1945 - das war eine Zeitenwende. Das Ende des grossen Mordens. Der Beginn der Fragen. Wie konnten ganz normale Menschen das tun?

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© ZDF/Stefan Ruzowitzky« ... machten uns keine Gedanken darüber, warum die Juden erschossen wurden. »
In diesem Jahr, 2015, wird, siebzig Jahre danach, wieder einmal und zu Recht, das Ende des Zweiten Weltkrieges gefeiert. Und der Opfer des Holocaust gedacht. Dabei denken wir vor allem an Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Sachsenhausen, Buchenwald und all die anderen Vernichtungs- beziehungsweise Konzentrationslager. An die industriell organisierte Tötung und «Entsorgung» von Millionen von Menschen.

Das «Un-Menschliche» ist das Menschenmögliche

Weniger im Blickfeld der Erinnerung sind die zwei Millionen ZivilistInnen, grösstenteils Jüdinnen und Juden, die im Rahmen des Russlandfeldzuges von deutschen Einsatzgruppen sowie Polizeibataillonen systematisch ermordet wurden. «Öffentlich, zum Teil vor Zuschauern, mit Gewehren und Pistolen, von Angesicht zu Angesicht» (Aus dem Begleitheft für Schulen zum Film Das radikal Böse des österreichischen Oscar-Gewinners Stefan Ruzowitzky).

Die Konstruktion des «Un-Menschen» war schon bei den SS-Truppen - welche für die Umsetzung der «Endlösung der Judenfrage» in den Tötungsfabriken zuständig waren - nicht wirklich durchzuhalten. «Es gibt Ungeheuer», schrieb der italienische Schriftsteller, Chemiker und Auschwitz-Überlebende Primo Levi, «aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlich ist, das sind die normalen Menschen.»


Kommentar: Es ist verständlich, warum Herr Levi so denkt. Doch geht das an der Realität vorbei. Es waren nicht normale Menschen, die so gehandelt haben. Selbst wenn die Ungeheuer, sprich Psychopathen, zahlenmäßig geringer in der Weltbevölkerung vertreten sind als normale Menschen, richten sie dennoch extremen Schaden an und sind sehr gefährlich - wie man an dem heutigen Zustand der Welt sehen kann, an deren Spitze Psychopathen regieren und die es geschafft haben, alle Bereiche des öffentlichen Lebens zu "infiltrieren". Ihre nichtsahnenden Handlanger unter der Bevölkerung sind die autoritären Gefolgsleute, die etwa die Hälfte jeder Bevölkerung ausmachen und die jeder Autorität folgen ohne Fragen zu stellen. (Somit würden diese auch fähigen Regierenden folgen, wenn es solcherart nur genug gäbe.) Mit ihnen haben psychopathische Herrscher also ihr willfähriges Fußvolk.

Bei den Exekutionen auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und Weissrusslands, dem sogenannt «vergessenen Holocaust», zeigte sich definitiv, dass Massenmörder Menschen sind «wie du und ich, die Dinge tun, von denen sie glauben, sie seien notwendig für das allgemeine Wohl». So formuliert es Benjamin Ferencz, der Chefankläger des Prozesses gegen die so genannten Einsatzgruppen, in Das radikal Böse. Menschen, die «niemals ihre Nachbarn bestehlen oder alte Damen auf der Strasse niederschlagen» würden, hält der Historiker Christopher Browning vor Ruzowitzkys Kamera fest, «können ohne weiteres hunderte Menschen erschiessen, die zur Zielgruppe gehören.» Das «Un-Menschliche» war und ist das Menschenmögliche.


