, in Höhe der Toiletten. Damien, ein weiterer Augenzeuge, blickt von seiner Zeitung auf, als er den Krach hört. "Es machte klick-klick. Ich dachte: Der hat eine Spielzeugknarre, der Kerl ist verrückt", berichtet der Ingenieur der Tageszeitung Libération.

Damien beobachtet, wie ein Mann dem Bewaffneten hinterher rennt, aber von der automatischen Tür zwischen den Abteilen aufgehalten wird. Aus der anderen Richtung stürzt plötzlich ein anderer auf ihn zu, grünes T-Shirt, kurz rasierte Haar. Ein zweiter eilt dazu. Es fließt Blut, aber sie überwältigen den Bewaffneten. "Er ist auf ihn raufgesprungen und hat ihn zu Boden gedrückt. Der Kerl ist kein Warmduscher, der hat Eier. Ich blieb wie erstarrt sitzen. Ich hätte das niemals gekonnt", gesteht der Franzose.

Alek schrie: "Spencer go, get him!"

Der Mann im grünen T-Shirt, der kein Warmduscher ist, heißt Spencer Stone. Gestern noch ein einfacher amerikanischer Luftwaffensoldat, heute ein Held. Ein Held auch sein Freund, Alek Skarlatos, ein junger Nationalgardist aus Roseburg, Oregon, 22. Infanteriebrigade. Und Anthony Sadler, 22, ein Student aus Kalifornien. Die drei Freunde waren zusammen unterwegs. Skarlatos war gerade erst aus Afghanistan zurückgekommen. Stone ist bei der amerikanischen Luftwaffe auf den Azoren stationiert. Für Sadler, den Studenten, war es die erste Reise nach Europa.

Sadler sagte später der Nachrichtenagentur AP, sie hätten plötzlich einen Schuss gehört und einen Zugbegleiter gesehen, der vor einem mit einem Sturmgewehr bewaffneten Mann davonlief. "Als er es spannte um zu schießen, schrie Alek 'Spencer go, get him!' und Spencer sprintete den Gang hinunter." Zehn Meter, so schätzt er später, lagen zwischen ihrem Sitz und dem Mann.

"Spencer", erzählt er weiter, "war als erster bei ihm. Der Bewaffnete zückte ein Teppichmesser und schlitzte Spencer ein paar Mal. Alek entwand ihm das Gewehr und schlug mit dem Kolben auf seinen Kopf ein. Wir alle drei schlugen auf ihn ein, bis er bewusstlos war."

Dann versorgt Spencer Stone, obwohl er selbst blutet, den angeschossenen Reisenden. Der Zug wird gestoppt, es ist Anglade der die Notbremse zieht, die Einsatzpolizei steht schon bereit. "Wir waren am falschen Ort zur falschen Zeit", sagt der Schauspieler, "aber mit den richtigen Personen".

Behörden vermuten Verbindungen zu radikalislamischen Gruppen

"Der hatte die Tasche voller Magazine. Er war hier, um sein dreckiges Business zu erledigen, so viel ist klar", sagt der junge Skarlatos noch am selben Abend auf einer improvisierten Pressekonferenz in Arras. Mit seinem Bayern-München-Trikot, seinem leichten Bartansatz und den zur Seite frisierten Haaren sieht er aus wie ein Fußballstar, schön und gelassen wirkt er, ab und zu lächelt er in die Kamera, als gäbe es keinen Unterschied zwischen einem gelungenen Tor und einem überwältigten Terroristen.

Ein Terrorist? Die französischen Behörden sind noch vorsichtig. Sollte sich seine Identität indes bestätigen, war der 26-jährige 2014 in Syrien und den französischen Behörden bekannt. "Libération" will wissen, dass er am 10. Mai von Berlin nach Istanbul geflogen ist. Die spanischen Behörden verdächtigten den jungen Marokkaner, Verbindungen zu radikalislamischen Gruppen zu haben.

Drei amerikanische Freunde retten Frankreich vor dem Schlimmsten. Aber das Bild ist nicht ganz vollständig: Am Samstagmittag gibt Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve bekannt, dass zuvor ein Franzose versucht habe, den mutmaßlichen Täter zu überwältigen. Der Mann im schwarzen T-Shirt, den der Pariser Ingenieur gesehen hat? Möglich ist es. Frankreichs Präsident François Hollande hat angekündigt, die Helden des Thalys in den nächsten Tag im Elysée-Palast zu empfangen. Auch der amerikanische Präsident Barack Obama hat gratuliert, ihre Tapferkeit gelobt, seine Dankbarkeit ausgedrückt.

Es ist eine Geschichte von richtigen Helden. Sie klingt nicht wie von der Wirklichkeit geschrieben, weil so viel Mut, so viel Geistesgegenwart, so viel Selbstlosigkeit eigentlich nur in den Phantasien der Drehbuchschreiber Hollywoods existiert.

Als Held gefeiert wird auch der 62-jährige Brite Chris Norman, der in der Nähe der amerikanischen Freunde saß. Er kam erst dazu, als der Mann schon überwältigt war, aber half beim Fesseln. Strahlend hält er die Medaille in die Kamera, die ihnen noch am selben Abend überreicht wurde. An seinem beigefarbenen Hemd klebt das Blut eines anderen. Es ist das Blut des Täters, das geflossen ist.