Eines zumindest ist der neuen griechischen Regierung bewusst: In dem Machtspiel um die Zukunft des Landes muss sie asymmetrisch vorgehen. Die so genannte Troika - EU-Kommission, Europäische Zentralbank und IWF - verlangt Unmögliches von Griechenland. Nachdem die Regierung von Alexis Tsipras mit ihrer Bitte um eine Lockerung der Sparpolitik, durch die die Wirtschaft wieder auf Touren gebracht und das Land wieder solvent werden sollte, auf Granit gestoßen war, hält sie jetzt Ausschau nach möglichen anderen Optionen. In den letzten Tagen wendet sie den Blick in Richtung Moskau und dann Peking. Die Griechenlandkrise, die im Oktober 2009 begann, erreicht eine kritische Schwelle.


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Als 2007-2008 vor allem in den USA die Krise um zweitklassige Immobilienkredite ausbrach, lag die griechische Staatsverschuldung bei rund 100 Prozent des BIP, höher als der europäische Durchschnitt, aber nicht beispiellos und handhabbar. Bis 2014 war sie auf 175 Prozent des BIP gestiegen, das lag sogar über dem italienischen Wert. Das Land musste bei der Troika Kredite in Höhe von 240 Milliarden Euro aufnehmen, um den Staatsbankrott abzuwenden, der wahrscheinlich auch den Bankrott für deutsche und französische Banken bedeutet hätte, die griechische Staatsanleihen hielten.

Zu Beginn der Griechenlandkrise wurden griechische Staatsanleihen überwiegend von EU-Banken gehalten, denen die höheren Zinsen attraktiv erschienen. Als durch den drohenden Staatsbankrott Griechenlands auch die Gefahr einer Bankenkrise in Deutschland und Frankreich bestand, übernahmen EU-Regierungen, IWF und Europäische Zentralbank über 80 Prozent der griechischen Staatspapiere und entließen damit die Privatbanken erneut aus der Verantwortung - zulasten griechischer und europäischer Steuerzahler.

Entweder der Euro geht oder der Dollar

Griechenland war buchstäblich die Achillesferse des Euro, und Washington und die Wall Street trafen sie mit einer Wucht, wie sie die Welt seit der Asienkrise und dem russischen Staatsbankrott 1997-1998 nicht mehr erlebt hatte. Als Griechenland Ende 2009 implodierte, bestand die Gefahr, dass der Dollar aufgegeben wurde. Vor allem die Chinesen warfen der US-Regierung vor, die eigenen Defizite und Schulden mit einer Rate von deutlich über einer Billion Dollar jährlich in die Höhe schnellen zu lassen.

Die Antwort der Abteilung für Finanzkriegsführung im US-Finanzministerium, der Federal Reserve, der Wall Street und der Ratingagenturen bestand in einer Gegenattacke auf den Euro, um den Dollar zu »retten«. Es funktionierte und kaum einer der naiven Berliner Politiker, ganz sicher nicht Schäuble oder Merkel, hatte eine Ahnung davon, wie ausgeklügelt die Washingtoner Währungskriegs-Maschinerie geworden war. Sie sollten es bald herausfinden.

Angeführt von Standard & Poor‘s stuften die amerikanischen Kreditrating-Agenturen an einem einzigen Tag im April 2010 die Kreditwürdigkeit Griechenlands gleich um drei Stufen herunter - genau in dem Moment, wo EU-Regierungen gerade einem Rettungsplan für Griechenland zugestimmt hatten. Diese Herabstufung auf so genanntes Ramsch-Niveau bedeutet, dass Pensionsfonds und Versicherungen weltweit gesetzlich dazu gezwungen waren, ihre griechischen Anleihen umgehend abzustoßen. Damit stiegen die Zinsen, die Griechenland für Kredite zahlen musste - so es denn überhaupt noch Kredite erhielt - ins Unbezahlbare. Angeführt von George Soros kam eine Clique von New Yorker Hedgefonds-Managern zusammen, um spekulative Attacken auf Griechenland zu koordinieren. Die Krise wurde schlimmer und die Kosten für die griechischen Steuerzahler stiegen.

Und was erhielt Griechenland für diese neue Verschuldung? Ein drastisches Spardiktat von der EU, angeführt vom deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble, dessen Forderung nach Austerität Heinrich Brüning von 1931 wie einen Engel der Barmherzigkeit erscheinen ließ. Die Arbeitslosigkeit stieg auf das Depressions-Niveau von 27 Prozent. Im Januar 2015 ging sie auf 25,7 Prozent zurück - was Brüssel und Berlin als »Zeichen« dafür feierten, dass Austerität funktioniert. Die Jugendarbeitslosigkeit stieg auf über 60 Prozent. Der IWF verlangte die üblichen drastischen Einsparungen im öffentlichen Dienst, im Gesundheitswesen und im Bildungssektor, um Geld zu »sparen«. Die Folge waren weiter sinkende Steuereinnahmen. Das Ganze demonstrierte erneut, was die Deutschen aus der schmerzvollen Erfahrung der 1930er Jahre wussten: Eine Schuldenkrise löst man nicht mit Austerität, sondern nur mit realem Wirtschaftswachstum.