Kommentar: Hier werden wieder Konzepte vermischt, vielleicht sogar bewusst, um davon abzulenken, wie solche Gräueltaten unter der Regie von Psychopathen wirklich funktionieren. Der normale, geistig gesunde Mensch begeht solche Taten nicht. Es handelt sich dabei um Psychopathen und andere charaktergestörte Fälle, sowie um die oben erwähnten autoritären Mitläufer. Wenn solche Unterscheidungen nicht getroffen werden, erzieht man die Leute praktisch dazu zu glauben, dass "wir alle potentielle Massenmörder sind" - es gibt wohl kaum eine bessere Taktik, um sich als Psychopath durch die Erschaffung solcher Denkkonstrukte einerseits erfolgreich zu tarnen und andererseits diese abstruse Vorstellung im Denken der Menschen zu etwas Normalem zu machen.


Dokumentation eines Massenmords ohne Action, Knallerei und Blut

Das im Kontext nationalsozialistischer Ideologie und Organisation zur Gewohnheit gewordene Morden wird im Film Das radikal Böse (am 1. Mai vom ZDF zu später Stunde ausgestrahlt und noch kurze Zeit in der ZDF-Mediathek abrufbar) auf beklemmende Weise dokumentiert. Ohne Action, Knallerei und Blut. «Mit Hilfe von Originaldokumenten wie Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und Gerichtsprotokollen legt er [Stefan Ruzowitzky, Jm] Gedanken und Gefühle der Täter offen.» Gelesen von Schauspielern. Analysiert von Experten. Mit Laien gestellte Szenen, stilisierte Darstellungen von sozialpsychologischen Experimenten und vereinzelte Gespräche mit Zeitzeugen machen diesen Essayfilm zum einen zum historischen Dokument, zum anderen zur Ermahnung, dass der Schoss noch fruchtbar ist, «aus dem das kroch» (Bertolt Brecht).

Die von professionellen Sprechern «auf unheimlich alltägliche Art» wiedergegebenen, «teilweise unendlich grausamen, menschenverachtenden Aussagen aus Briefen und Tagebüchern» belegen: Die Täter wussten, was sie taten. Und sie erzählten es ihren Angehörigen «hinter der Front». «Ich habe mich bemüht, nur Kinder zu erschiessen. Das ging so vor sich, dass sie die Mütter bei sich an der Hand führten, mein Nachbar erschoss dann die Mutter und ich das dazugehörige Kind, weil ich mir aus bestimmten Gründen sagte, dass das Kind ohne seine Mutter doch nicht mehr leben konnte.» Schreibt einer von ihnen. «Gerade die Briefe, in denen erst liebevoll die eigenen Kinder gegrüsst werden, bevor detailliert auf die Exekutionen eingegangen wird, vermitteln sehr direkt, wie alltäglich das Morden für sie gewesen sein muss» (aus Filmheft). Niemand hätte behaupten können, er oder sie habe von nichts gewusst.

Prinzip Gehorsam und Männlichkeitskonzept: Eine mörderische Mischung

Das radikal Böse erinnert an das, was gerne verdrängt wird - dass die «ganz normalen Männer» (Titel eines Buches von Christopher R. Browning über das Reserve-Polizeibataillon 101) nicht aus Angst um ihr eigenes Leben taten, was ihnen befohlen. Verschiedene Soldaten berichten darüber, dass sie selbst oder einzelne ihrer Kameraden sich geweigert hätten, an Erschiessungen teilzunehmen, ohne «mit irgendwelchen Strafmassnahmen bedroht» zu werden, «schon gar nicht mit Erschiessung».

Obwohl es die Möglichkeit der Befehlsverweigerung gab - «Man wird dann schnell versetzt, um die Tötungsmaschinerie nicht zu stören», erklärt der Psychiater Robert Jay Lifton - , haben die wenigsten von ihr Gebrauch gemacht. «Ich hatte Bedenken, dass es mir in Zukunft schaden könnte, wenn ich mich als zu weich hinstellen würde... Ich wollte nicht, dass andere den Eindruck hatten, ich sei nicht so hart wie man hätte sein müssen... Ein Führer, der gesagt hätte, er sei für diese Dinge zu weich, dem wäre doch jede Führungsqualität abgesprochen worden.» Die meisten haben im damaligen (ideologischen) Kontext gar nicht daran gedacht, «dass diese Befehle Unrecht sein könnten». Sie haben sie befolgt, «weil sie von der obersten Staatsführung kamen, und nicht etwa weil ich Angst hatte».


