gluten-free
Ausgerechnet der gute alte Weizen ist vielen Menschen nicht mehr geheuer. Sind Brot und Nudeln wirklich schuld an Bauschmerzen und dicken Wampen? In der Mehrheit eher nicht, die meisten Glutenfrei-Fans machen einfach nur die neueste Diätmode mit.


Das Übel fing vor 10.000 Jahren an. Damals machte der Mensch als frisch niedergelassener Bauer den verhängnisvollen Fehler, Weizen anzupflanzen. Jüngst wurde die Pflanze dazu noch genetisch derart verändert, dass sie dem Menschen nun leidige Zivilisationskrankheiten beschert. All das behauptet zumindest der amerikanische Präventivmediziner William Davis in seinem 2013 erschienenen Bestseller „Weizenwampe“. Das neue Zuchtprodukt, warnt er, schade nicht nur Herz, Hirn und Haut; es mache auch dick, süchtig und verursache Diabetes sowie Krebsleiden.


Was immer man von diesen Thesen halten mag, fest steht: Im Weizen steckt etwas, mit dem es unser Verdauungstrakt schwer hat - das Klebereiweiß Gluten. „Dieses Protein hat sich in der Pflanzenzelle als Speicher für bestimmte Aminosäuren bewährt, im menschlichen Darm jedoch zeigt es den Verdauungsenzymen ihre Grenzen auf“, sagt Peter Köhler, stellvertretender Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie in Freising.

Weil die Darmenzyme das Gluten nicht vollständig zerlegen können, bleiben stets mehr oder weniger lange Eiweißbruchstücke zurück. Bei einem von 270 Deutschen hat das die verhängnisvolle Folge, dass sein Immunsystem das Auftauchen dieser Häcksel als feindliche Attacke interpretiert und zusammen mit den Glutenresten auch die eigene Darmwand attackiert. Einem Zöliakie- oder Spruekranken, wie sich die Krankheit nennt, wird deshalb von Ärzten zur absoluten Glutenabstinenz geraten.

Glutenfrei als Lifestyle

Trotzdem haben inzwischen weitaus mehr Menschen dem Eiweiß abgeschworen. Glutenfreie Produkte liegen im Trend. Sie füllen mit zweistelligen Zuwachsraten die Supermarktregale - obwohl nur einer von vier Käufern dieser Produkte eine Zöliakie hat. Das liegt zum einen an Prominenten wie Lady Gaga, Gwyneth Paltrow und Miley Cyrus, die glutenfreie Produkte als Kur für Gesundheit, Schönheit und ewige Jugend bewerben.

Zum anderen finden William Davis’ krude Theorien in abgeschwächter Form durchaus Gehör: Es wird gewarnt vor sogenannter Glutensensitivität. Manche behaupten, dass bis zu einer von fünf Menschen unter dieser Form der Getreideunverträglichkeit leidet und deshalb mit Symptomen wie Bauchschmerzen, Durchfällen, Blähungen aber auch Müdigkeit und Kopfschmerzen zu kämpfen hat.

Dass eine solche Krankheit existiert, daran haben inzwischen nur die wenigsten Experten noch Zweifel. „Es gibt manche Patienten, die Darmbeschwerden oder Durchfälle haben, und die auf eine glutenfreie Ernährung sehr positiv reagieren“, sagt zum Beispiel der Gastroenterologe Reiner Ullrich von der Berliner Charité. Ende der 70er-Jahre tauchten die ersten Einzellfall-Berichte darüber in Fachzeitschriften auf.

2011 zerstreute die australische Forscherin Jessica Biesiekierski letzte Zweifel, als sie in einer Studie bewies, dass es mutmaßlich Glutensensitiven tatsächlich schlechter geht, wenn man sie mit glutenhaltigem Brot oder Muffins füttert, statt mit Produkten, die das Eiweiß nur scheinbar enthalten.

Gründe, die diese Symptome erklären, konnte jedoch auch Biesiekierski nicht entdecken. Weder fanden sich bei den Empfindlichen mehr Antikörper und damit Allergiezeichen gegen Glutenbestandteile noch waren Entzündungszeichen oder andere auffällige Untersuchungs- oder Laborparameter zu entdecken.

„Eine Glutensensitivität bleibt eine reine Ausschlussdiagnose“, sagt der Freisinger Forscher Peter Köhler. „Ich schließe aus, dass es eine Allergie ist, ich schließe aus, dass es eine Zöliakie ist - wer dann noch übrig bleibt, der ist eben glutensensitiv.“

Erschwerend kommt der Faktor Psyche hinzu. „Der Placebo-Effekt bei Reizdarm ist enorm“, sagt Reiner Ullrich. „Wenn man Reizdarmpatienten, die unter glutenfreier Diät beschwerdefrei wurden, anschließend ohne ihr Wissen mit oder ohne Gluten testet, so zeigen manche Studien, dass fast die Hälfte von ihnen auch von der glutenfreien Testnahrung wieder Beschwerden bekommt.“ Manche Reizdarmpatienten reagierten auf fast jede Veränderung - selbst auf schönes oder schlechtes Wetter.

