Selbst zurückhaltende Kommentatoren sprechen von einem Rekord: Nur fünf Monate haben die USA benötigt, um Mazedonien bis zum Maidan aufzuschaukeln. Falls Sie den Kiewer Maidan 2013/2014 verpasst haben, schauen Sie jetzt nach Mazedonien, da spielt sich genau das gleiche ab. Mit dem Unterschied, dass Mazedonien nicht mehr jenseits der EU liegt, sondern inmitten von EU-Staaten.
Protest in Skopje.
© UnbekanntProtest in Skopje. Im Hintergrund das Regierungsgebäude.
Im Dezember 2014 hat Putin das Ende von South Stream und den Beginn von Türkei Stream verkündet. Mazedonien liegt genau auf der Route der neuen Gaspipeline, die den Süden Europas versorgen soll. Im Dezember 2014 hat die US-Regierung reagiert, indem sie einen neuen Botschafter nach Mazedonien entsandt hat.

Im Winter versuchte der Oppositionsführer Soran Saew den Ministerpräsidenten Nikola Gruewski mit Material zu erpressen, das er vom Geheimdienst eines "nicht angrenzenden Staates" bekommen hat. Gruewski konterte, indem er den Erpressungsversuch öffentlich machte. Die erste Attacke wurde abgewehrt.

Am 6. Mai versammelten sich zwei Tausend Protestler in Skopje (Mazedoniens Hauptstadt) und forderten Gruewskis Rücktritt. Dazwischen gab es auch sehr viele Aktionen. Danach kommen noch viel mehr. Ich will nur zeigen, dass die Spannung bereits hoch war und hochgehalten wurde, um die nächsten Eskalationsstufen einzuleiten.

Am 9. Mai (sehr schönes Datum, ein Wink an Russland) drang eine große Gruppe bewaffneter Kämpfer nach Mazedonien ein und lieferte sich einen heftigen Kampf mit der Polizei. Es gab dabei viele Tote. (Hintergründe) Die Bürger sind in Aufruhr versetzt. Die einen fliehen, weil sie wissen, was kommen wird, die anderen haben ein sakrales Opfer erhalten, mit dem sie arbeiten können. Saew beschuldigt die Regierung, den Kampf inszeniert zu haben, um von den Problemen der Regierung abzulenken.

NATO-Generalsekretär Stoltenberg forderte Zurückhaltung. Man dürfe die Lage nicht eskalieren lassen. Sein Vorgänger Rasmussen hat sich fast wortgleich an die Ukraine gewandt, als dort die Lage eskalierte.

Am 13. Mai reichen mehrere Minister ihren Rücktritt ein. Werden Erinnerungen wach?

Am 15. Mai sagt Saew, dass die Protestaktionen friedlich sein werden und bis zum Rücktritt des Ministerpräsidenten andauern werden. Er fordert alle Mitglieder seiner Partei auf, die Polizei auf Video aufzunehmen, damit die Wahrheit über ihre Brutalität ans Licht kommt.

16. Mai: Ein in Mazedonien festgehaltener Helfer von albanischen Extremisten wird US-Mitarbeitern übergeben, die den Mann in die US-Botschaft nach Skopje bringen. Logisch, oder?

Am 17. Mai versammeln sich tausende Menschen in Skopje zum Protest gegen die Regierung. Auf ihren Transparenten steht "Tschüss, Nikola!" Die Redner, darunter Saew, kritisieren Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit, die uneffektive Arbeit der Regierung. Saew ruft die Protestler auf, nach dem Meeting nicht wegzugehen, sondern zu bleiben, bis der Premier die Forderung nach dem Rücktritt erfüllt.

Und die Leute bleiben. Sie stellen Zelte auf.
Skopje Zeltstadt vor dem Regierungsgebäude. 2015
© UnbekanntZeltstadt vor dem Regierungsgebäude.
Alles exakt wie in Kiew. Das Drehbuch farbiger Revolutionen sieht vor, dass man die Menschen gegen die Regierung hetzt mit Vorwürfen von Korruption, Gewalt usw. Das Drehbuch sieht ebenfalls vor, dass man im Protest auf keinen Fall Verbesserungen vorschlägt, sondern immer nur den Rücktritt des Regierungschefs fordert. Achten Sie darauf. Das Drehbuch ist übrigens öffentlich, auch auf deutsch verfügbar.

