Keine Woche vergeht ohne Berichte über Verweiflungstaten und Burnout. Sozialpsychologen wissen, was die Menschen in Deutschland so überfordert - Druck in der Arbeit, Existenzangst und das Gefühl der Ausweglosigkeit.
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Es ist erst einen Tag her, dass im oberbayerischen Ort Schliersee ein Haus in die Luft gesprengt wurde - offenbar hatte eine Frau aus Verzweiflung gehandelt. Ein Durchdrehen, eine Panikreaktion, ein Ventil, durch das der Überdruck gewaltsam entweicht? Denn eines ist sicher: Der Druck auf die Menschen in Deutschland wächst. Krankenkassen melden einen enormen Anstieg von Arbeitnehmern, die wegen seelischer Krankheiten für Monate aus der Bahn geworfen werden. Ist unser Leben unerträglich geworden, ist Deutschland überfordert?

Zahlen helfen bei der Betrachtung des Themas bedingt weiter. Ob Verzweiflungstaten zugenommen haben, kann niemand sagen. Ob etwa ein Haus aus dem Gefühl der Ausweglosigkeit heraus gesprengt wird oder aus anderen Motiven, ist in der deutschen Kriminalstatistik nicht erfasst. Die Zahl der Suizide, der „Tode durch vorsätzliche Selbstbeschädigung“, wie es beim Statistischen Bundesamt heißt, ist seit zehn Jahren in etwa konstant. Den wohl griffigsten Hinweis auf Überforderung liefern die Zahlen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK: Demnach stiegen die Fehlzeiten von Arbeitnehmern mit psychischen Erkrankungen seit 1994 um 88 Prozent.

Druck in der Arbeit nimmt zu

Die Ursachen für die Zunahme von Burnout, der ein Ausdruck von Überforderung sein kann, sieht der Sozialpsychologe Rolf van Dick von der Goethe-Universität Frankfurt vor allem in der Änderung gesellschaftlicher Bedingungen. „Der Druck auf die Menschen ist heute viel größer als noch vor zehn Jahren“, sagt van Dick, der dem „Center Leadership and Organizational Behavior“ vorsteht. Einen Grund sieht Dick dafür in den prekären Beschäftigungsverhältnissen, Sorgen um den Arbeitsplatz oder die Belastung durch mehrere Jobs, weil einer nicht zum Leben reicht. Ein anderer Grund sei die Zunahme der Belastung, weil Betriebe ihren Mitarbeitern zwar häufig wie gewünscht mehr Verantwortung übertrügen, ihnen aber nicht beibrächten, wie man damit umgehe. „Wer auf einmal Budgetverantwortung hat, aber gleichzeitig keine Ahnung von Finanzplanung aufweist, ist schnell überfordert.“ Dazu komme die ständige Erreichbarkeit, die Arbeitnehmer plage. „Der Opel-Betriebsrat hat deswegen erst kürzlich durchgesetzt, dass die Mail-Server nach Ende der Gleitzeit heruntergefahren werden, damit tarifgebundene Mitarbeiter nicht noch am Feierabend E-Mails bearbeiten müssen“, sagt van Dick.

Van Dick geht davon aus, dass der Druck in der Arbeitswelt bei manchen Menschen auch zu Aggressionen führen kann. „Bis sich das wirklich in Gewalt entlädt, müssen aber noch andere Faktoren dazukommen“, sagt der Sozialpsychologe, „etwa Gewalterfahrungen in der Kindheit, der Konsum aggressiver Medieninhalte.“

Stress und Gewalt können zusammenhängen - müssen aber nicht

„Damit sage ich aber nicht, dass jemand, der einen Staatsanwalt erschießt, wie es kürzlich passiert ist, aus Verzweiflung gehandelt haben muss“, warnt van Dick. Einen eventuellen Zusammenhang von Tötungsdelikten und Verzweiflung zu untersuchen, hält er wissenschaftlich kaum für möglich - für Analysen seien die Fallzahlen viel zu gering. Gegen eine auffällige Verbindung von Gewalttaten und Verzweiflung spricht außerdem die Kriminalstatistik: Gewaltverbrechen nehmen seit Jahren eher ab.

In dem Buch Das überforderte Selbst stellt der Politikwissenschaftler Walter Reese-Schäfer die These auf, die Auffassung unserer Gesellschaft, jeder sei selbst für sich verantwortlich - also jeder seines Glückes Schmied - , erhöhe den Druck auf den Einzelnen, weil jedes Versagen als eigene Schuld gilt. Diese These will van Dick so nicht stehen lassen. „Natürlich kann so Druck entstehen, aber die Hauptströmung in der Psychologie ist der Auffassung, dass derjenige, der das Gefühl hat, seine Umwelt beeinflussen zu können - also selbst an seinem Glück arbeiten kann - zufriedener ist als jemand, der diese Verantwortung nicht übernehmen kann.“

Allerdings sind sich die beiden Wissenschaftler einig, dass es Situationen gibt, in welchen man sich anstrengen kann wie man will - der Erfolg bleibt doch von anderen abhängig. „Wenn jemand ohne Erfolg 100 Bewerbungen geschrieben hat und dann noch hört, er sei selbst verantwortlich, wenn er nicht einmal eine ordentliche Absage bekommt, dann ist das schlimm“, sagt van Dick. „Dann können solche Appelle von der Eigenverantwortung schon Aggressionen auslösen.

sk