Tsipras linke Syriza-Partei, die nach dem Kollaps der Sowjetunion aus der griechischen kommunistischen Partei hervorgegangen war, wurde im Januar von verzweifelten Wählern, die von Depression und endloser Sparpolitik à la Weimar die Nase voll hatten, ins Amt gebracht. Damit erhielt Tsipras das Mandat, den Griechen eine bessere Zukunft zu sichern. Seine einzige Option besteht zurzeit in dem Ausstieg aus dem Euro, wenn nicht sogar aus EU und NATO.

Anfang April stand zu erwarten, dass Griechenland einen IWF-Kredit nicht zurückzahlen könnte. Der britischeTelegraph berichtete am 2. April, das Land erstelle drastische Pläne zur Verstaatlichung des Bankensystems und zur Einführung einer Parallelwährung, um Rechnungen bezahlen zu können, wenn die Euro-Zone die schwelende Krise nicht entschärfe und ihre Forderungen mäßige.

Quellen aus dem Umfeld der regierenden Syriza-Partei berichten, die Regierung sei entschlossen, den öffentlichen Dienst aufrechtzuerhalten und Renten auszuzahlen, während die Mittel knapp würden. Der Telegraph zitiert einen hohen griechischen Beamten: »Wir sind eine Linksregierung. Wenn wir wählen müssen, den IWF oder unsere eigenen Leute nicht bezahlen zu können, ist die Antwort klar. Vielleicht müssen wir mit dem IWF Zahlungsversprechen aushandeln. Auf den Märkten wird es einen Sturm erzeugen, die Uhren werden schneller ticken.«

Da es ihm nicht gelang, von Schäuble oder der EU auch nur einen Euro an echter Hilfe zu erhalten, und vor die Aussicht gestellt, eine Rückzahlung von 458 Millionen Euro an den IWF nicht leisten oder die Renten nicht auszahlen zu können, machte sich Tsipras auf den Weg nach Moskau zu einem Treffen mit Wladimir Putin.


Wird Griechenland zu Russlands neuem Energie-Umschlagplatz?

Das Gespräch brachte zwar keine Lösung für die unmittelbare griechische Finanzkrise, legte aber die Basis für mögliche zukünftige Maßnahmen, die nicht nur die Zukunft Griechenlands, sondern der gesamten EU verändern könnten. Putin erklärte nach dem Treffen am 8. April, Tsipras habe Russland nicht um finanzielle Hilfe gebeten.

Das tatsächliche Thema der Gespräche war für Griechenland potenziell weitaus bedeutsamer: Energieprojekte, einschließlich der von Putin vorgeschlagenen Pipeline Turkish Stream, über die russisches Erdgas in die Türkei statt direkt in die EU geliefert werden soll, nachdem Brüssel unter Druck von Washington das russische Pipelineprojekt South Stream sabotiert hat. Die Turkish Stream soll Erdgas an die griechisch-türkische Grenze liefern.


Griechenlands Energieminister Panagiotis Lafazanis erklärte, Athen unterstütze die geplante Pipeline Turkish Stream genauso wie den Ausbau der Route nach Griechenland. Im Dezember 2014 unterzeichneten Russland und die Türkei eine Absichtserklärung über den Bau der Erdgaspipeline, die unter dem Schwarzen Meer verlaufen soll. Griechenland würde dann zum Umschlagplatz für die Weiterleitung des Erdgases an Kunden in Südeuropa, einschließlich Italien. Es wäre eine Alternative zur gescheiterten South Stream.

Nach seinen Gesprächen mit Tsipras erklärte Putin bei der gemeinsamen Pressekonferenz in Moskau am 8. April: »Natürlich haben wir die Aussichten auf die Realisierung des großen Infrastrukturprojekts diskutiert, das wir ›Turkish Stream‹ nennen - ein Schlüsselprojekt für den Transport russischen Gases in die Balkanländer, vielleicht nach Italien und die Länder Zentraleuropas.

Die neue Route liefert den Europäern die benötigte Energie und eröffnet Griechenland die Möglichkeit, zu einem der wichtigen Verteilerzentren auf dem Kontinent zu werden. Das würde signifikante Investitionen in die griechische Wirtschaft anlocken.« Außerdem würde Griechenland bei einer Beteiligung an dem Pipelineprojekt Turkish Stream jährlich mehrere Hundert Millionen Euro an Transitgebühren für das Erdgas einnehmen.