Das Drehbuch sieht vor, dass man einen zentralen Platz in der Nähe der Regierung dauerhaft besetzt. Die Spannung soll permanent hochgehalten werden und die Polizeikräfte sollen keine Gelegenheit haben, Maßnahmen zu ergreifen (zum Beispiel den Platz nachts zu sperren, wenn die Demonstranten weg sind). Es ist ein echter Stellungskrieg. In Kiew konnte man das in voller Pracht bewundern. In Skopje kommt das noch.

Vielleicht haben Sie schon mal überlegt, dass dauerhaftes Protestieren ziemlich unnatürlich ist. Sie gehen zur Demo, ok. Dann haben Sie Durst, Hunger, Sie wollen schlafen, sich duschen, Sie müssen einkaufen, Sie müssen am nächsten Tag zur Arbeit. Viele Gründe, von denen viele banalen physiologischen Bedürfnissen des Menschen zuzurechnen sind, die man nicht mal eben auf einer Demo befriedigt, sprechen gegen eine tage- und wochenlang anhaltende Demonstration. Wie schafft man es, dass die Menschen nicht nach Hause gehen? Das ist eine verdammt große logistische Herausforderung.

Woher kommen die Zelte, die Decken, die Lebensmittelstationen, die Lebensmittel, das Wasser, die Dixi-Klos, mobile Duschen, mobile Krankenstationen, mobile Apotheken und vieles vieles mehr? Woher kommen die Helfer, die diese ganze Logistik am laufen halten? Von wem werden sie bezahlt und vor allen Dingen auch koordiniert? Wer bezahlt all die Ausrüstung? Das ist keine Selbstorganisation. In Kiew wurden LKW-weise Zelten, Decken und anderes Material rangekarrt, noch neu und frisch verpackt. Das wird in Skopje genauso sein. Da steckt eine inzwischen gut geübte Logistikmaschinerie dahinter. Achten Sie darauf.

18. Mai. In Skopje finden Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition statt. Mit dabei: der US-Botschafter Jess L. Baily und der EU-Vertreter in Mazedonien Aivo Orav (ein Este und es ist schlecht für die EU, dass sie vor Ort von Estland vertreten wird). Saew bekräftigt die Forderung nach dem Rücktritt von Gruewski und nach der Bildung einer Übergangsregierung.

Solche Treffen zwischen Regierung und Opposition sind Teil des Drehbuchs. In Kiew gab es das genauso. Das Drehbuch sagt klar und deutlich, dass man solche Treffen nutzen kann, um den Spielraum der Regierung weiter einzuschränken, dass aber eine Sache nicht verhandelbar ist: Der Regierungschef muss weg. In der Ukraine haben der deutsche Außenminister und sein Kollege aus Frankreich ihre Unterschriften unter solche Verträge gesetzt. Das Drehbuch scheißt darauf. Steinmeiers Tinte war kaum getrocknet, da stürmten die "friedlichen Demonstranten" die Regierungsgebäude und schlugen Janukowitsch in die Flucht.

Saew hat angekündigt, am Dienstag (also am 19. Mai) für ein paar Tage zu Beratungen nach Straßburg zu reisen. Mit wem wird er sich treffen und was wird er aushandeln?

Am 18. Mai fand auch eine große Demonstration der Regierungsanhänger statt. Gruewski hielt eine Rede und gab sich kämpferisch. Die Demo füllte den ganzen Platz vor dem Regierungsgebäude aus (Video).

Achten Sie auf die feinen Unterschiede: Die Regierungsanhänger haben fast gar keine Plakate bei sich und die wenigen, die sie haben, sind improvisiert (Pappe mit Tape auf Besenstiel). Die Protestler dagegen haben einheitliche Plakate mit simplen, aufeinander abgestimmten Slogans drauf. Hinter den Regierungsanhängern steht keine professionelle Logistik. Deswegen werden sie sich höchstwahrscheinlich nicht durchsetzen können.

Fortsetzung folgt. Leider. Und auch wenn Mazedonien unmittelbar leiden wird - es geht um dich, EU. Dein Leid ist nicht mehr fern. Die Süd-EU wird statt günstigem russischem Gas teures Flüssiggas kaufen müssen. Das wird die ohnehin starken Spannungen zwischen Nord- und Süd-EU verstärken. Wie willst du das überleben, EU? Wie sieht dein Plan aus?