Kommentar: Bob Altemeyer beschreibt solch eine Einstellung als "autoritäre Mitläufer". Das Cambridge Wörterbuch der Psychologie beschreibt "autoritäre Persönlichkeiten" bzw. "autoritäre Mitläufer" folgendermaßen:
Autoritäre Mitläufer haben eine psychologische Charakteristik, die als rechtsgerichteter Autoritarismus ("right-wing authoritarianism") bekannt ist. Dieses Persönlichkeitsmerkmal besteht aus der autoritären Unterwerfung, einem hohen Maß der Unterwerfung gegenüber den etablierten Autoritäten in der Gesellschaft; autoritärer Aggression, Aggression, die gegen viele verschiedene Personen im Namen dieser Autoritäten gerichtet wird; und Konventionalismus, einer starken Anhänglichkeit gegenüber den gesellschaftlichen Konventionen, die durch diese Autoritäten unterstützt werden.

Rechtsgerichteter Autoritarismus ("rechts" kommt von "rechtmäßig") wird mit Hilfe der sogenannten RWA-Skala gemessen.
Das Wörterbuch sagt uns, dass:
... Personen, die auf der RWA-Skala hohe Punktzahlen erreichen, unterwerfen sich ziemlich bereitwillig den etablierten Autoritäten in ihrem Leben und vertrauen ihnen viel mehr als dies die meisten Menschen tun.
Bob Altemeyer, einer der Verfechter in der Erforschung der Psychologie dieser autoritären Persönlichkeiten, hat festgestellt, dass sie durch ein bestimmtes kognitives Verhalten charakterisiert sind:
Im Vergleich zu Anderen haben autoritäre Persönlichkeiten nicht viel Zeit damit verbracht, Beweise zu untersuchen, kritisch nachzudenken, eigenständige Schlussfolgerungen zu ziehen und herauszufinden, ob ihre Schlussfolgerungen sich mit anderen Dingen decken, an die sie glauben. (...) Sie haben eine Liste von 'falschen Lehren' und verworfenen Ideologien in ihren Köpfen. Aber sie haben normalerweise gelernt, welche Ideen böse und welche gut sind - von den Autoritäten in ihrem Leben. Hohe [RWAs] sind nicht dafür vorbereitet kritisch zu denken.
Laura Knight-Jadczyk schreibt über diese Art der Persönlichkeitstypen:
Das Problem der autoritären Mitläufern, die im Grunde oftmals eigentlich anständige Leute sind, führt uns zum Thema des widersprüchlichen Denkens (Doppeldenk). George Orwell prägte das Wort Doppeldenk, was so viel bedeutet wie widersprüchliches Denken, in seinem Buch 1984.³ Im Roman ist der Ursprung des Doppeldenk im typischen Bürger nicht klar, jedoch kommt die Arbeit von Altemeyer der Lösung dieser Frage ziemlich nahe; Orwell zeigt uns ausführlich, wie Menschen das Doppeldenk und den Neusprech lernen; auf Grund von Gruppenzwang und dem Bedürfnis "dazu zu gehören" oder um Status innerhalb der Partei zu erlangen und als loyales Parteimitglied angesehen zu werden.
"Doppeldenk beschreibt den Akt von gewöhnlichen Menschen, in ihrem Denken zwei widersprüchliche Überzeugungen aufrechtzuerhalten und beide als korrekt zu akzeptieren, oft in verschieden sozialen Kontexten. Dieses Paradoxon wird im Roman am prägnantesten durch die drei Partei-Slogans ausgedrückt: "Krieg ist Frieden, "Freiheit ist Sklaverei", und "Unwissenheit ist Stärke". Der Bergriff wir häufig angewendet um die Fähigkeit zu beschreiben, in einer Situation einem Gedankengang zu folgen (bei der Arbeit, in bestimmten Gruppen, im Geschäftsleben) und in einer anderen Situation einem anderen Gedankengang (zu Hause, in einer anderen Gruppe, im privaten Leben), ohne zwangsläufig den Widerspruch zwischen diesen beiden Gedankengängen feststellen zu können."

