Übersetzt von de.sott.net

Dr. Gabor Maté, mit Wohnsitz in Vancouver, behauptet, dass viel zu viele Ärzte das zu vergessen scheinen, was einstmals eine weitverbreitete Annahme war - dass Emotionen sehr stark sowohl mit der Entstehung von Krankheiten als auch mit der Wiedererlangung der Gesundheit zusammenhängen. Basierend auf medizinischen Studien und seiner eigenen Erfahrung mit chronisch kranken Patienten in der Abteilung der Palliativpflege im Krankenhaus in Vancouver, wo er sieben Jahre lang der medizinische Koordinator war, liefert Maté die Gründe dafür, dass wichtige Verbindungen zwischen der Psyche und dem Immunsystem bestehen. Er hat herausgefunden, dass Stress und das emotionale Temperament eines Individuums eine kritische Rolle in einer Reihe von Krankheiten spielen.

body says no, gabor mate
Wenn der Körper nein sagt, sollten wir manchmal genau "zuhören".
(Anmerkung der Übersetzung: Nachfolgend findet sich das Interview mit Dr. Gabor Maté; die deutsche Transkription finden Sie weiter unten).



Transkript

Amy Goodman: Die Reform des Gesundheitswesens mag zwar im Kongress ins Stocken geraten sein, hier aber widmen wir uns einem Thema, das bei Diskussionen über die Verbesserung unseres Gesundheitssystems selten zur Sprache kommt. Das Verhältnis zwischen emotionalem Stress und Krankheiten, bzw. zwischen psychischer und körperlicher Gesundheit, allgemein gesprochen, wird dies in der orthodoxen Medizin oft als umstritten angesehen. Doch mein Gast wendet ein, dass man nicht alle Aspekte einer Krankheit auf die Tatsachen reduzieren kann, die durch strengste wissenschaftliche Techniken überprüft werden können.

Dr. Gabor Maté, mit Wohnsitz in Vancouver, behauptet, dass viel zu viele Ärzte das zu vergessen scheinen, was einstmals eine weitverbreitete Annahme war - dass Emotionen sehr stark sowohl mit der Entstehung von Krankheiten als auch mit der Wiedererlangung der Gesundheit zusammenhängen. Basierend auf medizinischen Studien und seiner eigenen Erfahrung mit chronisch kranken Patienten in der Abteilung der Palliativpflege im Krankenhaus in Vancouver , wo er sieben Jahre lang der medizinische Koordinator war, liefert Maté die Gründe dafür, dass wichtige Verbindungen zwischen der Psyche und dem Immunsystem bestehen. Er hat herausgefunden, dass Stress und das emotionale Temperament eines Individuums eine kritische Rolle in einer Reihe von Krankheiten spielen, einschließlich Krebs, Herzkrankheiten, Diabetes, Reizdarmsyndrom, mulitple Sklerose und Arthritis.

Dr. Maté ist kanadischer Bestsellerautor von vier Büchern, einschließlich When the Body Says No: Understanding the Stress-Disease Connection ("Wenn der Körper Nein sagt: Die Verbindung zwischen Stress und Krankheit verstehen"). Sein neuestes Buch ist In the Realm of Hungry Ghosts: Close Encounters with Addiction ("Im Reich der hungrigen Geister: Nahe Begegnungen mit der Sucht"). Dieses Buch haben wir mit ihm bereits vor ein paar Wochen auf Democracy Now! diskutiert. Heute erforschen wir die Kosten von verborgenem Stress, Dr. Gabor Maté schließt sich uns heute aus Vancouver, Kanada, an.

Willkommen zu Democracy Now!, Dr. Maté. Lassen Sie uns über diese Verbindung zwischen Stress und dem Körper, die Verbindung zwischen Psyche und Körper sprechen.

Dr. Gabor Maté: Wissen Sie, für die traditionelle chinesische Medizin, das indische Ayurveda und die tribale schamanische Medizin aller Kulturen weltweit ist es, seit mindestens 3000 Jahren, selbstverständlich, dass Psyche und Körper nicht voneinander getrennt werden können. Die westliche Medizin jedoch hat sie seit ganzen 2000 Jahren voneinander getrennt. Bereits Sokrates hat seine zeitgenössischen Ärzte für das Trennen der Psyche vom Körper kritisiert. Und die Ironie, die eigentlich eine Tragödie ist, besteht darin, dass die westliche Wissenschaft uns heutzutage unbestreitbare und detaillierte Beweise vorlegt hat, dass Psyche und Körper nicht voneinander zu trennen sind und dass jeder Versuch dies nicht zu tun, medizinische Praktiker um viele Möglichkeiten ihren Patienten zu helfen berauben wird. Und genauso entzieht es natürlich auch den Patienten das, was sie für ihre Heilung brauchen.