Im Grunde ist es zum Haareraufen: Einige Untersuchungen legen nahe, dass doch Entzündungsprozesse im Darm der Auslöser sein könnten, andere belegen das Gegenteil. Es gibt Studien, die die Glutensensitivität als leichtere Form der Zöliakie entlarven und Ergebnisse, die genau das zu widerlegen scheinen. Kein Wunder, dass die amerikanische Gastroenterologin Rohini Vanga in der Fachzeitung Gastroenterology zu dem Fazit kommt: Die verwirrenden Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre hätten jeden Versuch zunichtegemacht, zu definieren, was die Glutenunverträglichkeit ist, was sie verursacht und wer wirklich betroffen ist. Über die Häufigkeit gibt es nur Schätzungen: Rund jeder 200. Amerikaner, hat die US-Gesundheitsbehörde FDA ermittelt, verträgt Gluten schlecht - in Europa scheinen die Werte ähnlich niedrig zu liegen.

Inzwischen deutet sich sogar an, dass das Gluten möglicherweise sogar zu Unrecht verdächtigt wird. So legte Jessica Biesiekierski, die dem Beschwerdebild einst zu seinem wissenschaftlichen Durchbruch verholfen hat, im vergangenen Jahr im Fachblatt Gastroenterology eine Studie vor, die alles auf den Kopf zu stellen scheint: Sie machte sich in ihrer Studie die Mühe, alle anderen Faktoren, die Darmbeschwerden verursachen könnten, auszuschalten. Sie gab ihren 37 Versuchspersonen nicht nur glutenfreie Kost, sondern auch weniger vom Darm schlecht resorbierbare und blähende Kohlenhydrate, Fodmaps genannt, weniger Milchprodukte und Lebensmittelchemikalien, achtete auf Kalorien- und Ballaststoffzufuhr.

Das Ergebnis: Egal, ob sie nach der Diät heimlich mit glutenreicher, glutenarmer oder glutenfreier Kost gefüttert wurden - den angeblich glutensensitiven Patienten ging es immer gleich schlecht. Ein glutensensitiver Effekt sei nicht zu messen gewesen, so das Ergebnis der Autoren. Die Studie werfe die Frage auf, ob es die Krankheit Glutenunverträglichkeit überhaupt gibt, schreibt Rohini Vanga in ihrem begleitenden Kommentar.


Ein weiterer Übeltäter im Weizen

Eine mögliche Erklärung hat Detlef Schuppan zur Hand. Der Gastroenterologe und Immunologe von der Uniklinik Mainz geht davon aus, dass nicht das Gluten hinter der Krankheit steckt, sondern ein anderer Getreideinhaltsstoff, sogenannte Alpha-Amylase/Trypsin-Inhibitoren, kurz ATI, mit denen sich die Pflanzen eigentlich vor Insektenfraß schützen. Sie bremsen die Verdauungsenzyme. Weil man in den vergangenen Jahrhunderten bei der Zucht auf besonders standhafte Pflanzen geachtet habe, so die Theorie des Experten, habe der ATI-Gehalt gerade im Weizen besonders zugenommen.


Kommentar: Das könnte auch mit Anti-Nährstoffen gleichgesetzt werden, die fast immer in pflanzlichen Lebensmitteln vorhanden sind und ein Hinweis darauf geben, dass eine rein pflanzliche Ernährungsweise nicht unbedingt für den Menschen geeignet ist.

„Im menschlichen Körper wirken diese Verbindungen als eine Art Immunstimulatoren“, sagt Schuppan. Indem sie den Teil des menschlichen Abwehrsystems anregen, der noch recht ungezielt, aber besonders schnell auf fremde Eindringlinge reagiert, drücken sie auch bei vielen anderen immunologischen Prozessen aufs Gaspedal - etwa indem sie eine schwache Lebensmittelunverträglichkeit in eine starke Darmreaktion umwandeln. Noch liegen lediglich Belege aus Tierversuchen vor, Patientenstudien sind aber bereits geplant.

Vielleicht helfen sie, das Glutenrätsel zu lösen. Einstweilen gilt: Eine glutenfreie Diät ist kein Jungbrunnen für Körper, Geist und Seele. Charité-Experte Reiner Ullrich sieht den Hype gar als reine Modeerscheinung: „Es gibt keinerlei wissenschaftliche Belege für einen Nutzen bei Gesunden.“