Polizisten Weihnachtsmann
© ReutersBewaffneter Islamist? Französische Polizisten überwachen einen Weihnachtsmann in Strasbourg im November 2015.
Auf dem Hackerkongress des Chaos Computer Club zogen französische Aktivisten eine erschütternde Bilanz hinsichtlich der Freiheitsrechte in der Republik Frankreich. Adrienne Charmet, die Koordinatorin der NGO La Quadrature du Net, und Taziden, ein Betreiber unabhängiger Internet Service Provider, zählten die verschiedenen Maßnahmen auf, die der französische Staat im Jahr 2015 ergriff, um seine Bürger stärker zu überwachen.

Das Jahr begann in Frankreich mit der Attacke von islamistischen Extremisten auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 7. Januar. Bei den Tätern, den Brüdern Saïd und Chérif Kouachi sowie Amedy Coulibaly, handelte es sich um junge Franzosen, die den internationalen Sicherheitsdiensten seit vielen Jahren bekannt waren. Frankreich verfügte zu diesem Zeitpunkt bereits über die schärfsten Sicherheitsgesetze in ganz Europa. Das Land führte die berüchtigte Vorratsdatenspeicherung bereits im Jahr 2006 ein. Alle Internet- und Telefonverbindungen werden für 12 Monate gespeichert.

Taziden weist darauf hin, dass die französischen Behörden bereits seit Ende 2013 vollen Zugriff auf alle Internet Provider haben - in Echtzeit. Mehr Internet-Überwachung ist nicht möglich. Er warnt seine Gesprächspartner "Dies ist ein wirklich depressives Thema". Auch Adrienne Charmet beschreibt die vergangenen Monate als ein "schwarzes Jahr" für die Bürgerrechte. Sie spricht von einer "permanenten Atmosphäre des Terrors". Obwohl bereits das Attentat auf die Charlie Hebdo-Redaktion nachgewiesen hatte, dass schärfere Sicherheitsgesetze keinen Schutz gegen den Terror bieten, erließ Frankreich in der Folge zwei neue Geheimdienstgesetze.

Seit dem Sommer 2014 kann die französische Polizei bereits willkürlich Webseiten sperren, ohne dass dies ein Richter vorher prüfen muss. Möglich wurde dieser Eingriff in die Meinungsfreiheit durch ein entsprechendes Antiterrorgesetz. Wenn Polizisten der Meinung sind, eine Webseite "befürworte den Terrorismus", können sie die entsprechende Homepage offline stellen lassen. Zudem wird "Verherrlichung von Terrorismus" ausdrücklich von der Meinungsfreiheit ausgenommen, ohne dass genau definiert ist, wie eine verherrlichende Aussage genau aussehen muss.

Entsprechend wurden unmittelbar nach dem Anschlag vom Januar bereits zahlreiche Personen für die Unterstützung von Terrorismus verurteilt. Viele von ihnen, berichten Adrienne Charmet und Taziden, waren betrunken oder hatten einfach zynische Kommentare im Netz hinterlassen. Das neue Geheimdienstgesetz, das schließlich nach den Januar-Attacken verabschiedet wurde, befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Jahren in Vorbereitung. Das Fazit von Taziden lautet:
"Der Anschlag öffnete ein Fenster für die Sicherheitsbehörden, alles zu bekommen, was sie schon immer haben wollten."
Die Politik machte öffentlich "das Internet" und die Verschlüsselung von Daten dafür verantwortlich, dass junge Menschen sich radikalisieren. Dabei hat, darauf verweist Adrienne Charmet, bisher niemand nachgewiesen, dass die Täter überhaupt verschlüsselt kommunizierten, oder das Internet irgendeine Rolle bei der Vorbereitung der Taten spielte. Die größte Sorge der Regierung bestand darin, für das geplante Gesetz vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angeklagt zu werden, glaubt Charmet.

Am Ende führte das Geheimdienstgesetz zahlreiche "sehr breite" Tatbestände, die auch sehr viele Menschen außerhalb einer terroristischen Szene treffen können. Taziden und Charmet führen Punkte an wie "kollektive Gewaltausübung" oder "Bedrohung des öffentlichen Friedens". Wer von diesen schwammigen Vorwürfen getroffen wird, muss sich nun in Frankreich auf den gesamten Überwachungsstaat einstellen. Dabei kann es normale Demonstranten ebenso treffen wie etwa Wissenschaftler. Auch die "wissenschaftliche Interessen Frankreichs" werden nun mithilfe des Gesetzes für die Geheimdienste geschützt.

Das Gesetz erlaubt den Geheimdiensten in diesen Fällen, das vollständige Arsenal zeitgenössischer Überwachung einzusetzen. Ähnlichen Willkürmaßnahmen sind in Frankreich inzwischen internationale Gäste und Firmen ausgesetzt, denn der gesamte Katalog an Maßnahmen wurde im September in das Gesetz für internationale Geheimdienstarbeit aufgenommen.

Dann kamen die Anschläge vom November. Noch am selben Abend verhängte der französische Präsident den Ausnahmezustand. In der darauf folgenden Woche verlängerte die Nationalversammlung diesen Zustand der Rechtlosigkeit auf drei Monate - mit sechs Gegenstimmen. Aktuell ist die Gewaltenteilung in Frankreich aufgehoben. Verdächtige können ohne richterlichen Beschluss interniert werden. Polizei und Sicherheitsbehörden dürfen sämtliche elektronischen Systeme durchsuchen und überwachen. Vereine und Internetseiten können jederzeit ohne einen Richter verboten werden.


Bis Weihnachten fanden in Frankreich mehr als 2.700 Hausdurchsuchungen statt, fast 370 Personen wurden unter Hausarrest gestellt, berichtet Taziden. Bei den Betroffenen handelt es sich eben keinesfalls um Terroristen. Verhaftet wurden auch Aktivisten gegen den Klimagipfel und Anarchisten. "Die Polizei entscheidet anstelle der Gesellschaft oder der Gerichte, wer als gefährlich gilt, und kann mit allen Mitteln gegen diese Personen vorgehen", lautet die Bilanz von Adrienne Charmet.

Die Aktivisten sprechen von einer "Shock-Doctrine", die darauf angelegt ist, den "Ausnahmezustand zum Normalzustand" zu machen. Frankreich, so die Aktivisten, ist gegenwärtig nicht das "Heimatland der Menschenrechte" sondern ein Polizeistaat.