Neue Hoffnung für Grönlands Gletscher: Der schmelzende Eispanzer trägt laut einer neuen Studie weniger zum Anstieg des weltweiten Meeresspiegels bei als bisher vermutet. Entwarnung geben die Forscher allerdings nicht - die Turbo-Schmelze könnte lediglich später einsetzen.
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© Science/ AAAS/ Ian Joughin
Für Fluggäste zwischen Europa und Nordamerika ist es ein beeindruckendes Erlebnis. Wenn ihre Route über Grönland führt, können sie aus ihren Fenstern die eisige Unendlichkeit unter sich bestaunen: 1,7 Millionen Quadratkilometer, also 80 Prozent der Inselfläche, sind vom Inlandeis bedeckt. Stellenweise türmt sich der frostige Panzer fast dreieinhalb Kilometer über felsigem Untergrund. Doch Grönlands Eis schmilzt - zuletzt verschwand die kaum vorstellbare Menge von 250 Gigatonnen pro Jahr.

Forscher halten das für alarmierend: Im weltweiten Durchschnitt würde der Meeresspiegel um rund sieben Meter ansteigen, wenn Grönland völlig eisfrei wäre. Doch das komplette Verschwinden des mächtigen Panzers wäre ein extrem langwieriger Prozess - und der hängt entscheidend vom Verhalten der Gletscher ab.

Was genau trägt das Abschmelzen von Grönlands Eispanzer zum Anstieg des Meeresspiegels bei? Über diese scheinbar simple Frage wird seit Jahren erbittert gestritten. Die Eiszungen werden aus der Luft überwacht, das Schmelzwasser der Auslassgletscher penibel vermessen. Hochsensible GPS-Sensoren bekommen sogar mit, wie sich Grönlands Untergrund langsam hebt - weil das schwindende Eis ihn weniger stark nach unten drückt.

Dass sich das Meereis auf dem Arktischen Ozean im Sommer längst weit hinter die langjährigen Mittelwerte zurückzieht, wirkt sich nicht auf die Pegel aus - weil die Schollen ohnehin schon auf dem Meer schwimmen. Doch mit dem grönländischen Inlandeis verhält sich das anders: Je mehr Masse die Gletscher von der Insel ins Meer befördern, desto stärker steigt dort der Wasserstand. Nach manchen Prognosen sind bis zu zwei Meter bis zum Ende des Jahrhunderts drin.

Daten von drei Satelliten zusammengeführt

Eine neue Studie legt nun allerdings nahe, dass der Beitrag Grönlands zu dem beunruhigenden Trend um einiges geringer ausfallen könnte, als die schlimmsten Szenarien nahegelegt hatten. Wissenschaftler um Twila Moon von der University of Washington in Seattle berichten im Fachmagazin Science von einer umfassenden Auswertung von Satellitendaten. Sie hatten das Verhalten von rund 200 Gletschern aus dem All überwacht. Den dafür nötigen Datensatz haben die Forscher aus Beobachtungen der Satelliten Radarsat 1 (Kanada), TerraSar-X (Deutschland) und dem kürzlich aufgegebenen Advanced Land Observation Satellite (Japan) zusammengestellt.

Eine erste Messung aus dem Winter 2000/01 diente als Vergleichsgrundlage. Für die Zeit zwischen 2005/06 und 2010/11 gab es dann jährliche Auswertungen - ein wahrer Datenschatz. Denn bisher wurden vor allem ausgewählte Eiszungen wie der Jakobshavn Isbræ, der Helheim und der Kangerdlugssuaq Gletscher über längere Zeit genau vermessen - und die fließen besonders schnell.

Bei der Auswertung der neuen Daten zeigte sich nun, dass viele von Grönlands Gletschern zwar Fahrt aufnehmen - aber eben längst nicht so viel, wie bisher in manchen Modellen angenommen. Betroffen sind vor allem Eiszungen, die im offenen Meer enden. "Im Durchschnitt sehen wir bisher eine Tempozunahme um 30 Prozent innerhalb von zehn Jahren", sagt Forscherin Moon.

