Tausende fliehen aus dem Ostteil von Gaza City. Viele in dem Massenexodus laufen barfuß, manche noch im Pyjama und tragen ihre schlafenden Kinder. Einige haben Plastiktüten mit ein paar Tomaten und Gurken dabei. Überlebende berichten, sie hätten Massaker und gewaltige Zerstörungen von Wohngebieten beobachtet. Nach einer Nacht heftiger Panzer-Attacken und Bombardierungen aus der Luft liegen die Leichen der Getöteten überall auf den Straßen verstreut herum. Wer noch irgendwie konnte, flieht - meistens ohne zu wissen, wohin.
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Gaza City - Unzählige Häuser wurden getroffen in Shajaiya, und der Beschuss lässt nicht nach. Die Ambulanzen und Bergungshelfer haben große Mühe, an die Orten der Verwüstung zu gelangen. Und die Sanitäter, denen es gelingt, riskieren ihr Leben: „Wir waren am Sonntag dort, um nach Verletzten zu suchen und die Leichen einzusammeln. Wir fanden so viele tote Frauen und Kinder. Sie hatten es nicht mehr geschafft rauszukommen“, berichtet Ayman Badwan, Direktor der Palästinensischen Zivilverteidigung in Tel el-Hawa gegenüber Hintergrund. „Unser Kollege Ibrahim Sahabani wurde vor unseren Augen von einem Sniper in den Kopf geschossen, als er einen Verletzten aus den Trümmern heraustragen wollte.“ Badwan hatte zusammen mit 50 anderen Helfern seit einer Woche unermüdlich Verwundete geborgen und die sterblichen Überreste von Menschen, die bei dem israelischen Luftangriff auf den Salam Tower in Gaza City umgekommen waren.

Unter den Opfern sind auch die Kilanis, eine palästinensisch-deutsche Familie, die aus Shajaiya geflohen war - in der Hoffnung, hier einen sichereren Platz zu finden. Aber Ibrahim Kilani, seine Frau Taghrid und ihre fünf Kinder starben in dem Angriff, der die obere Hälfte des Gebäudes zum Einstürzen brachte.

Keine Zeit zum Nachdenken

Auf die Frage, was der schlimmste Moment bei seinem Einsatz in den vergangenen Tagen gewesen sei, verschränkt Badwan seine Arme und antwortet nur: „Was - Sie wollen ausgerechnet jetzt über Gefühle sprechen?“ Die Rettungskräfte und Ärzte arbeiten 24-Stunden-Schichten, aber es gebe nicht genug Helfer, um auf alle Katastrophen zu reagieren, die durch die Bombardierungen verursacht werden - schon gar nicht hätten sie Zeit, um über die Tragödien nachzudenken, die sie mitansehen müssen, sagt Badwan.

Das Zivilverteidigungsteam habe noch bis Montagmitternacht im Salam Tower gearbeitet, trotz der Tatsache, dass das Gebäude mehr und mehr eingestürzt sei. Die Rettungskräfte im Erdgeschoss hätten Glück gehabt, dass sie noch zehn Leichen aus den Schutthaufen herausziehen konnten. Am Morgen dann gab es nur noch einen Toten. Eines seiner nackten Beine hing von einem Trümmerteil im sechsten Stockwerk herunter. Menschen versammelten sich, um den Bulldozern zuzuschauen, wie sie Sand auftürmten, um dann den kleinen Hügel heraufzufahren, von dem aus sie das Opfer erreichen konnten. In der letzten Nacht sei es sogar noch gelungen, 40 verletzte Menschen zu bergen.

