Rückenschmerzen sind leicht zu lindern, sagt Esther Gokhale. Dafür müssen wir das Gehen, Stehen und Sitzen neu erlernen. Im Interview mit achim-achilles.de erklärt die Kalifornierin, warum die Menschen das Wissen über die richtige Körperhaltung verloren haben.
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SPIEGEL ONLINE: Frau Gokhale, warum leiden so viele Menschen an Rückenschmerzen?

Esther Gokhale: Wir haben vergessen, wie wir unseren Körper im Alltag richtig einsetzen. Ich glaube daran, dass es eine kinästhetische Tradition gibt, ein Wissen über gute Haltung, das früher an nachfolgende Generationen weitergegeben wurde. Dieses natürliche Bewegungsempfinden ist uns abhanden gekommen, also improvisieren wir.

SPIEGEL ONLINE: Wir improvisieren? Wie meinen Sie das?

Gokhale: Nehmen wir zum Beispiel den Gang. Bei vielen Menschen sieht der Gang aus, als wäre er eine Serie von Stürzen. Das Bein wird ausgestreckt, um das Fallen zu verhindern. Im Idealfall ist das Gehen eine sanfte Aneinanderreihung kontrollierter Vorwärtsbewegungen, ein Gleiten, bei dem man die Gesäßmuskeln anspannt und gleichzeitig die Gelenke und den Rücken schont.

SPIEGEL ONLINE: Wir gehen also falsch. Aber das viel größere Problem ist doch, dass wir viel zu viel sitzen.

Gokhale: Das Sitzen hat seit einiger Zeit ein schlechtes Image. Es ist das neue Rauchen geworden (lacht). Natürlich bin ich auch der Meinung, dass man nicht die ganze Zeit herumsitzen soll, ohne sich zu bewegen. Aber ich glaube, der Fehler liegt nicht darin, dass wir zu viel sitzen, sondern dass wir eine schlechte Haltung beim Sitzen einnehmen.

SPIEGEL ONLINE: Was kann man beim Sitzen falsch machen?

Gokhale: Viele haben das Gefühl, sie müssten sich zwischen zwei Positionen entscheiden - die beide schlecht sind. Entweder man entspannt sich und kauert zusammengesackt auf dem Stuhl oder man richtet sich auf - und sitzt sehr steif und angestrengt.

SPIEGEL ONLINE: Sie empfehlen, das Gehen und Sitzen neu zu erlernen. Aber die jahrelang eingeprägten Automatismen kriegen Sie doch kaum wieder heraus.

Gokhale: Doch, leichter als man denkt. Um die richtigen Haltungen und Bewegungsmuster zu lernen, muss man nicht studiert haben. Manchmal reicht ein intensiver Wochenendkurs. Vor allem das Sitzen ist relativ einfach. Das kann man auch aus dem Buch lernen. Ich lehre zwei Techniken, bei denen man komfortabel und gesund sitzt: Beim "Stapelsitzen" wird das Becken nach vorne geneigt, so dass es als Basis für die Wirbelsäule dient. Beim Dehnsitzen strecken wir den Rücken. Das entlastet die Bandscheibe.

SPIEGEL ONLINE: Die Menschen haben aus den unterschiedlichsten Gründen Rückenbeschwerden. Sind Sie der Meinung, dass wirklich alle mit Ihren Techniken wieder gesund werden können?

Gokhale: Ich will nicht sagen, dass ich die Lösung für alle parat habe. Es gibt sicher medizinische Notwendigkeiten, die ihre Berechtigung haben, keine Frage. Aber ich denke, dass eine gute, gesunde Haltung bislang sträflich vernachlässigt wurde. Wenn wir die Art und Weise ändern, wie wir uns bewegen, haben wir große Chancen, Rückenbeschwerden und Rückenschmerzen vergleichsweise schnell zu lindern.

SPIEGEL ONLINE: Ignorieren Sie da nicht die individuelle Krankheitsgeschichte?

Gokhale: In den Kursen, die wir geben, geht es natürlich auch um die Vorgeschichte und das Krankheitsbild, aber es gibt generell eine falsche Auffassung davon, was wirklich Rückenschmerzen verursacht. Als Beispiel: Es wird immer gesagt, dass Rückenbeschwerden eine Folge von Übergewicht sind. Ich habe das untersucht - tatsächlich gibt es nur einen geringen Zusammenhang zwischen Übergewicht und Rückenschmerzen, außer man spricht von Menschen, die 200 Kilo und mehr wiegen.

SPIEGEL ONLINE: Was ist mit psychischen Faktoren wie Stress?

Gokhale: Stress macht alles schlimmer. Aber ich denke nicht, dass er die Hauptursache für Rückenschmerzen ist; ich glaube, der Hauptgrund ist, dass die Menschen verlernt haben, wie sie ihren Körper bewegen sollen.

SPIEGEL ONLINE: Sie mussten es auch wieder lernen.

Gokhale: Ich hatte sehr lange ernsthafte Rückenschmerzen, die mit den üblichen Methoden nicht zu heilen waren, selbst mit Alternativmedizin. Ich habe alles ausprobiert: Physiotherapie, Chiropraktik, Akupunktur... Ich wurde sogar operiert. Nach einigen Jahren tauchten dieselben Probleme wieder auf, und man riet mir, mich wieder unters Messer zu legen - was ich nicht wollte. Ich war gerade mal Mitte 20.

SPIEGEL ONLINE: Sie bereisten die Welt auf der Suche nach Lösungen.

Gokhale: Ich habe andere Methoden untersucht, medizinische Fachliteratur studiert, bin gereist, habe fotografiert und andere Menschen befragt. An Frauen in Burkina Faso zum Beispiel kann man sehen, wie man richtig geht. Es ist sehr beeindruckend, wie elegant, schön und belastbar sie sind. Sie laufen kilometerweit, mit Gepäck auf dem Kopf und Baby auf dem Rücken und werden trotzdem nicht müde. Es gibt medizinische Untersuchungen, die zeigen, dass sie ihre Fracht viel effizienter tragen als US-Soldaten.

SPIEGEL ONLINE: Müssen wir gar nicht unbedingt fit sein, um Rückenschmerzen vorzubeugen?

Gokhale: Man muss sicher nicht supermuskulös sein. Aber das Gute ist, dass man beim Erlernen der richtigen Haltung auch automatischer stärker wird. Und diese Kräftigung wiederum hat Auswirkungen auf den Bewegungsapparat.

Das Interview führte Frank Joung.
esther gokhale
ZUR PERSON

Esther Gokhale lebt und arbeitet in Palo Alto, Kalifornien. Die gebürtige Inderin litt nach der Geburt ihres Kindes selbst jahrelang unter Rückenschmerzen. Seit 20 Jahren ist sie nach eigener Aussage schmerzfrei. Die Gokhale-Methode soll die Menschen von Rückenschmerzen befreien, indem sie lernen, ihre natürliche Körperhaltung ("primal posture") wiederzuerlangen. Gokhale hat Biochemie an den Elite-Universitäten von Harvard und Princeton studiert. Sie bietet Kurse an und bildet Lehrer aus. Erst kürzlich ist ihr Buch ins Deutsche übersetzt worden. Nie wieder Rückenschmerzen. Dauerhafte Besserung in 8 Schritten