Die Selbstmordrate unter den US-Soldaten ist erschreckend hoch. Das Militär und die Politik wirken ratlos, weil das Klischee vom verzweifelten "Rambo" bei den Opfern nicht mehr zutrifft.
Soldat
© Getty ImagesDie Selbstmordrate der US-Soldaten nimmt erschreckende Ausmaße an.
Sie sterben an einer Heimatfront, deren Schrecken nur sie kennen, sie kommen meist durch eine Kugel um, seltener durch den Strang, sie fallen, weil sie wehrlos sind gegen den Feind, der in ihnen wütet: Amerikanische Soldaten suchen in einer Zahl den Freitod, die die Rate von Zivilisten in diesem Jahr um 60 Prozent übertrifft und das Pentagon aufs Höchste alarmiert.

Im Juli töteten sich 38 aktive US-Soldaten und Reservisten, darunter immer mehr Unteroffiziere; es ist die höchste Zahl seit 2001. Verteidigungsminister Leon Panetta sprach im Juni von einem Trend, der sich "trotz verstärkter Anstrengung und Aufmerksamkeit in einer bestürzenden und tragischen Weise fortsetzt".

Der Minister äußerte sich auf der jährlichen "Konferenz zur Verhinderung von Selbstmorden"; der Name der Veranstaltung an sich besagt genug. Für Panetta ist es die "frustrierendste Aufgabe" seiner Amtszeit. Time nannte den Kampf gegen die Lebensmüdigkeit von GIs in einer Titelgeschichte "den ultimativen asymmetrischen Krieg ... und das Pentagon verliert ihn".

Fast täglich ein Selbstmord

Während die absoluten Zahlen angesichts der Truppenstärke der USA in den Augen von Zivilisten gering erscheinen könnten, weist der Vergleich in die Abgründe: Veteranen, Kriegsteilnehmer wie Gediente im Frieden, machen zehn Prozent der erwachsenen amerikanischen Bevölkerung aus, doch 20 Prozent der Selbstmorde. Fast täglich stirbt ein US-Soldat von eigener Hand.

Zwei Drittel erschießen sich, jeder Fünfte erhängt sich. Es sind beileibe nicht nur von posttraumatischer Belastungsstörung betroffene Frontsoldaten. Nahezu ein Drittel der Selbstmorde zwischen 2005 und 2010 wurde von Angehörigen der Streitkräfte verübt, die nie Feindberührung hatten; 43 Prozent waren nur einmal in Feindesland stationiert.

Nur 8,5 Prozent kamen dem Klischee des ausgebeuteten, entfremdeten, mehr als viermal entsandten "Rambo" nahe. Vielleicht noch erschreckender als die schiere Zahl der Selbstmorde, die auf traurige Weise mit den Gefallenenziffern in Afghanistan mithalten, ist die Ratlosigkeit der politischen und militärischen Führung.

Große Ratlosigkeit

Es erschließt sich eben nicht leicht, warum immer mehr Offiziere, darunter Ärzte und Anwälte, die gut verdienen, in intakten Familien leben, in der Obhut der Streitkräfte ausgesorgt haben und fern des Überlebensstresses des Krieges arbeiten, plötzlich keinen Ausweg mehr sehen. Verzweifelte Ehefrauen, Kinder und andere Angehörige quälen sich mit der Frage, ob sie versagt haben, den Tod ihrer Angehörigen hätten verhindern können.

Seit dem Jahr 2000 hat das US-Verteidigungsministerium seine psychiatrisch geschulten Mediziner um 35 Prozent auf nahezu 10.000 Personen verstärkt. Kritiker verweisen darauf, dass dennoch von den 53 Milliarden Dollar, die das Pentagon jährlich für die gesamte "Arztrechnung" aufbringt, nur vier Prozent für die Diagnose und Pflege seelisch kranker Soldaten bereitgestellt werden.

Niemand bestreitet, dass es diese Erkrankungen sind, die überproportional zunehmen: Nach einem Bericht des Pentagons vom Mai wurden im vergangenen Jahr die meisten Soldaten (22.000) wegen psychischer Verwundungen in Militärkliniken eingewiesen, 54 Prozent mehr als 2007. Selbstmorde haben Autounfälle als führende Ursache für Nicht-Gefechts-Tötungen verdrängt.

800.000 Veteranen sind arbeitslos

Für die Mannschaftsdienstgrade, die sich ohne College-Ausbildung verpflichtet haben und nach ihrer Dienstzeit Jobs suchen, sieht es in der Tat nicht gut aus. Rund 800.000 Veteranen sind arbeitslos - unter den Veteranen zwischen 18 und 24 Jahren entspricht das einer Quote von nahezu 38 Prozent -, fast anderthalb Millionen leben an der Armutsgrenze.

Ein Drittel der Wohnsitzlosen Amerikas, so eine Schätzung, hat gedient. Wieder läge es nahe, dem Pentagon und der amerikanischen Öffentlichkeit vorzuhalten, den traurigen Zustand ihrer "Helden" zu verdrängen und zu leugnen.

Doch schon Präsident George W. Bush widmete nach dem 11. September 2001 eine eigene "GI-Bill", also ein Gesetz für Soldaten, zur Schulausbildung und Umschulung heimkehrender Veteranen. Dazu zählte jeder, der nach "9/11" mindestens 90 Tage gedient hatte. Präsident Barack Obama folgte 2009 mit Gründung eines "Rats für die Anstellung von Veteranen", der in zwei Jahren rund 70.000 in Jobs des Bundes vermittelte.

Ende November 2011 legte Obama nach mit einem Gesetz, das Arbeitgebern, die ehemalige Soldaten beschäftigen, Steueranreize gewährt. First Lady Michelle Obama hat sich die Sorge um das Wohl und Leid von Soldatenfamilien vom ersten Tag im Weißen Haus an zu ihrer vornehmsten Pflicht gemacht.

Viel Respekt für Veteranen

Man kann nicht behaupten, die aus dem Irak oder Afghanistan heimkehrenden Soldaten hätten die Verachtung zu erdulden, die einst den Vietnam-Veteranen entgegenschlug. Im Gegenteil, nicht einmal Amerikas Linke, die den Irak-Krieg für Wahnsinn hielt, lässt es an Respektsbezeugungen für die Truppen fehlen.

Das Trauma Vietnam mit Generationen vereinsamter, gescheiterter Existenzen nach der Rückkehr aus einem unpopulären Krieg, hat seinen Teil gelehrt. Der Schock des 11. September bewirkte wohl das Entscheidende: nämlich als angegriffene Nation zusammenstehen zu müssen, trotz aller politischen Unterschiede. Es ist beinahe eine Überkompensation des schlechten Gewissens, wie jeder Schreibtisch-Soldat in der amerikanischen Öffentlichkeit zum Helden stilisiert und mit Respektsbekundungen überschwemmt wird.

Was all die Hymnen den "Helden" nützen, ist angesichts der Selbstmordrate umso zweifelhafter. Amerikas Selbsterforschung zur Lebensmüdigkeit seiner Krieger geht weiter.