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© Anne PaqDer israelische Militäreinsatz forderte bislang über 1000 Menschenleben
Die Kilanis gehören zu den vielen anderen Familien, die von den israelischen Bombardierungen komplett ausgelöscht wurden. Die Familie Abu Jame‘ verlor 25 Mitglieder. Mutter Fatmeh Abu Jame‘, ihre vier Söhne mit ihren Frauen (zwei von ihnen schwanger) und 19 Kinder wohnten in einem Haus, das von Ahmad Suliman Sahmoud, einem Mitglied des bewaffneten Arms der Hamas besucht worden sein soll, wie die israelische Menschenrechtsorganisation B’tselem berichtet.i Es war wahrscheinlich seine bloße Anwesenheit, die nach Ansicht des israelischen Militärs die Tötung von 25 unschuldigen Menschen rechtfertigte.

Ohne Vorwarnung

Die israelische Seite behauptet, sie würde die Bevölkerung in ihren Häusern vor den Bombardierungen warnen, aber laut B’tselem hat die Familie Abu-Jame` nichts dergleichen erhalten. Oftmals kommen diese Warnungen auch viel zu kurzfristig oder erst nach dem Angriff. Hassan Khader Baker im Al-Shati-Flüchtlingslager erhielt seine Warnung zu spät. Er bekam am Montagabend einen Anruf von der israelischen Armee, berichten seine Nachbarn. Das Militär hätte ihm nur drei Minuten gegeben, um sein zweigeschossiges Haus zu evakuieren. Hassan alarmierte zunächst alle, die in seiner Nähe wohnten: seinen Bruder, dessen kleines Haus ein sehr dünnes Dach hat und für den eine Explosion ebenso tödlich verlaufen wäre. Als die Nachbarn nach Hassans Warnung aus den anliegenden Gebäuden rannten, sahen sie, wie eine Rakete den Eingang von Bakers Haus traf und den Mann tötete.

Am Dienstagmorgen steht Atimad Muhammed Baker, die Mutter von zehn, nun obdachlosen Kindern auf den Ruinen ihres Hauses und starrt auf das Zerstörungswerk mit einem geistesabwesenden Ausdruck in ihren Augen: „Wie soll ich heute Abend nur ein Essen für meine Kinder kochen?“, sagt sie, immer noch unter Schock des Verlustes stehend und mit der Frage, warum ihre Familie immer wieder von der israelischen Armee angegriffen wird: „Wir haben niemanden im Widerstand, wir wollen nur, dass das alles aufhört.“

Hassan Khader Baker und vier seiner kleinen Cousins gehören zu den mehr als 1.000 Palästinensern, die bisher durch die israelische Militäroffensive umgekommen sind. Die Hälfte der Opfer seien ähnlich wie Hassan in ihren Häusern gestorben, so die Hilfsorganisation Al Mezan. Deren Einsatzkräfte haben bislang mehr als 470 komplett zerstörte und über 2.600 beschädigte Häuser gezählt.

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© Anne PaqViele Menschen fliehen aus ihren Häusern. Aber wohin?
Hussam Shamdi gehört zu den Betroffenen. Er sitzt auf einer Rakete, die für sein Haus bestimmt war und nicht detoniert ist. Innerhalb einer halben Stunde haben Explosionen das Zuhause von drei Familien - Shamdis Brüder, insgesamt 25 Personen - vernichtet. „Mein Herz ist tot. Ich fühle nichts mehr, ich habe keine Furcht mehr vor dem Tod. Wir haben das alles hier zu oft gesehen“, sagt Hussam, während er auf die Ruinen seines Hauses schaut. „Wir sind Zivilisten, die Mehrheit davon Kinder; wir haben nichts getan. Niemand von uns arbeitet für die Regierung“, fügt er hinzu, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, warum er zur Zielscheibe der Israelis geworden ist. Seine Familie hat auch eine Warnung erhalten: Ein „Anklopfen auf dem Dach“, wie es heißt, eine kleine Rakete, die von einer Drohne abgeworfen wurde, vom gleichen Typ wie die, die Hassan tötete - sie verletzte diesmal drei Kinder. Shamdi rannte die Straße hinunter zu seinem Onkel und musste von dort aus zuhören, wie systematisch eines ihrer Häuser nach dem anderen zerbombt wurde.