Der Punkt ist, dass die emotionale Gehirnzentren, die unser Verhalten, unsere Antworten und Reaktionen steuern, physiologisch sind- und wir wissen genau wie sie - mit dem Immun-, Nerven- und Hormonsystem verbunden sind. In Wirklichkeit ist es wissenschaftlich betrachtet nicht mehr länger möglich, sie als separate Systeme zu betrachten, als ob Immunität unabhängig von Emotionen und das Nervensystem unabhängig vom Hormonsystem wären. Es gibt nur ein System, deren Bestandteile durch das Nervensystem selbst verdrahtet sind und die durch chemische Botenstoffe, die sie alle absondern, miteinander kommunizieren, so dass alles, was auf emotionaler Ebene geschieht, eine Auswirkung auf das Immunsystem hat, und umgekehrt. Wir wissen zum Beispiel, dass weiße Blutkörperchen in unserem Blutkreislauf beliebige Hormone produzieren können, die auch in unserem Gehirn produziert werden, und vice versa, so dass das Gehirn und das Immunsystem sich ständig in einem Gespräch miteinander befinden.

Also kurz gefasst, wir haben ein System. Die Wissenschaft, die das studiert, nennt sich Psychoneuroimmunologie. Und wissenschaftlich gesehen ist diese Tatsache nicht einmal kontrovers und dennoch wird sie in der medizinischen Praxis vollkommen ignoriert.

Amy Goodman: Dr. Maté, was verstehen Sie unter dem Psyche-Körper Verbindung - unter dem Bermudadreieck?

Dr. Gabor Maté: Also, mit dem Bermudadreieck meine ich die durchgeführten Studien. Lassen Sie mich ein paar Beispiele anführen. Vor drei bzw. vier Jahren wurde eine Studie beim Internationalen Kongress für Frauengesundheit der "Heart and Stroke" Foundation präsentiert, eine Studie, die in der Onlineversion einer bedeutenden nordamerikanischen Medizinzeitschrift Circulation ausgearbeitet wurde; sie hat gezeigt, dass bei Frauen - es wurden 1700 Frauen zehn Jahren lang beobachtet - , die in unglücklichen Ehen lebten und ihre Emotionen nicht ausdrückten, die Wahrscheinlichkeit des frühzeitigen Todes viermal so hoch war als bei unglücklich verheirateten Frauen, die trotzdem ihre Emotionen ausdrückten. Mit anderen Worten, das Nicht-Ausdrücken der Emotionen war mit 400-prozentiger Erhöhung der Sterberate verbunden. Und diese Studie wurde in den Vereinigten Staaten als Teil einer bedeutenden Populationsstudie durchgeführt.

Man könnte nun glauben, dass diese Studie jeden Arzt in Nordamerika dazu veranlassen würde, mehr über die Verbindung von Psyche und Körper zu erfahren. Doch nachdem diese Studie veröffentlicht wurde, verschwand sie spurlos. Eine Studie, die vor zwei Jahren durchgeführt wurde, zeigte auf, dass Kinder von gestressten und deprimierten Mütter der großen Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sind, selbst an Asthma zu erkranken. Hier kommt wieder die Verbindung Psyche-Körper zur Geltung. Man könnte nun wieder glauben, dass diese Studie jeden Arzt dazu veranlassen würde, mehr über die Verbindung von Psyche und Körper zu erfahren. Doch wiederum gehen die Studien mit Maus und Mann unter, nachdem sie durchgeführt wurden, ohne jegliche Auswirkung auf die medizinische Praxis. Und das ist das, was ich unter dem Bermudadreieck verstehe: wir haben zwar die Studien, denen wird aber keine Beachtung geschenkt, als ob sie niemals existierten.

AMY GOODMAN: Sie sprechen über Emotionen, wie Ärger, die zusammen mit unserem Immunsystem dieselbe Rolle zum Schutz der persönlichen Grenzen spielen, und Sie sagen, dass durch Unterdrückung der Emotionen wir auch unseren Immunschutz außer Kraft setzen. Wie manifestiert sich das in unterschiedlichen Krankheiten?

