In einem Berliner Freizeitpark wurden jahrelang Kinder und Jugendliche missbraucht. Die Ursache: Mechanismen wie in der Odenwaldschule und in katholischen Einrichtungen.
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© Arne Dedert/dpa

Offenbar haben Mitarbeiter der Parkeisenbahn im Berliner Freizeitpark Wuhlheide über Jahre Kinder und Jugendliche systematisch sexuell missbraucht. Zwei ehemalige Mitarbeiter sind bereits verurteilt, gegen sieben weitere wird ermittelt. In dem Verein wurden Übergriffe wohl durch ähnliche Mechanismen begünstigt, wie sie auch bei Missbrauchsfällen in katholischen Einrichtungen und der Odenwaldschule vorherrschten. Diese Fälle führten 2010 zu Diskussionen bis in die höchsten politischen Ebenen.

Was hat den systematischen Missbrauch ermöglicht?

Viele Männer und Frauen haben bei der Aufarbeitung des Missbrauchs in katholischen Einrichtungen berichtet, dass sie ihren Eltern nichts davon erzählt haben, dass sie von Priestern begrapscht, sexuell bedrängt, vergewaltigt worden sind. Sie gingen davon aus, dass ihnen die Eltern sowieso nicht glauben würden. Die Kirche, die Priester genossen so hohes Ansehen, dass sich die Eltern nicht hätten vorstellen können, dass diese Kindern so etwas antun.

Auch an der hessischen Odenwaldschule konnten Erzieher und Lehrer jahrzehntelang Jugendliche systematisch missbrauchen, ohne dass es aufgefallen wäre. Das Renommee der Schule und ihrer führenden Pädagogen schützte die Institution vor Nachfragen und Kontrolle von außen. Wie die katholischen Internate war auch die Odenwaldschule ein geschlossenes soziales System.

Ähnlich war es wohl auch im Freizeitpark Wuhlheide. Die Einrichtung war bei Ostberliner Eltern sehr beliebt, manche Familien hatten über Generationen dort ihre Ferien verbracht. Auch hier verhinderte der große Vertrauensvorschuss, dass von außen allzu kritisch hingeschaut wurde. Selbst als sich eine Mutter 2007 wegen sexueller Übergriffe auf ihren Sohn beschwerte, wurde zwar der beschuldigte Mitarbeiter entlassen. Der Vorfall war aber offenbar kein Anlass, um systematisch nachzufragen, ob es noch mehr Fälle geben könnte. In katholischen Internaten und auch bei der linksliberalen Odenwaldschule bestärkten zudem hierarchische Strukturen und die Abhängigkeit der Schüler von ihren Lehrern den Missbrauch. Bei der Parkeisenbahn in der Wuhlheide sind die mutmaßlichen und überführten Täter ebenfalls allesamt leitende Angestellte, denen es ihre Stellung erlaubte, sich unkontrolliert und ohne Rechenschaft abgeben zu müssen an abgelegene Orte auf dem weitläufigen Gelände zurückzuziehen und sich dort Kinder gefügig zu machen.

Noch etwas begünstigte den Missbrauch in der Wuhlheide: Offenbar stammten nicht wenige Kinder, die bei der Bahn aktiv waren, aus sozial schwachen Milieus und ungefestigten Familienstrukturen. Die Erwachsenen bei der Parkeisenbahn waren für etliche eine Art Ersatzvater, von denen sie emotional abhängig waren. In dieser Konstellation ist es für Pädophile leicht, Kinder zu manipulieren. Denn auch das haben die aufgedeckten Fälle im Jahr 2010 gezeigt: Die Täter waren meistens die charismatischen Lehrer und Pädagogen, diejenigen, denen sich die Kinder besonders schnell öffneten.

Die Parkeisenbahn bemühe sich aber um gründliche Aufklärung, betont die Berliner Staatsanwaltschaft. Dies war gerade bei den Fällen 2010 nicht immer gegeben.

Die Grenzen der Prävention: Was kann die Politik tun, um Missbrauch zu verhindern?

Die Diskussion im vergangenen Jahr war wichtig, weil so noch einmal aufgezeigt wurde, dass Missbrauch nicht zu verharmlosen ist, sondern dass sexuelle Übergriffe Menschen für ihr ganzes Leben schädigen können. Dass die Katholische Kirche eine Hotline geschaltet und ein Aufklärungsteam eingesetzt hat, waren wichtige Signale. Auch dass die Bundesregierung einen Runden Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ einberufen und Christine Bergmann zur Unabhängigen Beauftragten ernannt hat. Bergmanns Plakatkampagne hat vielen Männern und Frauen Mut gemacht, ihr Schweigen zu brechen. Auch nach einem Jahr rufen täglich noch 20 bis 40 Menschen bei der Hotline an.

An diesem Montag ist Christine Bergmanns letzter Arbeitstag im Amt, ihr Auftrag war auf ein Jahr befristet. Ihr Team und die Telefonhotline werden aber auch in Zukunft weiterarbeiten, die Bundesregierung beabsichtigt, einen Nachfolger für Bergmann zu finden.

Bergmanns Bilanz ist gemischt: Die Öffentlichkeit ist für das Thema sensibilisiert, vieles wurde angestoßen. Aber die Hilfsangebote reichen bei Weitem nicht aus. Auf dem Land gebe es kaum Anlaufstellen, mahnte Bergmann in ihrem Abschlussbericht vergangene Woche, und selbst in den Städten existierten nur wenige Angebote für traumatisierte Männer und Jungen. Missbrauch war über viele Jahrzehnte ein Frauenthema, wenn es überhaupt jemanden interessierte. Dass auch Männer zu den Opfern gehören, wurde erst 2010 wirklich wahrgenommen. Auch Wolfgang Werner, der als Diplom-Pädagoge seit dem Winter 2010 die Aufarbeitung der Parkeisenbahn begleitet, kritisiert, dass viele Polizisten speziell bei sexuellem Missbrauch an Jungen „nicht besonders gut geschult“ seien.

Wo sind die Grenzen dessen, was die Politik leisten kann?

Selbst wenn die Politik Geld für mehr Hilfsangebote und flächendeckende Schulungen für Lehrer und Erzieher bereitstellt, kann sie nicht ausschließen, dass sexueller Missbrauch geschieht. Es braucht die Sensibilität aller, der Freunde, der Nachbarn, um es zu verhindern oder die Anzeichen für eine Tat zu lesen. Das wirksamste Mittel ist wohl, die Kinder selbst zu stärken, ihnen klarzumachen, dass es nicht okay ist, wenn der Lehrer oder der Onkel an ihnen herumfummelt, dass sie das Recht haben, nein zu sagen. Denn auch Familien können sich abschotten und zu geschlossenen Systemen werden, was Missbrauch erleichtert.

Um Mädchen und Jungen direkt anzusprechen, will Christine Bergmann über ihre Amtszeit hinaus eine neue Kampagne anstoßen. Mit Plakaten und übers Internet will sie Kinder und Jugendliche aufklären und ihnen Mut machen, sich zur Wehr zu setzen und sich Hilfe zu holen.

Erschienen im Tagesspiegel