Wirtschaftsforscher Marcel Fratzscher wirft Politikern vor, mit den Ängsten der Deutschen zu spielen. Er rechnet vor, dass die Flüchtlinge weder Arbeitsplätze wegnehmen, noch das Sozialsystem überlasten. Die Herausforderung liege woanders.
Flüchtlinge
© dpaDie Angst vor Verteilungskämpfen aufgrund des Flüchtlingsandrangs sei verfehlt, sagt Ökonom Fratzscher.
Deutschland kann die Flüchtlingskrise nach Ansicht des Ökonomen Marcel Fratzscher finanziell meistern. "Es ist ein Kraftakt, absolut", sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Die finanziellen Belastungen sehe er aber entspannt. "Ich glaube, wenn man die letzten 70 Jahre zurückschaut, könnte es eigentlich keinen besseren Zeitpunkt geben, um mit der Herausforderung umzugehen."

Die öffentlichen Haushalte haben laut Fratzscher riesige Reserven. "Wir rechnen mit 15 Milliarden Euro Überschüssen für nächstes Jahr, obwohl dort schon knapp 10 Milliarden Euro zusätzliche Kosten für Flüchtlinge berücksichtigt sind", sagte Fratzscher. Finanzminister Wolfgang Schäuble werde dieses und nächstes Jahr die schwarze Null schaffen. "Finanziell können wir das stemmen." Die große Frage für Fratzscher ist dagegen, wie gut Flüchtlinge in Arbeit kommen.

Von Januar bis September dieses Jahres sind der Bild am Sonntag zufolge rund 600.000 Flüchtlinge nach Deutschland eingereist. Diese Zahl habe das Bundesinnenministerium im Oktober an die EU-Kommission gemeldet. Die wahre Zahl liege jedoch rund 20 Prozent höher, berichtete das Blatt weiter unter Berufung auf Regierungskreise. Grund hierfür sei, dass Tausende Flüchtlinge illegal über die "grüne Grenze" nach Deutschland eingereist seien und sich nicht hätten registrierten lassen.

Politik schürt Verteilungskampf

In der öffentlichen Debatte spiele ein Teil der Politik mit den Ängsten der Menschen und schüre einen falschen Verteilungskampf, kritisierte Fratzscher. Zum Beispiel stimme das Argument nicht, wegen der Ausgaben für Flüchtlinge müssten womöglich Sozialleistungen oder Renten gekürzt werden. "Diese erste Sorge 'Es ist weniger Geld für uns übrig' ist falsch."

Die Ausgaben müsse man vielmehr als Investition sehen - ähnlich wie bei frühkindlicher Bildung, sagte er. Das Geld komme auch erst Jahre später wieder zurück, wenn die einstigen Kinder berufstätig seien und über Steuern mehr als die Summe zurückzahlen könnten. Ein zweites falsches Argument sei, dass Flüchtlinge Arbeitsplätze wegnähmen.

"Der Arbeitsmarkt in Deutschland läuft hervorragend", sagte Fratzscher. Deutschland habe eine rekordniedrige Arbeitslosenquote. "Wir haben 600.000 offene Stellen, und das sind nur die, die ausgeschrieben sind", sagte Fratzscher. Es gebe also nicht zu wenige Stellen, sondern es gehe darum, Menschen mit passenden Stellen zusammenzubringen.

"Klägliches" Engagement der Konzerne

Ein unerwartet kräftiger Herbstaufschwung hatte die Zahl der Arbeitslosen im Oktober gerade auf den niedrigsten Stand seit fast 24 Jahren gedrückt. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren 2,649 Millionen Menschen ohne Job. Die Arbeitslosenquote sank um 0,2 Punkte auf 6,0 Prozent.

Fratzscher sieht in Flüchtlingen keine Konkurrenz zu Arbeitslosen, sondern ein eher strukturelles Problem: Viele Menschen seien langzeitarbeitslos. Das sei eine ähnliche Herausforderung wie bei den Flüchtlingen. "Es ist völlig falsch, dass Flüchtlinge Deutschen Jobs wegnehmen. Zum einen, weil es genügend Jobs gibt. Und wie soll ein Flüchtling, der wenig Deutsch spricht, einem Deutschen den Job wegnehmen?", meinte Fratzscher. Aus seiner Sicht ist entscheidend, wie gut die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integriert werden können. "Da geht es um Ausbildung, Fortbildung. Und da brauchen wir diesen Kraftakt."

Man wisse, dass viele Syrer eine Schuldbildung und auch ein Studium hätten, so Fratzscher, aber es gebe auch viele ohne Ausbildung. Insgesamt seien zwei Drittel der Flüchtlinge jünger als 25 Jahre, sie müssten ohnehin zur Schule oder bräuchten Ausbildungsplätze, sagte Frazscher. Der Ökonom sieht Politik und Wirtschaft in der Pflicht, mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. "Ehrlich gesagt, wenn man sich so manche Unternehmen mit Tausenden Mitarbeitern anschaut, die nun sagen: 'Wir haben 20 Flüchtlinge angestellt', dann ist das etwas kläglich."

Quelle: n-tv.de , mbo/dpa