Fleisch
© Unbekannt
Vielen Menschen ist die ketogene - also die extrem fettreiche und kohlenhydratarme - Diät als ein Mittel zur Gewichtsreduktion bereits bekannt. Etwas weniger bekannt ist, dass sie seit Jahrzehnten erfolgreich bei pharmakoresistenten Epilepsien im Kindesalter angewandt wird und bei seltenen Stoffwechselstörungen des Gehirns (Glukosetransporter(GLUT1)-Defekt, Pyruvatdehydrogenase-Mangel) sogar als Therapie der Wahl gilt.

Aber kann die fettreiche Diät möglicherweise noch viel mehr? Ein internationales Autorenteam um Dr. Antonio Paoli von der University of Padua in Italien hat nun in einem Übersichtsartikel im European Journal of Clinical Nutrition den aktuellen Forschungsstand zusammengetragen [1].

Demnach gibt es bereits zahlreiche Hinweise darauf, dass diese spezielle Ernährungsform auch für eine Reihe weiterer Indikationen in Frage kommen könnte. Das Spektrum der Erkrankungen reicht von Akne und Alzheimer über Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen, Parkinson, das polyzystische Ovarialsyndrom und Krebserkrankungen bis hin zu Schädel-Hirn-Traumata.

Viele Einsatzmöglichkeiten sind jedoch noch wenig bekannt und untersucht, weshalb die Autoren die potentielle therapeutische Breite in ihrem Artikel auch als das „hidden face“ der ketogenen Diät bezeichnen.

Tatsächlich spielt für die meisten Ärzte die ketogene Diät in der täglichen Praxis wohl nur eine untergeordnete Rolle - zumindest, wenn man die bereits etablierten Indikationen ausklammert. Gewisse Vorbehalte gegen die spezielle Form der Ernährung seien laut Prof. Dr. Ulrike Kämmerer, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Frauenklinik des Uniklinikums Würzburg, auch darauf zurückzuführen, dass Mediziner noch zu häufig die Ketose mit einer Ketoazidose verwechselten.

Nur bei letzterem handele es sich jedoch um einen pathologischen Vorgang, nämlich um die lebensbedrohliche Entgleisung des Stoffwechsels bei Diabetikern oder Alkoholikern. „Die Ketose ist dagegen ein physiologischer Vorgang“, erklärt sie im Gespräch mit Medscape Deutschland.

Ketose - ein physiologischer Vorgang

So wird zwar im Normalfall ein Großteil der benötigten Energie in Form von Kohlenhydraten aufgenommen, welche zu Glukose abgebaut und weiter zur Energiegewinnung genutzt werden. Werden jedoch nicht ausreichend Kohlenhydrate mit der Nahrung aufgenommen, führt dies - eingeleitet durch die Suppression der Insulinsekretion - zu einer Umstellung des Stoffwechsels: Die Leber erzeugt dann aus den Fettreserven Ketonkörper, die als alternative Energielieferanten dienen.
„Die Ketose ist ...ein physiologischer Vorgang.“
Prof. Dr. Ulrike Kämmerer
Gerade das Gehirn, das normalerweise auf Glukose als Energielieferanten angewiesen ist, kann sich so z.B. bei längerer Nahrungskarenz umstellen und einen Großteil seines Energiebedarfs über Ketonkörper decken.

„Nebenwirkungen gibt es so gut wie keine“, meint Kämmerer, die seit Jahren Grundlagenforschung zu diesem Thema betreibt. Nur in der Umstellungsphase werde häufiger von Kopfschmerzen berichtet, Berichte über Verstopfungen seien hingegen anekdotisch.

Die verbreitete Angst vor Nierenschäden durch eine ketogene Ernährung ist ihrer Ansicht nach ebenfalls unnötig. „Nierenprobleme müssen nur bei der Hoch-Protein-Variante der Diät befürchtet werden, wie sie Bodybuilder zum Muskelaufbau verwenden“, sagt die Biologin.

Bei der therapeutisch eingesetzten Diät entspräche der Proteinanteil aber in der Regel der Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, nämlich rund 0,8 g/kg Körpergewicht pro Tag. Nur bei Krebspatienten sei der Proteingehalt mit bis zu 1,4 g/Tag etwas höher. Aber auch das sei noch weit von den Mengen entfernt, die bei den proteinreichen Diäten eingesetzt werden.

Evidenz für die ketogene Diät ist da, Erklärungen fehlen

Die Autorengruppe um Paoli betont ebenfalls, dass es sich bei der Ketose um einen physiologischen Vorgang handelt - aber inwieweit ist er auch therapeutisch nutzbar? In ihrem Review nehmen sie eine Trennung vor und beschreiben zunächst die Indikationen, für die ihrer Ansicht nach bereits eine „starke Evidenz“ für die Anwendbarkeit der ketogenen Diät besteht. Neben der Gewichtsabnahme zählen dazu kardiovaskuläre Erkrankungen, Typ-2-Diabetes und Epilepsie.

Auf welche Weise die kohlenhydratarme Ernährung die Krankheitszustände beeinflusst, ist gleichwohl noch in keinem dieser Fälle abschließend erklärt. Im Fall des Typ-2-Diabetes scheint sich die ketogene Diät aber zumindest, so fassen es die Autoren zusammen, nicht nur wegen der geringeren Zuckerzufuhr positiv auszuwirken, sondern sie verbessert offensichtlich auch die systemische Insulinsensitivität. Und auf die kardiovaskulären Risikoparameter wirkt sich die ketogene Diät möglicherweise durch eine Optimierung der Blutfettwerte aus.
„Nebenwirkungen gibt es so gut wie keine.“
Prof. Dr. Ulrike Kämmerer
Bis heute nicht abschließend geklärt ist ebenfalls, auf welche Weise die Diät bei pharmakoresistenten Epilepsien des Kindesalters wirkt. Es gibt allerdings verschiedene Hypothesen. Mögliche Mechanismen sind z.B. ein direkter antikonvulsiver Effekt der Ketonkörper oder eine reduzierte neuronale Erregbarkeit.

