Berner Wissenschafter finden neuen Mechanismus

Eigentlich sollte man es wissen, aber das Vokabel will einem einfach nicht einfallen: Was beim Vergessen von Informationen im Gehirn abläuft ist bis heute nicht vollständig geklärt. Schweizer Wissenschafter haben nun einen Mechanismus entdeckt, der möglicherweise Licht in die Frage bringt. Eine Hauptrolle bei ihrer Erklärung spielt ein vom Gehirn selbst produzierter cannabisähnlicher Stoff.

Das Phänomen des Vergessens ist uns wohlbekannt. Doch was passiert dabei im Gehirn? Die Forscher Thomas Nevian und Rogier Min vom Institut für Physiologie der Universität Bern sind dem zugrunde liegenden Mechanismus einen Schritt näher gekommen: Sie haben herausgefunden, dass Sternzellen - sogenannte Astrozyten -, denen bislang nur eine passive Rolle als Stütz- und Versorgungszellen für die Nervenzellen zugeschrieben wurde, womöglich eine entscheidende Rolle beim Vergessen spielen. Die Sternzellen greifen durch einen körpereigenen Stoff, der dem Cannabis sehr ähnlich ist, in die Chemie des Gehirns ein. Die Ergebnisse sind nun im Wissenschaftsjournal Nature Neuroscience publiziert.

Aufgabe des Gehirns ist es, Informationen über die Sinnesorgane aufzunehmen, zu verarbeiten, Informationen zu speichern und schließlich durch Impulse an die Muskeln unser Verhalten zu steuern. Das Aufnehmen, Aussenden, Verarbeiten und Speichern von Informationen findet in den Nervenzellen statt. Diese Nervenzellen sind über Kontaktstellen, die Synapsen, jeweils mit unzähligen anderen Nervenzellen verbunden. Über diese Synapsen werden Informationen auf elektrisch- chemischem Weg von einer Nervenzelle an die nächste weitergegeben.

Verspätete Informationen

Nun kann es aber vorkommen, dass eine vorgeschaltete Nervenzelle eine Synapse aktiviert, nachdem die nachgeschaltete Nervenzelle schon einen elektrischen Impuls generiert hat. Diese Information kommt quasi zu spät und trägt also nicht mehr zur Aktivierung der nachgeschalteten Nervenzelle bei. "Wenn sich dieser Vorgang häufig wiederholt, werden biochemische Vorgänge angestoßen, bei denen die nachgeschaltete Nervenzelle Botenstoffe aussendet, die der vorgeschalteten Nervenzelle mitteilen, weniger Signale zu senden - was einer Schwächung der Verbindung zwischen den beteiligten Nervenzellen gleich kommt", erklärt Physiologe Nevian.

Wie funktioniert nun denn das rückläufige Signal von der nachgeschalteten an die vorgeschaltete Nervenzelle? Rogier Min und Thomas Nevian haben festgestellt, dass dieses Signal über die Astrozyten übermittelt wird. Diese umschließen die Kontaktstelle der beiden Nervenzellen. Nun sondert die nachgeschaltete Nervenzelle eine cannabisähnliche Substanz ab, die von den Astrozyten über sogenannte CB1-Rezeptoren wahrgenommen wird. Hierauf schicken diese ihrerseits ein Signal an die vorgeschaltete Zelle, die als Folge weniger Signale übermittelt; die Verbindung zwischen den beiden Nervenzellen wird schwächer.

Impulse für die Schmerzbehandlung

"Den Astrozyten könnte also eine zentrale Rolle in dem Mechanismus zukommen, der für das Vergessen von Informationen zuständig ist", sagt Physiologe Nevian. Dieses Wissen eröffne der Forschung neue Möglichkeiten - etwa für die Behandlung von Schmerzpatienten: Es ist bekannt, dass bei chronischen Schmerzen diejenigen Synapsen, die für die Verarbeitung von Schmerzreizen verantwortlich sind, zu stark sind.

Physiologe Nevian hofft, "dass durch ein gezieltes Aktivieren der an diesen Synapsen sitzenden Astrozyten die betreffenden Synapsen abgeschwächt und dadurch Schmerzen bekämpft werden können". Da die Astrozyten auf cannabisähnliche Stoffe reagieren, könnte dieser Zusammenhang auch eine Erklärung dafür sein, weshalb Cannabis in gewissen Fällen erfolgreich als Schmerzmittel eingesetzt werde. Hingegen kann der Effekt von cannabisähnlichen Stoffen im Gehirn auch problematisch sein: "Cannabiskonsum kann dazu führen, dass man vergisst, was man gar nicht vergessen will", betont Thomas Nevian.

red, derstandard.at, 31.3.2012