DR. GABOR MATÉ: Also, als ich die Menschen, die durch mich ärztlich in der Palliativpflege betreut wurden, sowie die erkrankten Menschen in meiner Familienpraxis beobachtete, hat sich eine Reihe von auffälligen Merkmalen aufgezeigt. Eines war die Unterdrückung von Ärger. Menschen wussten nicht, wie sie negative Emotionen ausdrücken sollen. Entweder hatten sie Angst dies zu tun oder sie waren sich nicht bewusst, wann sie verärgert waren. Menschen, die anderen alles recht machen wollten, immer versuchten andere Menschen nicht zu enttäuschen. Sie wussten nie, wie man nein sagt. Sie nahmen alles auf sich, ohne zu murren, da sie sich immer als Pfleger und Betreuer sahen. Zudem hatten sie außerordentlich starke Pflicht- und Verantwortungsgefühle.

Nun, wenn Sie sich die Rolle von gesunder Durchsetzung der persönlichen Grenzen z.B. Ärger anschauen, werden Sie feststellen, dass dies eigentlich dazu da ist Sie zu schützen. Ich rede von gesundem Ärger. Sein Zweck besteht nicht darin, jemanden zu attackieren, sondern um ihre persönlichen/psychischen Grenzen zu beschützen. Das ist die gleiche Rolle, die auch das Immunsystem wahrnimmt. Das Immunsystem funktioniert auch ähnlich wie ein Gehirn. Es besitzt ein Gedächtnis, Reaktionskapazität und Lernfähigkeit. In der Tat hat das Immunsystem, das mit unserem Hirn interagiert, seinen Namen als „schwebendes Gehirn“ dadurch verdient. Es interagiert mit dem Gehirn in unserem Kopf.

Nun, z.B. bei Frauen mit Brustkrebs, die nicht wissen, wie man Ärger ausdrückt, wurde eine verminderte Aktivität von einer Gruppe der Immunzellen, den sogenannten natürlichen Killerzellen, festgestellt. Natürliche Killerzellen attackieren fremdartige Bakterien, Viren sowie bösartige Zellen. Mit anderen Worten: Sie beschützen unsere Grenzen. Frauen, die nicht wissen, wie man persönliche Grenzen emotional ausdrückt tendieren dazu, sie zu unterdrücken und können infolgedessen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine Krankheit entwickeln. Das gleiche trifft natürlich auch für Männer zu; das Immunsystem befindet sich also in einer ständigen Interaktion mit unseren emotionalen Antworten.

In einer anderen Studie, in der das Immunsystem untersucht wurde, wurde bei Studenten der Medizin, die unter Prüfungsstress standen, verminderte Aktivität von diesen natürlichen Killerzellen, also Immunzellen, festgestellt. Die Studenten, die sich emotional isoliert fühlten, wiesen mit großer Wahrscheinlichkeit eine verminderte Aktivität ihres Immunsystems auf. Anders ausgedrückt, unsere Beziehung zu anderen Menschen ist ein wichtiger Faktor. Dazu hat UCLA Psychiater Dr. Daniel Siegel aus Los Angeles den Begriff “interpersonelle Neurobiologie” geprägt, um die Tatsache anzudeuten, dass die Biologie unserer Gehirne, sogar unseres ganzen Körpers, sich in einer direkten Wechselwirkung mit unseren persönlichen Beziehungen befindet. Also, die Art und Weise, wie wir uns in unseren Beziehungen zum Ausdruck bringen oder wie wir uns unterdrücken, hat eine direkte Auswirkung auf unsere Gesundheit.

AMYGOODMAN: Sie gehen insbesondere auch auf Autoimmun-Krankheiten, wie z.B. rheumatoide Arthritis, und deren Bezug zur Psyche-Körper Verbindung ein.