Manche ihrer Kollegen hatten hier in der Vergangenheit mit einer Verdoppelung der Geschwindigkeit gerechnet. Nach einer gewissen Zeit sollte sich der Eistransport dann auf einem hohen Niveau stabilisieren. Auf eine solche Geschwindigkeitsbegrenzung liefert die neue Studie aber wiederum auch keine Hinweise.

Keine Messwerte im Sommer

Daten für die warmen Sommermonate umfasst die aktuelle Auswertung noch nicht, obwohl viele Gletscher gerade dann besonders viel Eis ins Meer befördern. Außerdem gestehen die Forscher ein, dass selbst ein Betrachtungszeitraum von zehn Jahren zu kurz für allgemeingültige Aussagen sei. In mancherlei Hinsicht werfe die aktuelle Studie "mehr Fragen auf, als sie beantwortet", sagt Ian Joughin von der University of Washington, einer der Autoren. "Es zeigt sich, dass es eine Menge Variabilität gibt."

So sieht das auch Andreas Ahlstrøm vom Geologischen Dienst Dänemarks, der nicht an der Arbeit beteiligt war. Der Glaziologe leitet das Überwachungsprogramm seiner Behörde für den Eisschild. Gerade ist er vom ostgrönlandischen Tasiilaq zur Wartung einiger Messstationen unterwegs, denen die Winterstürme jedes Jahr aufs Neue zusetzen.

"Der ein Jahrzehnt umfassende Datensatz ist immer noch deutlich zu klein, um uns Sicherheit über die Art und Weise der Beschleunigung der Gletscher zu geben", sagt Ahlstrøm. "Aber es ist erkennbar, dass das Verhalten der Gletscher sich dramatisch von Region zu Region unterscheidet, teilweise sogar zwischen benachbarten Gletschern." Die Auswertung zeige, dass die Beobachtung eines einzigen Auslassgletschers nicht repräsentativ für ein größeres Gebiet sei.

Ähnlich kommentiert Andreas Vieli von der University of Durham die Studie. Sie helfe dabei, größere räumliche und zeitliche Trends erkennbar zu machen. Und genau die seien nötig, um künftig Prognosen erstellen zu können.

Theorie der Schmelzwasser-Schmierwirkung diskreditiert

Vieli, der an der Studie ebenfalls nicht beteiligt war, weist noch auf einen weiteren interessanten Aspekt der Arbeit hin. Er betrifft Gletscher, die nicht im Meer, sondern an Land enden. "Hier scheint es eine leichte Verlangsamung des Abflusses zu geben oder bestenfalls - im Rahmen der Fehlermargen - keine Beschleunigung." Damit wird nach Ansicht des Forschers eine bislang hitzig diskutierte These diskreditiert. Sie besagt, dass verstärkt auftretendes Schmelzwasser an der Unterseite der Eiszungen als eine Art Schmiermittel wirkt - und ein beschleunigtes Abrutschen der kalten Massen auslöst.

Die bisherigen Studien, die das nahegelegt hätten, seien auf den Südwesten Grönlands beschränkt gewesen. Außerdem seien dafür nur kurze Zeiträume von einigen Tagen bis Monaten untersucht worden. So sei "ein etwas irreführendes Bild" entstanden, so die Forscher.

Wie stark der Eisverlust in Grönland zum Anstieg der Meeresspiegel beitragen wird, können auch die Autoren der aktuellen Studie nicht genau sagen. Sie halten es aber für möglich, dass der Betrag noch unterhalb der bisherigen Minimal-Szenarien liegt. Das wären dann etwa zehn Zentimeter bis zum Ende des Jahrhunderts.

Zukünftige Kipppunkte im Klimasystem könnten trotzdem für eine Turbo-Schmelze in Grönland sorgen. Auch ein Erwachen der bisher noch sehr trägen Gletscher im Norden der Insel könnte dem Meeresspiegel massiv auf die Sprünge helfen.