Einnahme in der Schwangerschaft erhöht das spätere Autismus-Risiko der Kinder
Autismus, Kind hinter Glasscheibe
© Marcin Pawinski /thinkstockAutistische Kinder haben oft Probleme, soziale Signale zu verstehen - sie sind isoliert wie hinter einer Glaswand.
Forscher haben weitere mögliche Ursache von Autismus entdeckt: Antidepressiva. Wenn Mütter in den letzten zwei Dritteln der Schwangerschaft solche Mittel einnehmen, steigt das Autismus-Risiko ihrer Kinder um bis zu 87 Prozent, wie Wissenschaftler im Fachmagazin JAMA Pediatrics berichten. Besonders die sogenannten Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer scheinen demnach die Hirnentwicklung der ungeborenen Kinder zu stören.

Die Häufigkeit von Autismus und autistischen Entwicklungsstörungen bei Kindern nimmt zu: Inzwischen sind zwischen ein und drei Prozent der Jungen und rund ein Prozent der Mädchen betroffen. Klar scheint, dass neben einer genetischen Veranlagung auch Umwelteinflüsse für eine Entstehung des Autismus verantwortlich sind. Welche dies aber sind, bleibt strittig. Im Verdacht stehen unter anderem Belastungen im Mutterleib durch Pestizide, aber auch durch Bisphenol A, Feinstaub oder ältere Väter.

87 Prozent erhöhtes Autismus-Risiko

Anick Bérard von der University of Montreal und ihre Kollegen haben nun eine weitere mögliche Ursache aufgespürt: Antidepressiva. Für ihre Studie analysierten sie die Gesundheitsdaten von 145.456 Müttern und ihren Kindern, die zwischen 1998 und 2009 in Quebec geboren wurden. Die Forscher untersuchten dabei, ob, wann und wie häufig die Mütter während ihrer Schwangerschaft Medikamente gegen Depression verschrieben bekamen und verglichen dies mit der Häufigkeit einer Autismus-Diagnose bei den Kindern.

Das Ergebnis: Kinder, deren Mütter während des zweiten oder dritten Schwangerschafts-Drittels Antidepressiva bekommen hatten, entwickelten später deutlich häufiger autistische Störungen. "Die Einnahme von Antidepressiva in der Schwangerschaft verdoppelt nahezu das Risiko, dass bei einem Kind mit sieben Jahren Autismus diagnostiziert wird", berichtet Bérard. Insgesamt erhöhte sich das Risiko um 87 Prozent. Wurden Medikamente gegen Depression dagegen nur im ersten Trimester der Schwangerschaft eingenommen, beeinflussten sie das Autismus-Risko des Kindes nicht.

Nicht der erste Effekt von Antidepressiva

Angesichts der Tatsache, dass heute sechs bis zehn Prozent aller schwangeren Mütter Antidepressiva einnehmen, sei das ein gesundheitlich bedeutendes Ergebnis, so die Forscher. Noch sei jedoch weitere Forschung nötig, um die genauen Zusammenhänge zu klären. So ist bisher nicht bekannt, ab welcher Dosis Antidepressiva das Autismus-Risiko erhöhen und auch nicht, ob bestimmte Wirkstoffe möglicherweise ungefährlich sind.

Komplett überraschend kommt das Ergebnis allerdings nicht: Schon früher haben Tierstudien gezeigt, dass bereits geringe Mengen Antidepressiva im Abwasser das Verhalten und die Genaktivitätvon Fischen und anderen Meerestieren verändern. Bei Kindern von Müttern mit Depression kann sich zudem die Sprachentwicklung verzögern, wie Forscher 2012 herausfanden.

Eingriff in den Serotonin-Haushalt

Wie die Antidepressiva in die Hirnentwicklung des Ungeborenen einwirken, ist noch nicht geklärt. Doch die Studie deutet darauf hin, dass sich die sogenannten Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) besonders stark auf das Autismus-Risiko der Kinder auswirken. Diese Wirkstoffe verhindern, dass der Hirnbotenstoff Serotonin zu schnell abgebaut wird und sollen so den depressions-verursachenden Mangel dieses Neurotransmitters beheben.

"Serotonin ist aber auch an vielen anderen prä- und postnatalen Prozessen beteiligt, darunter der Zellteilung, der Wanderung von Nervenzellen, der Zelldifferenzierung und der Synapsenbildung", erklärt Bérard. "Es ist daher plausibel, dass diese Antidepressiva Autismus verursachen können, wenn sie zu der Zeit eingenommen werden, in der sich das Gehirn des Ungeborenen gerade entwickelt", sagt Bérard.

"Kein Grund zur Panik"

In einem begleitenden Kommentar warnt Bryan King vom Seattle Children's Hospital jedoch Frauen davor, Antidepressiva nun in einer Panikreaktion abzusetzen. "Es wäre momentan genauso unsinnig zu sagen, dass alle Antidepressiva gemieden werden sollten, als zu sagen, sie sollten nie abgesetzt werden." Denn zum einen wisse man einfach noch zu wenig über diesen Effekt und zum anderen sind die Zusammenhänge extrem komplex.

"Es ist sehr unwahrscheinlich, dass es einen simplen Pfad geben wird, der von solchen Belastungen direkt zu autistischen Entwicklungsstörungen führt", meint King. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass die Schwere der Depression der Mutter, nicht unbedingt das Medikament, einen Einfluss auf das Autismus-Risiko hat. Klar scheint aber: Bei der Suche nach den Autismus-Ursachen rückt die Zeit im Mutterleib immer mehr in den Fokus der Forschung.