DR. GABOR MATÉ: Ein Fallbeispiel, das ich in meinem Buch angeführt habe, ist über eine junge Frau, die eines Nachts ein Festessen zum Rosh Hashanah zubereitete (Rosh Hashanah ist das jüdisches Neujahr, das im September stattfindet). Im Buch nannte ich sie „Rachel“. Und sie leistete schwere Arbeit. Sie bereitete in großer Eile die Mahlzeit in der Wohnung ihrer Mutter zu, da sie spätestens um fünf Uhr fertig sein musste, weil um diese Zeit ihr Bruder mit seiner Familie zu erwarten war, und dieser Bruder mochte Rachel nicht. Er wollte nicht am Festessen teilnehmen. Sie musste also das Festessen so schnell wie möglich unter Dach und Fach kriegen um pünktlich wieder abreisen zu können, um ihrem Bruder nicht zu begegnen. Ich fragte: „Ist es das Ihr Ernst? Sie bereiten ein Festessen für die ganze Familie vor und wollen selbst nicht daran teilnehmen? Warum?“ Darauf erwiderte sie: „Nun, weil die Familie zum Rosh Hashanah ja beisammen sein sollte, nicht wahr? “

Nun, Rachel konnte dieses Festmahl nicht zu Ende bringen. Ihr Körper hat nein gesagt. Sie erkrankte an einer akuten Entzündung, die sich auf alle ihre Gelenke ausbreitete, und musste mit ihrem ersten bösartigen Ausbruch von rheumatoider Arthritis schnellstens hospitalisiert werden. Diese Selbst-Unterdrückung ist typisch für Menschen mit rheumatoider Arthritis.

Dies ist ebenso typisch für Menschen, die an amyotropher Lateralsklerose (ALS) leiden. Ich würde gerne die Geschichte von Lou Gehrig als Fallbeispiel anführen, wenn Sie mir erlauben. Lou Gehrig war ein großartiger Baseballspieler, der zusammen mit Babe Ruth für die New York Yankees spielte. Und er stellte einen Rekord in der Anzahl der aufeinanderfolgenden Spiele auf, der sechzig Jahre lang ungebrochen war. Nun, Gehrig war nicht nur ein großartiger Sportler. Er war auch ein pflichtbewusster Mensch. Es ist nicht etwa so, dass er niemals verletzt wurde. Einmal wurden seine Hände einer Röntgenuntersuchung unterzogen. Es stellte sich heraus, dass seine Finger siebzehn Mal gebrochen wurden. Seine Teamkameraden beschrieben ihn als einen, der sein Gesicht wie ein agonisierender Affe verzog, jedes Mal, wenn er den Ball in die Hände bekam. Dennoch verließ er niemals das Spiel, da er zu pflichtbewusst seinem Sebstbild, seinen Fans und den Besitzern gegenüber war. Und dieses Verantwortungsgefühl zusammen mit der Nichtbeachtung der eigenen Bedürfnisse ist absolut typisch für jeden, der amyotrophe Lateralsklerose (ALS) entwickelt.

Und dies hat seinen Ursprung in der Kindheit, weil genauso wie bei der Patientin mit der rheumatoiden Arthritis, sie bereits eine „Versagerin“ war, als sie geboren wurde, weil ihre Mutter sie nur zur Welt brachte, um die Ehe mit ihrem Vater zu retten. Die Ehe ging in die Brüche und sie hatte nie das Gefühl, dass sie akzeptiert und geliebt wurde so wie sie ist. Folglich musste sie eine pflichtbewusste Pflegerin werden. Der Vater von Lou Gehrig war ein Alkoholiker und Gehrig musste ziemlich früh in seinem Leben lernen, dass er sich um andere kümmern muss, so wie die meisten Kinder von Alkoholikern das tun. Daraus ist dann ein Verhaltensmuster entstanden, das aktiv bis zu dem Zeitpunkt war, als es ihm körperlich einfach nicht mehr möglich war auf den Baseball-Platz zu gehen, wegen seiner amyotrophen Lateralsklerose (ALS) , was in den Vereinigten Staaten nun als Lou-Gehrig-Syndrom bekannt ist.

AMYGOODMAN: Wir führen ein Gespräch mit Dr.Gabor Maté, dem Bestsellerautor von vier Büchern. Sein letztes Buch ist In the Realm of Hungry Ghosts: Close Encounterswith Addiction haben wir bereits mit ihm vor zwei Wochen auf DemocracyNow! diskutiert. Unser heutiges Gesprächsthema ist sein früheres Buch When the Body Says No: Understanding the Stress-Disease Connection (Wenn der Körper nein sagt: Die Stress-Krankheitsverbindung verstehen lernen) .