Vom Meer und von der Wasserversorgung abgeschnitten

Gaza, ein schmaler Streifen Land, der am dichtesten besiedelte Ort auf der Erde, wird seit sieben Jahren mit der Unterstützung Ägyptens von Israel belagert und ist größtenteils völlig isoliert von dem Rest der Welt. Für fast alle Menschen gibt es keinen Weg, der aus Gaza hinausführt. Sogar das Meer vermittelt nur die Illusion von Freiheit: Die palästinensischen Fischer dürfen eine von Israel eingerichtete Drei-Meilen-Zone nicht verlassen; die großen Fischgründe liegen aber sieben Meilen entfernt. Seit Beginn der israelischen Militäroffensive können die Fischer gar nicht mehr ins Wasser. Viele ihrer Boote wurden vernichtet, und sogar der Strand, der Lieblingsplatz der Menschen von Gaza, wo sie ab und zu mal durchatmen und wenigstens einmal mit ihren Familien ein Picknick machen können, ist zur No-Go-Zone geworden. Jüngst hat ein israelisches Marineschiff eine Gruppe von Jungen als Zielscheibe benutzt, Verwandte von Hassan Khader Baker. Das erste Geschoss tötete eines der Kinder, das zweite weitere drei von ihnen - unter Beobachtung von Journalisten, die in der Nähe in einem Hotel untergebracht waren.

Seit die israelische Operation begonnen hat, gehen die Schäden weit über zerstörte Häuser oder ganze Stadtviertel hinaus (nach Shajaiya wurde vergangenen Dienstagnacht auch ein Nachbardorf im Süden, Khuza‘a, mit ähnlicher Wucht getroffen). Die Angriffe auf die Wasser- und Energie-Infrastruktur haben eine derart massive Zerstörung hervorgerufen, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung Gazas von der Wasserversorgung abgeschnitten ist. Geschätzte 90 Prozent haben keinen Strom mehr. „Die Israelis haben viele für die Wasserversorgung nötige Einrichtungen ins Visier genommen. Aber das Ausmaß des Schadens können wir nicht ermessen, denn unsere Ingenieure können zu diesen Orten nicht vordringen“, erklärt Munder Shublaq, Direktor des Wasserwerks von Gaza.

Shublaq zählt Wasserleitungen und -quellen, Abwasser-Pumpstationen und -Kläranlagen als Teile der vernichteten Infrastruktur auf. Viele Bewohner berichten von zerstörten Wassercontainern, die sie auf den Dächern ihrer Häuser platziert haben. Es soll offenbar verhindert werden, dass die Bevölkerung Wasser auffangen und bunkern kann - ein harter Schlag in dieser Enklave, die schon unter Wasserarmut litt, bevor die aktuelle Militäroffensive der Israelis begonnen hat. 90 Prozent der Palästinenser auf dem Gaza-Streifen haben Probleme, weil ständig Salzwasser aus den Hähnen kommt; andere haben gar kein Wasser. An Orten wie dem Al-Shati-Flüchtlingscamp, wo Hassan Baker Khader gelebt hat, gab es nur vier Stunden pro Tag fließendes Wasser, und nur wenn das Stromnetz nicht unterbrochen war, konnten die Menschen Wasser in die Tanks auf den Dächern ihrer Häuser pumpen, um es für ein paar Tage zu lagern.