In diesen Aussagen wird sichtbar, dass es vor allem das Prinzip Gehorsam und das Männlichkeitskonzept (in den Augen der anderen nicht als «Schlappschwanz» erscheinen wollen) sind, die aus ganz gewöhnlichen Männern (und in entsprechenden sozialen Verhältnissen auch aus Frauen) zuverlässige Massenmörder machen.

Der Film weist mit der Dokumentation sozialpsychologischer Experimente beziehungsweise realer gesellschaftlicher Ereignisse über das Vergangene hinaus und macht deutlich, «dass das ‹Böse› bis heute direkt unter der Oberfläche der Zivilisation lauert und keineswegs ein historisches Phänomen darstellt» (Filmheft). Besonders beklemmend das bekannte Milgram-Experiment, in dem bis zu 65% der Testpersonen einen Schüler wegen falscher Antworten mit «maximal starken Stromstössen» bestrafen, «von denen sie wissen, dass sie tödlich sein könnten». Und dies ohne jede Androhung von Sanktionen, sondern nur aufgrund von mehr oder weniger bestimmt erteilten Anweisungen.

«Ich möchte nicht in 50 Jahren einen Film über Darfur sehen, weil sich jetzt niemand bewegt»

Ist die vom Militärpsychologen Dave Grossman im Film formulierte Erkenntnis, «dass wir Soldaten heranziehen müssen, die nicht nur Befehlsempfänger sind» in den Armeen Europas, dieser Welt umgesetzt worden? Ist die Erziehung zum Ungehorsam in unseren Schulen und Elternhäusern zur Normalität geworden? Und dürfen wir ernsthaft hoffen, dass Menschen - die in freiheitlich-demokratischen Verhältnissen aus Angst vor ökonomischen Nachteilen oder sozialer Ausgrenzung abweichende Meinungen für sich behalten und gegenüber Ungerechtigkeiten beziehungsweise Menschenverachtung schweigen - in Unrechtsstaaten laut & öffentlich Widerspruch formulieren würden? Dass sie, dass wir eingreifen würden, wenn vor unseren Augen Menschen aus ihren Wohnungen gezerrt, niedergeknüppelt oder ermordet würden?

Der Film erspart uns auch die Erinnerung an den Fall Kitty Genovese in New York nicht: «Im Jahr 1964 wurde die junge Frau im Hof eines Wohnblocks überfallen und vergewaltigt. Der Täter verliess den Tatort, kehrte aber nach 20 Minuten zurück, misshandelte sein Opfer erneut und tötete es. Erwiesenermassen haben 38 Bewohner der umstehenden Häuser den Vorgang wahrgenommen, doch niemand half der jungen Frau. Das Fazit der Sozialpsychologie war, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Aussenstehender eingreift, sinkt, je mehr ‹Bystander› einen Vorgang beobachten» (aus Filmheft).

Was geschieht heute vor versammelter Welt-Medien-Öffentlichkeit, ohne dass eine oder einer von uns aufschreit, von seinem oder ihrem Sessel aufsteht und versucht, das Unerträgliche zu stoppen? «Theoretische Erörterungen reichen nicht, auch wenn sie notwendig sind. Es braucht das persönliche Engagement jedes Einzelnen, gegen zerstörerische Entwicklungen aufzutreten», mahnt Robert Jay Lifton. Und der katholische Priester sowie Genozidforscher Patrick Desbois sagt in dem 2013 produzierten dokumentarischen Filmessay Das radikal Böse mit Blick auf Gegenwarten: «Ich möchte nicht in 50 Jahren einen Film über Darfur sehen, weil sich jetzt niemand bewegt.»