Können Sie ein paar Worte über Kinder sagen, inwieweit dies für sie zutrifft? Vor ein paar Wochen haben wir über Suchtkrankheiten, wie z.B. Heroinsucht gesprochen und auch über andere Süchte die den gleichen Ursprung haben. Können Sie bitte auch über diese anderen Suchtkrankheiten und über die Rolle der Kindheit etwas sagen? Zwar haben wir das Thema bereits ein bisschen angeschnitten, aber können Sie uns bitte mehr über Ihre Kindheit erzählen.

DR. GABORMATÉ: Wiederum erwähne ich in meinem Buch When the Body Says No meinen Besuch bei meiner Mutter als Beispiel, als sie im Pflegeheim war. Meine Mutter leidete an Muskeldystrophie - einer degenerativen Muskelerkrankung. Die Krankheit ist erblich bedingt, und unsere Familie ist davon betroffen. Meine Mutter konnte also nicht mehr laufen, nicht einmal aus dem Bett aufstehen und selbstständig essen konnte sie nur schwer; sie war also in einem Pflegeheim, geistig Top Fit und sich ihrer Situation völlig bewusst und emotional sehr stark.

An diesem Tag lief ich durch den Flur dieses Pflegeheims, während ich etwas hinkte. Warum hinkte ich? Weil ich an diesem Morgen an meinem Knie arthroskopisch operiert werden musste, da ich mir meinen Knieknorpel zerrissen hatte, wegen meinem regelmäßigen Jogging auf dem Asphalt. Also humpelte ich etwas an diesem Nachmittag. Beim Eintreten in den Raum meiner Mutter unterdrückte ich dieses Hinken unterbewusst und dadurch waren die Beschwerden meines Knies wie vom Winde verweht. Ohne Beschwerden kam ich näher zu ihrem Bett und grüßte sie; wir hatten eine schöne Zeit miteinander. Als ich den Raum verlassen musste ging ich mit einem stinknormalen Gangs zu der Tür, doch sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, kam das Hinken zurück.

Und erst später kam der Gedanke zu mir: „Was machte ich da eigentlich?“. Das was ich dort gemacht habe war nicht bewusst. Ich hatte dies nicht mit Absicht getan. Klarerweise versuchte ich meine Mutter vor der Kenntnis über meine Schmerzen zu schützen. Oder anders ausgedrückt: Ich verhielt mich unbewusst in einer Weise, damit sie nichts von meinem Schmerz mitbekommt. Aber eigentlich brauchte meine 78-jährige Mutter gar nicht vor der Tatsache geschützt werden, dass ihr Sohn mittleren Alters am Tag einer Knieoperation etwas hinkte. Dies war ein alter Mechanismus, der in meinem ersten Lebensjahr in meiner Kindheit tief in mir verwurzelt wurde, als ich im Ghetto in Budapest lebte. Wie ich bereits bei meinem ersten Besuch in Ihrem Programm erwähnte, lebten wir damals unter der Besetzung der Nazis, als eine jüdische Familie. Mein Vater war nicht da weil er Zwangsarbeit verrichten musste. Meine Mutter war eine sehr gestresste Frau und versuchte ihr Bestes für mein und ihr Überleben zu tun, was ihr gerade so gelang. Als Kind lernte ich meinen Schmerz zu unterdrücken, um sie davor zu schützen und meine Beziehung zu ihr zu wahren, denn sie hatte schon mehr als genug zu schultern. Diese emotionalen Muster werden bei Kindern schon sehr früh tief verwurzelt. Auch wenn ich keine bewussten Erinnerungen von diesem Abschnitt meines Lebens besitze, leben diese Erinnerung trotzdem in meinen Zellen und in meinem Gehirn und zeigen sich während meinen Interaktionen mit anderen Menschen, wie in meinem Beispiel, als ich versuchte meine Mutter im Pflegeheim vor meinen Schmerzen zu schützen.

Es geht also darum, dass menschliche Wesen schon sehr früh durch Ereignisse in ihrem Leben geprägt werden. Genauer gesagt, werden sie bereits schon durch das was in der Gebärmutter geschieht, geprägt. Nach den Terroranschlägen vom 9. 11., als die Gebäude des World Trade Center zusammengebrochen sind, erkrankten einige schwangere Frauen an der posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD). Und je nach dem zu welchem Zeitpunkt in der Schwangerschaft das PTSD auftrat, wurden bei ihren einjährigen Kindern abnormal hohe Kortisolmengen (Kortisol ist ein körpereigenes Stresshormon) gemessen. Anders ausgedrückt, ihr Stresssystem wurde durch den Stress ihrer Mütter während der Schwangerschaft negativ beeinflusst. Gleichermaßen, als ich z.B. den Stresshormonspiegel bei Kindern der an posttraumatischer Belastungsstörung leidenden Holocaustüberlebenden gemessen habe, habe ich festgestellt, dass je schwerer diese Belastungsstörung bei den Eltern war, desto höher war der Stresshormonspiegel bei ihren Kindern.