Tsipras seinerseits betonte, Athen sei daran interessiert, Investitionen für den Bau der Pipeline auf seinem Staatsgebiet anzulocken, um das Gas aus der Turkish Stream weiterleiten zu können.

Medienberichten zufolge könnten Putin und Tsipras auch über mögliche Rabatte für russisches Öl für Griechenland verhandeln. Darüber hinaus sprach Russland über Investitionen in Joint Ventures mit der griechischen Regierung. Zu den besprochenen Pilotprojekten zählen ein staatlichesgriechisch-russisches Unternehmen und russische Investitionen in den Hafen von Thessaloniki, dessen Privatisierung vom IWF gefordert wird, sowie die Beteiligung an der Eisenbahn. Nach den Gesprächen mit dem russischen Energieminister Alexander Nowak und dem Chef des russischen Energiekonzerns Gazprom, Alexei Miller, sagte Lafazanis, Athen habe um eine Preissenkung für russisches Erdgas gebeten.

Russland und Eurasien?

Putin rief dazu auf, die Handelsbeziehungen zwischen Russland und der EU, einschließlich Griechenland, wieder aufzunehmen. Man habe über »verschiedene Möglichkeiten der Kooperation« gesprochen, darunter »große Energieprojekte. Nach diesen Plänen könnten wir Kredite für bestimmte Projekte gewähren«, es sei aber keine Frage von Hilfsmaßnahmen. Einer dieser Pläne ist die erwähnte Pipeline Turkish Stream, über die Erdgas von der türkisch-griechischen Grenze nach Griechenland transportiert werden soll.

Tsipras stellte klar, seine Regierung sei gegen neue Sanktionen gegen Russland, was Washington nicht gerade erfreut zur Kenntnis nahm. Leitartikel amerikanischer Medien bezeichneten Griechenland als trojanisches Pferd, mit dem Russland in den Orbit der EU zurückkehre. Mit seinem charakteristischen trockenen Humor konterte der russische Präsident in der BBC:»Apropos Mythologie, trojanische Pferde und solche Dinge: Die Frage wäre gerechtfertigt, wenn ich nach Athen führe. Wir zwingen niemanden, irgendetwas zu tun.«




Wie jüngste Umfragen zeigen, begrüßen über 63 Prozent der Griechen Russland als Verbündeten, nur 23 Prozent sprachen sich positiv über die EU aus. Russland und Griechenland verbindet eine orthodoxe Religion und historisch gute Beziehungen. Der Konservative Kostas Karamanlis, von 2004 bis 2009 griechischer Ministerpräsident, verfolgte eine »Pipeline-Diplomatie«, er betrachtete Griechenland als Einfallstor für russisches Erdöl und Erdgas nach Europa.

Washington und Brüssel waren wütend, Karamanlis wurde unter verdächtigen Umständen abgewählt, ein Jahr nachdem er ein Erdgasabkommen mit Putin unterzeichnet hatte und ein Jahr bevor die Finanzkrise allgemein bekannt wurde. Nachdem er die Wahl 2009 verloren hatte, wurde bekannt, dass der russische Geheimdienst FSB den griechischen Geheimdienst EYP 2008 vor einem Mordkomplott gegen Karamanlis gewarnt hatte, mit dem seine prorussische Energieallianzgestoppt werden sollte.

Trojanische Pferde, Achillessehnen und das reiche Erbe der griechischen Mythologie können die Krise in Griechenland nicht lösen, die in Wirklichkeit eine allgemeine Krise der westlichen Zivilisation ist.


Was in Berlin, Paris oder Rom niemand anzusprechen wagt, ist das Faktum, dass die Länder der Europäischen Union untergehen. Demografisch, wirtschaftlich und moralisch befinden sie sich in einer tödlichen Abwärtsspirale. Entweder sie brechen eindeutig mit der bankrotten Dollar-Welt Washingtons und der NATO und setzen voll darauf, die Eurasische Wirtschaftsunion unter Russlands Führung zusammen mit China und den Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnprojekten der Neuen Seidenstraße zu einer neuen Wohlstandsregion zu machen, oder in höchstens vier bis fünf Jahren wird die EU genauso an der eigenen Verschuldung und wirtschaftlichen Depression ersticken wie heute Griechenland.


Die einzige andere mögliche Option wäre die der herrschenden Finanzmächte, die in Nazideutschland, Vichy-Frankreich und Italien unter Mussolini in den 1930er Jahren versucht wurde. Und das brauchen wir nun wirklich nicht erneut zu probieren.