Ketogene Diät - auch bei Krebs und Alzheimer sinnvoll?

Bei weiteren Krankheiten oder Beschwerden, so schreiben die Autoren, gibt es zumindest hier und da schon Hinweise, die auf eine Anwendbarkeit der kohlenhydratarmen Kost schließen lassen. In vielen Fällen stecke die Forschung jedoch noch in den Kinderschuhen, geben die Autoren des Reviews zu, und die Ergebnisse von Studien seien zum Teil kontrovers.

In bestimmten Fällen ist man allerdings auch schon etwas weiter. „Alzheimer wird von Wissenschaftlern inzwischen auch als ‚Typ-3-Diabetes’ bezeichnet“, erklärt Kämmerer. Damit soll auf den Zusammenhang zwischen Insulinstoffwechsel und der neurodegenerativen Erkrankung hingewiesen werden.

So ist die Krankheit u.a. durch eine Insulinresistenz im Gehirn gekennzeichnet. Das heißt, der Blutzucker erreicht zwar - anders als beim GLUT1-Defekt - das Hirn, kann aber nicht von den Zellen aufgenommen werden. Dies wird auch in der Diagnostik der Alzheimer-Erkrankung genutzt: Die Positronen-Emissionstomografie (PET), bei der Patienten radioaktiv markierter Zucker injiziert wird, macht den gestörten Glukosestoffwechsel sichtbar.

Die Ketonkörper helfen möglicherweise dabei, das Energiedefizit der Hirnzellen alternativ zur Glukose aufzufüllen. „Damit lassen sich keine Hirnzellen mehr regenerieren“, sagt Kämmerer. „Aber eventuell noch ein paar geschwächte Zellen reaktivieren.“
„Alzheimer wird von Wissenschaftlern inzwischen auch als ‚Typ-3-Diabetes' bezeichnet.“
Prof. Dr. Ulrike Kämmerer
Zellen länger am Leben halten - genau das will man bei malignen Tumorzellen dagegen eigentlich nicht. Und trotzdem scheint sich auch bei Krebspatienten die Diät zu bewähren. Paoli und Kollegen bezeichnen die ketogene Diät denn auch als „eine vernünftige Möglichkeit“, das Fortschreiten einiger Krebsarten zu reduzieren.

Kämmerer erklärt: „Viele Krebszellen gewinnen einen Großteil ihrer Energie aus der Vergärung von Zucker, d.h. sie verstoffwechseln ihn nahezu ohne Sauerstoff. Sie sind damit abhängig von einer hohen Glukoseversorgung. Fette und Fettsäuren werden dagegen von Tumorzellen so gut wie gar nicht verwertet.“

Durch die Umstellung der Ernährung wird also die Energieversorgung der Tumorzellen reduziert, während für gesunde Zellen ausreichend Energie in Form von Fett und Proteinen bereitgestellt wird.

In einer Reihe von Tierversuchen hat sich das verlangsamte Tumorwachstum durch eine ketogene Diät bereits bestätigen lassen [2]. Erste Erfahrungen mit 16 Krebspatienten aus einer Pilotstudie mit Kämmerers Beteiligung weisen zudem darauf hin, dass sich auch die Lebensqualität von Krebspatienten durch die Ernährungsumstellung positiv beeinflussen lässt [3].

Weitere Studien sind dringend erforderlich, aber...

Weitere Studien seien dringend nötig, darin stimmen Paoli und Kämmerer überein. Das Problem: Mit der ketogenen Diät kann niemand Geld verdienen. Kämmerer: „Die Zutaten - Butter, Sahne, Öl, Eier, Speck, Gemüse etc. - lassen sich schließlich in jedem Discounter kaufen.“ Lukrative Patente stehen dadurch nicht in Aussicht, die Finanzierung entsprechender Studien sei infolgedessen erschwert.
„Fette und Fettsäuren werden dagegen von Tumorzellen so gut wie gar nicht verwertet.“
Prof. Dr. Ulrike Kämmerer
Hinzu kommt: Ernährungsstudien, die wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden, sind kaum umzusetzen, so die Würzburger Biologin. Eine Doppelverblindung ist aus naheliegenden Gründen unmöglich, die Patienten sehen und schmecken, was sie zu sich nehmen. Und auch eine Randomisierung ist nicht unproblematisch: „Jemand, der sein ganzes Leben Fett gemieden hat, wird mit der ketogenen Diät vermutlich nicht glücklich.“

Und zu einer Ernährungsumstellung gezwungen werden sollte niemand: „Essen gehört schließlich auch zur Lebensqualität.“

Referenzen

[1] Paoli, A, et al: European Journal of Clinical Nutrition. 2013;67:789-796. http://dx.doi.org/10.1038/ejcn.2013.116

[2] Poff AM, et al: Cancer. PLoS ONE. 2013;8(6):e65522. http://dx.doi.org/10.1371/journal.pone.0065522

[3] Schmidt M, et al: Nutrition & Metabolism. 2011;8:54. http://dx.doi.org/10.1186/1743-7075-8-54