Also, die Art und Weise, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen, ob diese Welt feindselig oder freundlich uns gegenüber ist, ob wir auf uns allein gestellt sind und uns um die anderen kümmern müssen oder ob wir Hilfe von außen erwarten und bekommen können, unabhängig davon, ob die äußere Umgebung uns gegenüber feindselig oder freundlich ist - unsere Stresspsychologie ist in der Tat durch all diese frühen Erfahrungen in hohem Maße geprägt. Und das ist genau das, was wir dann in unseren Leben reichlich abspielen und was im Laufe der Zeit unsere Gesundheit beeinträchtigt.

Daraus lässt sich schließen, Amy, dass, wenn jemand einen Arzt wegen ersten Symptomen von rheumatoder Arthritis, multipler Sklerose oder sogar mit einer Krebsdiagnose aufsucht, dass es nicht reicht, diesen Patienten eine Pille zu verschreiben. Es reicht nicht, ihnen Bestrahlungstherapien oder Operationen anzubieten. Mit ihnen muss man reden, man muss sie einladen und dazu ermutigen, dass sie über ihr Leben erzählen und wie sie unter Stress gesetzt werden, weil diejenigen, die das tun - ich sage Ihnen das aus meiner eigener Erfahrung und basierend auf meiner Beobachtung der Menschen-, die ihre Gesundheit ganzheitlich betrachten, am Ende viel besser abschneiden. Und ich kenne Menschen, mit angeblich endgültigen Diagnosen, die überlebt haben - aus einem einfachen Grund, weil sie sich ihrer psychisch-körperlicher Ganzheit bewusst geworden sind - und ich würde auch spirituelle Ganzheit dazu zählen, was es ihnen ermöglichte, über das beschränkte medizinische Behandlungsmodell hinaus zu gehen. Und ich bin nicht hier, um den Nutzen von der medizinischen Vorgehensweise des Mainstream, in dem ich aufgezogen wurde, herabzumindern. Ich sage nur, dass diese Vorgehensweise hoffnungslos engstirnig ist und dass dadurch viele Menschen ohne angemessene Behandlung und Unterstützung bleiben.

AMYGOODMAN: Dr. Gabor Maté, Sie sprechen über die unglückliche Kindheit -- schädliche Kindheitserlebnisse --

DR. GABOR MATÉ: Ja, es gab eine --

AMY GOODMAN: - - und über deren Verbindung mit Suchtkrankheiten, in ihrem neuesten Buch In the Realm of Hungry Ghosts.

DR. GABOR MATÉ: Es gab eine Reihe von umfangreichen Studien in den USA, durchgeführt von genialen Forschern, sogenannte ACE Studien (Studien der schädlichen Kindheitserlebnisse). Diese schädliche Kindheitserlebnisse sind der Fall, wenn ein Kind missbraucht wird, oder wenn in der Familie Gewalt angewendet wird, oder wenn ein Elternteil ins Gefängnis gebracht wird, oder wenn es eine extreme Belastung durch Armut bzw. verbitterte Ehescheidung gibt, oder wenn ein Elternteil an einer Suchtkrankheit, z.B. Alkoholismus, leidet, und so weiter.

Wenn es zu einer Suchtkrankheit kommt, sind diese Effekte suchterzeugend, so dass, wenn ein Kind eine Reihe von schädlichen Kindheitserlebnissen hatte, exponentiell die Wahrscheinlichkeit steigt, dass diese Menschen später drogenabhängig werden oder irgendeine andere Abhängigkeit entwickeln. Bei einem männlichen Kind mit sechs schädlichen Kindheitserlebnissen erhöht sich also die Wahrscheinlichkeit, dass es später ein intravenös Suchtgiftspritzender Abhängiger wird, um 4600%, sprich um das 46 fache, im Vergleich zu einem Kind ohne solche Erfahrungen.

