Kinder haben Kriege erlebt, Erwachsene Leichen gesehen: Ein Großteil der Flüchtlinge kommt traumatisiert nach Deutschland. Viele bleiben mit ihrem Leid allein, Psychotherapeuten fordern gesetzliche Änderungen.
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© dpaEin Flüchtling vor einer Notunterkunft bei Schwerin: Die meisten haben Krieg, Gewalt und Leid erlebt
Eigentlich waren die Frauen dem Schrecken entflohen, als sie im Flugzeug nach Deutschland saßen. Trotzdem begann bei manchen das Herz zu rasen, ihr Atem stockte, ihnen wurde schwindelig und sie litten unter Todesängsten. Die Enge des Flugzeugs erinnerte sie an ihre Gefangenschaft beim IS.

Viele Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, haben Traumatisches erlebt. "Sie benötigen dringend Hilfe", heißt es in einem Papier der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). Das deutsche Gesundheitssystem aber ist aktuell kaum dazu in der Lage, ihnen diese Hilfe zu gewähren.

Schon 2014 bekamen in Deutschland nur rund vier Prozent der psychisch kranken Flüchtlinge einen Therapieplatz. Mehr als 200.000 hatten in dem Jahr Asyl gesucht, mindestens die Hälfte davon litt aufgrund ihrer Erlebnisse an einer psychischen Krankheit. Plätze für eine psychotherapeutische Behandlung gab es jedoch nur für rund 3600.

Diese Situation wird sich in diesem Jahr noch weiter zuspitzen, Schätzungen erwarten 2015 mindestens 800.000 Flüchtlinge. Ändere sich nichts an der Versorgung, werde der Anteil der psychisch erkrankten Flüchtlinge, die eine Psychotherapie erhielten, auf unter ein Prozent fallen, warnt die BPtK.

Jeder Zweite hat eine Leiche gesehen

Dem stehen Zahlen gegenüber, die zeigen, wie wichtig die Versorgung eigentlich ist: Rund 70 Prozent der Erwachsenen, die als Flüchtlinge in Deutschland ankommen, haben Gewalt gegenüber anderen miterlebt. Mehr als jeder zweite hat Leichen gesehen oder wurde selbst Opfer von Gewalt. 43 Prozent wurden gefoltert, zeigen Studien.

Auch die Kinder und Jugendlichen, die in Deutschland ein neues Zuhause finden wollen, haben oft Traumatisierendes gesehen. Jeder Vierte wurde Zeuge von Gewalt an Mitgliedern seiner Familie, heißt es in dem Papier der Psychotherapeutenkammer. 38 Prozent haben einen Krieg miterlebt, 41 Prozent körperliche Angriffe auf andere.

Wie die Erfahrungen krank machen

Mit den Bildern im Kopf ist ein normales Leben kaum möglich. Laut deutschen Studien leidet rund die Hälfte der Flüchtlinge unter Depressionen. Etwa 40 bis 50 Prozent der erwachsenen Flüchtlinge haben eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Sie erleben die traumatische Situation immer wieder, oft in Albträumen oder als blitzartige Bilder. 40 Prozent der traumatisierten Flüchtlinge hatten Pläne, sich das Leben zu nehmen, oder haben es schon versucht, schreibt die BPtK.

"PTBS-Betroffene sind schwer psychisch krank", sagt BPtK-Präsident Dietrich Munz. "Sie benötigen dringend eine Psychotherapie. Es ist beschämend, dass Menschen mit solch starken und schmerzenden psychischen Verletzungen fast nie eine angemessene Hilfe erhalten."
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Politische Forderung: Psychotherapie und Dolmetscher

Um die psychologische Versorgung der Flüchtlinge in Zukunft zu sichern, fordert die BPtK vor allem drei Veränderungen:
  • Mehr qualifizierte Gutachter in Sozialämtern. Die Entscheidung, ob ein psychisch kranker Asylsuchender in den ersten 15 Monaten seines Aufenthalts eine Psychotherapie gewährt bekommt, dauert oft Monate. Häufig beurteilten Sachbearbeiter und Ärzte ohne eine spezielle Ausbildung, ob eine Psychotherapie notwendig sei, kritisiert die BPtK.
  • Nach 15 Monaten in Deutschland können Flüchtlinge Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in Anspruch nehmen. Diese bezahlen jedoch keine Behandlung in psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, obwohl dort ein Großteil der Therapien stattfindet. Psychotherapeuten in Flüchtlingszentren und psychotherapeutischen Privatpraxen sollten ermächtigt werden, Flüchtlinge zu behandeln, fordert die BPtK.
  • Obwohl Flüchtlinge fast immer Dolmetscher für eine Psychotherapie benötigen, bezahlten Sozialämter diese Leistung bislang selten, gesetzliche Krankenversicherungen überhaupt nicht. Das müsse sich ändern, kritisiert die BPtK.
"Die ankommenden Flüchtlinge benötigen nicht nur eine Unterkunft und Lebensmittel, sondern auch eine medizinische Versorgung. Aber fast kein psychisch kranker Flüchtling erhält eine angemessene Versorgung", sagt BPtK-Präsident Dietrich Munz. Gesetzliche Änderungen seien dringend notwendig.

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