Eine gesellschaftliche Gruppe, die in Deutschland zur Randständigkeit verurteilt ist, sind die Alten. Alte kommen als Wohlfühlrentner auf Mallorca oder als Demenzproblem im Dreibettzimmer des Pflegeheims vor. Ansonsten erfahren sie keine besondere Aufmerksamkeit geschweige denn Wertschätzung.
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Sie sind keine besonderen Toten unter denen, die bei einem Flugzeugabsturz umgekommen sind. Die besonderen Toten sind immer Kinder (z.B.: “darunter 10 Kinder"). Alte kommen nicht als Klientel vor, deren eigenständiger Lebensabend durch besondere Angebote verbessert werden muss, z.B. durch Versorgungsangebote wie sie im Vereinigten Königreich Normalität sind, wo jeder große Supermarkt auch direkt nach Hause liefert.

Alte bleiben, so kann man kurz zusammenfassen, auf der Strecke, es sei denn, man kann sie instrumentalisieren und sich ihrer annehmen, sie zum Anlass nehmen, um eine Einnahmequelle zu erschließen. Dies dürfte der Grund dafür sein, warum fast hämisch über die Mallorca-Alten berichtet wird, während die Demenz-Alten zumindest noch als Einnahmequelle taugen.

Entsprechend ist es zunächst erfreulich, dass die Deutsche Stiftung Patientenschutz anlässlich des Weltsuizidtages (der war gestern) darauf hinweist, dass Alte unter denen, die sich das Leben nehmen, überrepräsentiert sind. Über 59jährige machen derzeit rund 27% der deutschen Bevölkerung aus, stellen aber 45% der Suizidopfer. Diese Daten hat Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientenschutz im Tagesspiegel zum besten gegeben.

Die Zahlen stimmen tatsächlich, wie eine Überprüfung durch ScienceFiles auf Basis der Todesursachenstatistik und der Todesursache “vorsätzliche Selbstbeschädigung”, wie Selbstmord heute heißt, ergeben hat (siehe die beiden Abbildungen): Während seit 2000 der Trend bei der Häufigkeit von Suiziden über alle Altergruppen berechnet, rückgängig ist (r2 = .537) ist die Anzahl der über 59jährigen, die sich das Leben nehmen, seit 2000 nahezu konstant geblieben (r2 = .078). Dies findet seinen Niederschlag im Anteil der über 59jährigen unter allen, die sich von 2000 bis 2013 das Leben genommen haben. Er ist von 39,2% auf 44,5% angestiegen.

Somit muss man an dieser Stelle feststellen, dass die Anzahl der Alten, die sich jährlich das Leben nehmen, realtiv zu allen, die sich das Leben nehmen, jährlich um drei Prozent steigt. Offensichtlich, so muss man schließen, hat diesen Alten die deutsche Gesellschaft nichts mehr zu bieten. Jedenfalls muss man zu dieser Hypothese kommen, wenn man der Ansicht ist, dass der Selbstmord eines Menschen das Ergebnis fehlender Perspektiven, persönlicher wie gesellschafticher Perspektiven, ist.

Eugen Brysch kommt auch zu diesem Schluss und versucht diesen Schluss dem Status der zu prüfenden Hypothese, den er bei uns hat, zu entheben und als Erklärung für die relativ häufigere Selbsttötung unter über 59jährigen zu etablieren: “Häufig leiden die Betroffenen Brysch zufolge an Depressionen, die oft nicht erkannt und somit nicht therapiert werden. In Pflegeheimen habe sogar die Hälfte der Bewohner depressive Symptome und jeder Fünfte leide unter schwerer Depression, sagte Brysch”.

Diese Informationen sollen in einem anderen Beitrag im Berliner Tagesspiegel enthalten sein, der entsprechend als Quelle angeführt wird, um die Behauptungen über die Ursache “Depression” für die Wirkung “Selbstmord” zu stützen. Indes, der verlinkte Beitrag enthält Aussagen von Eugen Brysch, aber keinerlei Informationen darüber, ob Alte depressiv sind, ob über 59jährige depressiver sind als unter 60jährige, ob Insassen von Pflegeheimen im Vergleich zur Restbevölkerung besonders depressiv sind usw. Es gibt schlicht keine Informationen dazu, was kein Wunder ist, denn Alte sind als Untersuchungsgegenstand in den meisten Sozialwissenschaften eher nicht vorhanden.

Warum also behauptet Brysch, Alte wären besonders depressiv und deshalb häufiger Selbstmörder als jüngere, wenn er keinerlei Daten dazu hat? Nun, er fordert ein Aktionsprogramm Suizidprophylaxe 60plus”. Das Programm muss vom Bundesgesundheitsministerium eingerichtet und aus Steuergeldern finanziert werden und als ein solches Programm wird es das Auskommen einer Vielzahl der Psychologen sichern, die derzeit auf Halde ausgebildet werden.

Alte haben eben keinen Wert an sich, sondern nur, wenn man sie zum Gegenstand eines Programms machen und als Einkunftsquelle aufbauen kann. Dann werden selbst Alte interessant. Am Ende entdeckt noch einer, dass Männer unter den Selbstmördern überrepräsentiert sind und fordert ein “Aktionsprogramm Suizidprophylaxe Mann”. Noch eine Möglichkeit, Psychologen durchzufüttern.

Leider ändern entsprechende Programm nichts daran, dass die Ursachen dafür, warum sich Menschen über 59 Jahre relativ häufiger umbringen als Menschen unter 60 Jahren, unbekannt sind. Ebenso wie unbekannt ist, ob Depression dabei eine Rolle spielt oder nicht, ob es private Probleme oder gesellschaftliche Strukturen sind, die dazu beitragen, dass Alte ihr Leben vorzeitig beenden. Ob gesundheitliche Gründe eine Rolle spielen, ist ebenso unbekannt wie unbekannt ist, welche Rolle der eigenen Familie, die man vielleicht nicht mehr ertragen kann, zukommt.

Es gibt eben keinerlei Daten zu über 59jährigen Selbstmördern, die Auskunft auf diese Fragen geben würden, aber das macht nichts, denn es geht nicht darum, diesen Alten zu helfen, sondern darum, diese Alten zur Einkunftsquelle zu machen. Dazu braucht man kein Wissen über die Ursachen von Selbstmord.