Interessanterweise erhöht sich durch diese schädlichen Kindheitserlebnisse auch das Risiko exponentiell an Krebs, Bluthochdruck, Herzkrankheiten und einer ganzen Reihe anderer Krankheiten zu erkranken, inklusive Suizid und frühem Tod. Mit anderen Worten: Es gibt eine tatsächliche Verbindung zwischen frühen Kindheitsunglücken und späteren Lebensweisen und dem Aufkommen von Süchten und körperlichen und natürlich auch mentalen Erkrankungen.

Und wenn wir das in der Medizin außer Acht lassen, wird das auch nicht weiter untersucht. Die meisten Menschen, die einen Arzt besuchen, werden gar nicht erst danach gefragt. Sie werden nicht dazu ermutigt ihre Kindheit und deren Einfluss auf ihr Verhalten als Erwachsene zu untersuchen.

AMYGOODMAN: Zum Abschluss unserer Diskussion, können Sie etwas über die nützlichsten Mittel sagen, wie man mit Stress und der Psyche-Körper Verbindung umgehen kann? Was sollen Ärzte ihren Patienten vermitteln und was müssen die Patienten ihren Ärzten erzählen?

DR. GABORMATÉ: Der Körper hat viele Arten, nein zu sagen. Beinahe jedes Symptom das uns bekannt ist, ist enthalten: Magenschmerzen, Rückenspasmen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Mundtrockenheit, Schlafstörungen, Muskelverspannungen. Ich rede auch speziell von diesen relativ kleinen Symptomen. Das alles sind die Arten unseres Körpers nein zu sagen. Natürlich gibt es auch schlimmere Beschwerden wie Psoriasis oder Colitis ulcerosa - und die anderen Erkrankungen, die ich bereits erwähnt habe. All diese Dinge benutzt unser Körper, um nein zu sagen.

Zu­al­ler­erst, müssen wir versuchen darauf zu achten was unser Körper uns zu sagen versucht. Wenn ein Symptom erscheint, geht Sie nicht einfach zum Arzt mit der Bitte, diese Symptome schnell zu beseitigen. Ja, bitten Sie um Hilfe, aber hören Sie auch darauf, gegen was Ihr Körper nein sagt. Normalerweise werden Sie dann feststellen, dass Sie in Ihrem Leben zu viel auf sich genommen haben, dass Sie Dinge unterdrücken und andere im Übermaß zufriedenzustellen wollen. Sie leben Ihr Leben zusammen mit Verhaltensmustern, die nicht zum Ausdruck bringen, wer Sie wirklich sind. Sie sollten also nicht ein Symptom oder eine Erkrankung nur als etwas betrachten, was man loswerden muss. Es sollte sie dazu bringen, ihre bisherige Lebensweise genau zu untersuchen und herauszufinden, wie man auf eine andere, auf eine gesündere Art leben kann.

AMY GOODMAN: Was glauben Sie, versteht nun die moderne, westliche Medizin die Psyche-Körper Verbindung besser?

DR. GABOR MATÉ: Es gibt vielversprechende Zeichen. Da gibt es solche Menschen wie Jon Kabat-Zinn, der über Stress und Achtsamkeit spricht, und Andrew Weil, der auf die Wichtigkeit von Ernährung hinweist und für den ganzheitlicheren Ansatz plädiert, die man erwähnen kann. Es gibt also viele Menschen, die eine großartige Arbeit in dieser Richtung leisten.

Dennoch, wenn wir die medizinische Profession als Ganzes betrachten, stellen wir fest, dass wir eine miserable Arbeit leisten. Wir geben Milliarden von Dollar für die Krebsforschung und andere Forschungen aus, die uns nirgendwo hin bringen, weil wir den Lebensstress, der im hohen Maße zu der Krankheitsentstehung beiträgt oder sie vielleicht sogar verursacht, ignorieren. Dennoch lassen wir das alles außer Acht. Wir befassen uns nicht damit. Wir berauben Menschen der angemessenen Hilfsmittel zur Wiedererlangung ihrer Gesundheit.

AMYGOODMAN: Dr. Gabor Maté, ich möchte mich bei Ihnen für das heutige Gespräch aus Vancouver bedanken. Dr. Gabor Maté ist ein Bestsellerautor aus Kanada, der nun auch dem amerikanischem Auditorium näher gekommen ist. Das Thema der Diskussion war sein Buch When the Body Says No: Understanding the Stress-Disease Connection. Sein neuestes Buch In the Realm of Hungry Ghosts: Close Encounters with Addiction wurde vor kurzem verlegt.