Schulen und Krankenhäuser als Zielscheibe

Shajaiya ist schon seit der zweiten Woche nach Beginn der israelischen Invasion von der Wasser- und Stromversorgung abgeschnitten. Alle, die sich entschieden haben, trotz des heftigen Beschusses und anderer Schwierigkeiten, dort zu bleiben, kennen keinen Ort, an den sie gehen konnten. „Wir waren die ganzen Nächte in Angst und Schrecken und konnten nicht schlafen, weil Panzergeschosse in die Häuser in der Nachbarschaft einschlugen. Am Morgen sind wir dann geflohen”, sagt ein Mitglied der Familie Al-Nazli gegenüber Hintergrund, während sie sich die anderen schon auf den Weg machen. Sie gehen zu Verwandten in Gaza City, wo inzwischen fast alle Bewohner obdachlos gewordene Angehörige beherbergen. Die Schulen der United Nations Relief and Works Agency (UNRWA), die bislang Schutz boten, sind schon hoffnungslos überfüllt. Laut UNRWA-Sprecher Chris Gunness sind mittlerweile mehr als 140.000 Menschen in 83 Schulen untergebracht. Am vergangenen Dienstag beschoss ein israelischer Panzer in Bet Hanoun eine davon. 15 Menschen kamen dabei ums Leben, Dutzende wurden verletzt. Die Schulen sind auch keine sichere Zufluchtsmöglichkeit mehr.

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© Anne PaqHussan Shamdi sitzt auf einer nicht detonierten Rakete
Einige aus den angegriffenen Stadtteilen flüchteten in das Hauptkrankenhaus von Gaza Shifa. Sie campierten an der Rückseite des Gebäudes, in der Hoffnung, dass die Israelis wenigstens dieses Hospital nicht zum Ziel ihrer Bombardierungen machen würden. Während Shifa im Großen und Ganzen noch unbeschädigt ist, wurden bereits drei Krankenhäuser zerstört: Zuerst Al-Wafa letzten Montag, das einzige Rehabilitationszentrum in Gaza, dann das Al-Aqsa-Hospital und am Dienstag, das Krankenhaus in Gaza City.

Im Shifa-Hospital versammeln sich Dutzende von Menschen, um nach ihren Angehörigen zu fragen. Verzweifelte Familienmitglieder bitten das Personal um Hilfe bei ihrer Suche nach vermissten Verwandten. Eine Frau, die ihren Sohn verloren hat, zerrt am Ärmel von Doktor Nasser at-Tattar, dem Generaldirektor der Klink. Er arbeitet jeden Tag 20 Stunden, seit die israelische Offensive gestartet ist. Das Hospital hat keine freien Betten mehr, die Medikamente sind fast aufgebraucht. Als er vergangene Woche eine Stunde frei nahm, um am Ramadan-Fastenbrechen seiner Familie teilzunehmen, kam einer seiner Nachbarn angerannt und übermittelte ihm die Warnung, dass at-Tattars Haus jede Minute bombardiert werde. „Ich betete, stürzte mit meiner Familie nach draußen und musste zusehen, wie mein Haus vernichtet wurde”, sagt er während er auf den Überresten des Gebäudes steht, das einst sein Zuhause war.

Ethnische Säuberung

Trotz all der Zerstörung und Tragödie, die über Gaza gekommen ist, verhalten sich die Bewohner liebenswürdig, gastfreundlich und respektvoll gegenüber Fremden. „Das palästinensische Volk ist kein Fall für die Wohlfahrt. Was wir brauchen, ist praktische Solidarität und Verständnis dafür, was wir durchmachen“, betont Doktor Muna el-Farra, Vorsitzender des Roten Halbmondes in Gaza gegenüber Hintergrund. „Wir haben unveräußerliche Rechte und aus diesem Grund werden wir keiner Waffenpause zustimmen, die unseren Bedingungen nicht entgegen kommt.”

Die Hamas hat erklärt, ein zehnjähriger Waffenstillstand sei an die Erfüllung von drei Forderungen geknüpft: Ende der israelischen Belagerung Gazas, Ende der israelischen Aggression und die Entlassung ihrer Gefangenen. Viele Menschen in Gaza meinen, dass sich die derzeitige Eskalation unentwegt wiederholen wird, solange der Status von Gaza nicht grundlegend geändert werde. „Ich möchte, dass das nie wieder passiert. Das ist ein Kriegsverbrechen”, fügt el-Farra hinzu. "Israel erzählt der internationalen Gemeinschaft Geschichten, und die kauft sie ab. Aber was hier gerade wirklich geschieht, ist die Fortsetzung der ethnischen Säuberung Palästinas, die 1948 begonnen hat."